Der Samstag hat eigentlich nichts mehr mit dem Festival zu tun. Ich hatte meinen Koffer schon vor der gestrigen Gala so weit wie möglich gepackt, weil die Volunteers mich mehrfach dazu verpflichtet hatten, dass wir nochmal so feiern gehen würden wie am Mittwoch. Daher war mir klar, dass ich nicht viel Schlaf bekommen würde.
Nach der Gala jedoch waren von den Volunteers, die mir eigentlich Bescheid geben wollten, nur noch zwei vor Ort gewesen, die anderen angeblich schon in Den Smagløse vorgegangen. Also hatte ich meine Abschiedsrunde begonnen, meine letzten Karten in treue Hände gegeben, Nummer und Mailadresse auf Zettel geschrieben, wann immer jemand das wünschte. Schließlich wollte mich einer der jungen Männer vom Festival mit zur Kneipe nehmen. Er hatte zwischenzeitlich noch zwei junge Schwedinnen zum Mitgehen eingeladen, die als Regie-Duo einen Film im Festival gehabt hatten, der jedoch leer ausgegangen war. Zu viert waren wir dann schwatzend und witzelnd durch die kalte, dunkle Stadt marschiert, die zum Wochenende jedoch plötzlich ein völlig anderes Bild bot: Anstatt leergefegt und starr durch die Nacht zu gleiten, pulsierten die Straßen und Gassen mit Nachtleben. Trauben von Menschen bewegten sich von Kneipen in andere Kneipen (der sprichwörtliche Pub Crawl) oder tranken ihr Øl gleich auf der Straße. Es wurde Gitarre gespielt, geknutscht oder auch einfach nur Fangsti unter Angetrunkenen gespielt. Alles friedlich, alles sympathisch, es war nur leider einen Tick zu kalt im Freien für meinen Geschmack.
Der junge Volunteer hatte erklärt, dass Den Smagløse nun schon zu hätte, und wir uns nun direkt zum Boogie’s begeben würden, woraufhin die eine Schwedin erklärte, dass sie nun doch lieber ins Hotel gehen würde, denn es sei schon fast drei. Ich hatte beschlossen, doch noch auf maximal ein Bier mitzugehen, aber keinesfalls mehr (mit diesem Vorsatz fangen manch großartige Nächte an). Vor dem Club waren nun zwei Türsteher gestanden, und es hätte auch noch 40DKK Eintritt gekostet, was mir zuviel gewesen war. Auch hätte ich dann noch nach Rauch gestunken, da ich keine andere saubere Hose mehr übrig hatte. Also waren der Begleiter und die verbleibende Schwedin eben zu zweit in den Club gegangen, mit der Auflage, die anderen kurz rauszuschicken, damit ich mich verabschieden könne.
Während die beiden sich also in den Club vorarbeiteten, hatte ich vor der Tür gestanden und gewartet. Dort stand noch ein völlig betrunkener Däne, der plötzlich das Gespräch mit mir suchte, dabei aber so langsam war, dass ich das, was er mir sagen wollte, schon minutenlang im Voraus wusste, bevor er endlich zum Punkt kam. Ein sehr seltsames Gespräch, und für mich eher langweilig, obwohl der arme Däne natürlich nichts dafür konnte, dass meine Denkmaschine nicht so eingebremst war wie seine. (Ich hab halt über 20 Jahre Wiesn-Training – oder er hatte einfach dermaßen viel getrunken, dass er eigentlich nicht mehr hätte stehen können dürfen…)
Schließlich war der Volunteer wieder rausgekommen und hatte mir mitgeteilt, dass keiner der anderen da sei, er wüßte auch nicht, wo die alle hin seien. Ich hatte ihn daraufhin gebeten, entsprechend herzliche Grüße von mir an alle auszurichten, es war eine tolle Zeit und so weiter, und mich von ihm in Vertretung für alle verabschiedet. Ich würde ihn (und die anderen) aller Wahrscheinlichkeit nie wiedersehen, daher war das ein sehr emotionaler Moment für uns beide.
Am nächsten Morgen traf ich ihn dann doch wieder, und zwar beim Frühstück im Hotel, nebst peinlich berührter Schwedin. Uns allen fehlten irgendwie die Worte, also machte ich es kurz und verabschiedete mich einfach nochmal.
Mit dem Zug ging es nach Kopenhagen (Direktverbindung zum Flughafen, ein wesentlich coolerer Anschluss als die schreckliche Münchner S-Bahn, das wäre nur vom Transrapid zu toppen gewesen), doch ab hier ging mein Tag erstmal abwärts.
