Meine Top 5 des (bisherigen) Kinojahres

Ich wurde gebeten, meine Top 5 des Kinojahres 2010 zu benennen. Ganz schamlos nehme ich die Herausforderung an und stelle Euch meine persönlichen Top 5 vor, durchsetzt mit dem ein oder anderen Weihnachtstipp:

Mein persönlicher Favorit in Sachen „Filme, bei denen es einem eiskalt den Rücken hinunter läuft“, ist The Ghostwriter von Roman Polanski. Das neblige Setting auf Martha’s Vineyard (gedreht auf Sylt, Rømø und in Peenemünde) trägt stark zur Gesamtstimmung des bedrückenden Werkes bei. Die Geschichte des Ghostwriters, der die Memoiren des britischen Premierministers (zwischen den Zeilen deutlich erkennbar: Tony Blair) formulieren soll und dabei auf gewaltige Ungereimtheiten stößt, stammt aus der Feder von Robert Harris, der mit seinen Romanen in allen Epochen zu fesseln weiß. Als Geschenktipp für Weihnachten sei an dieser Stelle daher Pompeji (dt./engl.) angepriesen, aber auch Imperium, Teil Eins der Trilogie über einen geissen Marcus Tullius Cicero (dt./engl.). Meine Alternative in dieser Kategorie war übrigens Inception, der optisch weit mehr hergab, dafür aber weit weniger interessant war, wenn man’s recht bedenkt.

Unter den animierten Spielfilmen habe ich mich für Drachenzähmen leicht gemacht entschieden, und zwar aus mehreren Gründen: Mir gefiel die comichafte Überzeichnung der Wikingersiedlung im hohen Norden, die Geschichte selbst war schön rund und regte das Kind in einem an, aber viel wichtiger: Ich hatte vor vielen Jahren ein sehr angenehmes Interview mit den beiden Regisseuren, die nämlich 2002 Lilo & Stitch gemacht hatten. Wir sprachen auch über zukünftige Projekte, von denen sie natürlich nichts sagen durften, aber zu sehen, dass acht Jahre später so ein klasse Film herausspringt, hat mich dann doch über die Maßen gefreut. Doch den Ausschlag für meine Stimme für diesen Film gab schlicht und einfach die Tatsache, dass ich selbst früher zwei Katzen hatte und daher bestätigen kann, wie schwierig aber doch lohnend es sein kann, seinen persönlichen „Drachen“ zu zähmen. In dieser Kategorie hätte ich noch Megamind, Despicable Me und Toy Story 3 zu melden, die mir auch ausnehmend gut gefielen in diesem Jahr.

In der Kategorie „Buddy-Komödie“ habe ich mich für Die etwas anderen Cops entschieden, und zwar allein wegen dieser Szene. Der Rest des Films amüsiert natürlich auch gewaltig und findet starke Konkurrenz in Das A Team und From Paris with Love. Schade, dass The Hangover noch in das letzte Jahr fällt, der ist für mich sowas wie ein moderner Leoparden küsst man nicht, ein Verrückt nach Mary oder auch fast ein Is‘ was, Doc?, ein großer Klassiker. – Nachtrag: Völlig vergessen hatte ich The Expendables, Asche auf mein Haupt.

Beim Fantastischen Film küre ich Monsters zu meinem diesjährigen Liebling. Eine Produktion, aus der mit so gut wie keinem Geld das absolute Maximum rausgekitzelt wurde, verdient absoluten Respekt. Und da das Endergebnis noch dazu zu einem wundervollen, geradezu poetischen und vor allem völlig anderen Blick auf eine Alien-Invasion geriet, ist dies auch absolut gerechtfertigt. In Konkurrenz standen The Crazies (ich hab halt ein Faible für Zombiefilme) und Black Death (ich hab auch ein Faible für die Themen Endzeit und Mittelalter, und die Pest habe ich in meinem Leben bisher nicht nur einer Person gewünscht), beide sehr empfehlenswert, das Wunder vom letzten Jahr war District 9.

Absolutes Must-See für mich dieses Jahr war der leider eher unbekannt gebliebener Historienfilm Agora – Die Säulen des Himmels. Für weitere Informationen empfehle ich meine Kritik zum Film.

Natürlich gibt es noch eine große Menge absolut empfehlenswerter Filme, die in so einer kurzen Liste auch keinen Platz finden würden. Ich persönlich freue mich sehr über die vielen tollen Komödien, die aus Frankreich zu uns herüberschwappen, seien dies der bereits aus dem letzten Jahr bekannte Willkommen bei den Sch’tis, die noch ins Kino kommenden Fasten auf Italienisch, und Der Auftragslover oder auch der – was niemand für möglich gehalten hätte – herzerwärmend herzlich inszenierte Der Kleine Nick.