Am Flughafen quetschte mich der Einchek-Computer auf einen beliebigen Sitzplatz, ich gab das Gepäck auf (wobei sich zweimal Leute vor mich drängelten, eines der Pärchen besaß die Frechheit, sich dann auch noch mit „es geht auch ganz schnell, versprochen“ zu entschuldigen), und ich ging zum Security Check, um noch gemütlich eine Kleinigkeit zu essen und einen Cappuccino zu schlürfen (circa 5 Euro pro Tasse ist in Dänemark normal, nicht nur am Flughafen), doch dann begegnete ich dem Leibhaftigen. Ich bin nun ein anderer Mensch.
Es fing ganz unschuldig an, wie immer eigentlich. Der Security Check befindet sich in einer langen Halle, mindestens so groß wie die Dreifach-Turnhalle einer Schule. Durch die Mitte der Halle, entlang der Länge, ist eine Trennung gezogen, bestehend aus einzelnen Garagentoren. Es befinden sich ungefähr 16 solcher Garagentore nebeneinander in der Halle. Jedes der Tore kann geöffnet oder geschlossen werden, jedes der Tore ist ein Security Checkpoint.
Man betritt die Halle an einem Ende und wird entlang eines Absperrbandes zur Hallenmitte geführt. Dort entscheidet man sich, ob man nach links oder nach rechts anstehen möchte, also sozusagen für die Tore 1-8 oder 9-16.
Ich entschied mich für links, wo die Tore 1, 2, 3 und 5 geöffnet waren. Mit einem Blick sah ich, dass die Schlange für Tor Nummer 5 (also die Schlange ganz rechts), die kürzeste war. Also wählte ich diese Schlange und stellte mich an.
Leider waren die Schlangen nicht voneinander durch Absperrbänder getrennt. Da die meisten anderen Reisenden nach wenigen Minuten auch realisierten, dass die Spuren kürzer wurden, je weiter rechts sie lagen, drängelten sie sich bald ao unauffällig wie möglich nach rechts. Wer schlau war, blieb ganz links, also in der längsten Schlange, und war nach 20 Minuten durch die Kontrolle. Wer ich war, schlug sich rund anderthalb Stunden mit Unzahlen von drängelnden Touristen herum, die ständig von hinten links an einem vorbeischulterten – all dies vollzog sich in extremer Zeitlupe – und dabei sämtliche Register der Unschuld zogen. Kinder wurden als Rammböcke benutzt, um sie wie einen Keil zwischen die rechtmäßigen Mitglieder der rechten, kurzen Schlange zu treiben. Chinesische Omas, die sich sonst mit solchen Menschenmengen in hundertfach größerer Proportion herumschlagen mussten, blickten unverwandt in die Gegend und arbeiteten sich so in stoischer Gelassenheit von einer Position zehn Meter links hinter mir und zwei Schlangen weiter bis zu ihrer neuen Position fünf Meter vor mir in meiner eigenen Schlange vor. Immer wieder zog mitten in der Menge einer ostentativ seinen Boarding Pass und bedeutete den mit ihm Wartenden, wie nett das Warten doch mit all ihnen gewesen wäre, er müsse jetzt aber leider gehen, seine Boarding Time sei gekommen und daher müsse man ihn nun wohl oder übel vorlassen, und begann, sich nach vorne zu pumpen.
Hätte man eine Kamera unter der Hallendecke befestigt und zwei Stunden Film auf eine Minute zusammengerafft, hätte man garantiert auf einen Blick erkannt, dass rund 70% der Anstehenden sich letztlich um den nächstliegenden Checkpoint (Nr. 5) drängeln, während die restlichen Fluggäste sich die drei anderen Checkpoints teilen und uns dabei alle überholten. Leider war ich während des Anstehens selbst nicht sicher, ob das auch wirklich stimmte, und traute mich nicht, aus der Schlange (mittlerweile eine Menschentraube, stets frisch gefüttert mit neuen Zugladungen Reisender) auszuscheren und mich einfach neu in der linken Schlange anzustellen.
Ich war ziemlich geladen und stinksauer. Nicht nur wegen meines Schlafmangels, der Aussicht auf einen Sitzplatz ohne Beinfreiheit und der drängelnden Dänen beim Koffer-Aufgeben, sondern auch wegen der unglaublich beschämenden Organisation dieses Security Checks. Ich wollte schreien, bald Drängler aus dem Weg schubsen, chinesische Omas, die nur halb so groß wie ich waren, in Grund und Boden brüllen, diesen ganzen falschen Fuffzigern, die mit billigen Tricks versuchten, sich vorzudrängeln, die Meinung geigen. Die ganze Woche war so perfekt gewesen, und jetzt musste alles auseinanderfallen! Doch ich beherrschte mich, ich bin ja gut erzogen.
Schließlich bemerkte ich, wie sich von weiter hinten aus der Schlange ein Mann löste und von der falschen Seite aus zum Förderband trat, auf das man seine Sachen legen musste. Er fragte einen der Security-Leute etwas, dieser bedeutete ihm dann, doch schnell zu ihm herumzukommen. Ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt bereits zum Ende des Förderbandes vorgearbeitet, wo ich nur noch rund 20 Leute vor mir hatte, die sich in einer Traube um die Stelle drängelten, wo die Körbe für Jacken und Taschen aus einem Schacht kamen. Alle Galanz war vergessen, hier ging es um Korb oder Leben. Von hinten kämpfte sich der Mann vor, seine Frau im Schlepptau, und drängelte sich völlig schamlos an den Leuten vorbei. Als er zu mir kam, bat er mich, ihn durchzulassen, er hätte gleich Boarding Time. Und da ich so geladen war wie selten, sagte ich „No way, forget it“.
Er meinte wohl, dass ich ihn falsch verstanden hätte und wiederholte seine Anfrage, aber mir war alles egal, ich hätte mich auch auf ein Duell eingelassen. Ich erklärte, dass ich ebenfalls schon ewig warte, dass Hinz und Kunz schon seit Stunden aus anderen Schlangen herüberdrängeln (hierbei deutete ich auch gleich schamlos auf Leute, die sich vorgedrängt hatten, und die das Wortgefecht beobachteten, inklusive der chinesischen Omas) und dass er von mir aus seinen Flug gerne verpassen könne, denn meinen werde ich wegen ihm sicher nicht auch noch freiwillig verpassen. Er wurde ungehalten und fuchtelte mit seinem Boarding Pass, auf dem die Boarding Time von 14:15 Uhr stand (es war mittlerweile 14 Uhr). Ich konterte, dass ich ebenfalls um exakt 14:15 meine Boarding Time hätte und daher aber auch wirklich nicht einen Grund sehe, ihn vorzulassen. Der Mann hatte keine Argumente mehr und sagte dann, na gut, dann werde er eben hinter mir warten. Ich bat ihn, das doch bitte mit dem Herrn auszumachen, der selbst bereits seit anderthalb Stunden hinter mir wartet, der wird sich sicher auch sehr freuen. Dann drehte ich mich wieder um und blickte kein einziges Mal mehr nach hinten, inständiglich hoffend, dass weder er noch seine Frau im selben Flieger, womöglich noch neben mir, sitzen würden.
Für mich war das etwas ganz besonderes, denn ich weiß nicht, ob ich je zuvor zu jemandem Nein gesagt hätte, ohne einen triftigen Grund außer meiner Unlust dafür zu haben. Normalerweise hätte ich ihn vorgelassen, allein schon, weil er gefragt hatte. Aber nach diesen 90 Minuten in einer Schlange von etwa 20 Metern Länge konnte der Mann im Grunde froh sein, dass ich ihn nicht niedergestreckt habe.
Natürlich hatte ich keine Zeit mehr, etwas zu Essen zu kaufen oder gar einen Kaffee, doch das hoffte ich an Bord zu bekommen, wie auf dem Hinflug auch. Leider war der Rückflug nur mit kostenpflichtiger Verpflegung, und 6 Euro wollte ich nicht für ein lasches Ciabattabrötchen mit einem bleichen Rad Kochschinken hinlegen. Der Kaffee dahingegen kostete nur 3 Euro, schmeckte dafür aber so bitter, dass es einem die Zehennägel aufstellte. Ich konnte mich keinen Millimeter bewegen, auch im Stehen kaum, so klein war das Flugzeug – siehe Foto.
Wieder in München, resümierte ich: Anreise und Filmfest so gut wie perfekt, Rückreise hat noch Kapazitäten in puncto positiver Erfahrungen frei. Dennoch würde ich sowas sofort wieder machen. Dieser Tage werde ich noch ein paar private Betrachtungen zu Dänemark bloggen.
Der Samstag hat eigentlich nichts mehr mit dem Festival zu tun. Ich hatte meinen Koffer schon vor der gestrigen Gala so weit wie möglich gepackt, weil die Volunteers mich mehrfach...