Der Vollständigkeit halber möchte ich erwähnen, dass diese Aktion von Gutschein-Codes.de angeregt wurde, eine Webseite, die Gutscheine für Online-Shops gebündelt vorhält – praktisch, wenn man sowieso schon weiß, was man wo einkaufen möchte. Es ist sicher nicht falsch, sich dort einmal umzusehen, denn immerhin haben wir in wenigen Tagen schon den 1. Advent. Ich selbst bekomme übrigens auch einen Gutschein für diesen kleinen Artikel, aber ich habe nicht die geringsten Skrupel, ihn anzunehmen. Denn da ich mit dem Blog sonst überhaupt nichts einnehme, dürfte der ein oder andere bezahlte Content ja wohl in Ordnung gehen. Und meine Meinung war völlig unbeeinflusst, was ja das wichtigste überhaupt ist.

Mount St. Elias

„Wann er di holen will, dann holt er di“, das ist das Credo dieser österreichischen Extremsportler, die mit dem Mount St. Elias in Alaska einen Berg gefunden haben, von dem mit Skiern abzufahren ein heutzutage hoffentlich auch über das Kino vermarktbares, bisher nicht gelungenes Abenteuer bieten würde. Denn der Gletscher reicht vom Gipfel mit 5489 Metern bis hinab zum Meer. Diese Abfahrt habe noch keiner vor ihnen erfolgreich bewältigt. Um zu belegen, wie gefährlich das ist, werden immer wieder sensationshascherisch Bilder mit dem Absturz eines Bergsteigers der misslungenen Expedition von 2002 eingeblendet.

Trotzdem: für Extremsportfans garantiert ein Muss.

Wie sieht es für den Cineasten aus? Hält der Film dem Vergleich mit Arnold Fanck stand, der mit seinen Bergfilmen in der Filmgeschichte nach wie vor als einsamer Solitär dastehen dürfte? Auf jeden Fall hinsichtlich atemberaubender Szenen von Lawinenabgängen, Steinschlag, Abstieg im Nebel, Abfahrten über steilste, eisharte Gletschertäler oder Freischaufeln einer Nothöhle im Schnee gegen den Schneesturm, einem Kampf auf Leben und Tod, braucht sich dieser Film nicht zu verstecken. Dagegen verblassen neuere Bergfilme wie Nordwand oder Nanga Parbat ganz schnell.

Was aber fehlt, ist eine Geschichte, die diese Abfahrt auch noch in einen spannenden Zusammenhang stellt. Hier scheint die einzige Story-Line die der Dokumentierung und damit der Vermarktung des riskanten Unternehmens zu sein; das belegt schon ein Konsumartikelname im Vorspann.

Die Behauptung des eines Bergsteigers aber, „das ist echt, das ist ned Hollywood, da bist Du allein, des is Wilderness“ steht in merkwürdigem Gegensatz zur Allpräsenz der Dokumentationsmaschinerie von Kameras und Mikros, von Flugzeugen, die mit Kameras um den Berg kreisen, von Funkverkehr und immer wieder dazwischen geschnittenen Interviews aus der behaglichen Basis und lässt dieses Gefühl des einsamen Kampfes  nur bedingt nachvollziehbar entstehen. Dazu hätte es wohl doch einer Prise mehr Hollywood im Sinne des Story-Telling bedurft.

Miral

Das Unglück der Palästinenser ist furchtbar. Nicht nur von Israel werden sie brutal unterdrückt, auch ihre arabischen Brüder, die Amerikaner und die Europäer benutzen sie primär für ihre eigenen Machtinteressen. Niemand hat ein reales Interesse an einem weiteren, vollwertigen Staat in der eh schon labilen Nahost-Region. Die Palästinenser sind ein illegitimes Volk geworden, das keiner will, seit Jahrzehnten ein Spielball der Weltpolitik. Sichtlich ergriffen von diesem Schicksal, aus dem ein Ausweg nirgends zu sehen ist, wie der gerade erneut im Scheitern begriffene Friedensprozess in trauriger Routine einmal mehr beweist, drehte Julian Schnabel ganz engagiert dieses eher impressionistische Biopic über die Palästinenserin Miral. Vor lauter Hingabe und Mitgefühl scheint ihm jedoch das Narrative, was einen Film fesselnd macht und im günstigen Falle auch eine eindrückliche Message senden kann, abhanden gekommen zu sein. So helfen denn die zweifellos empathisch-sinnlichen Bilder dem Zuschauer und damit der Sache wenig bis gar nichts.

Somewhere

Sicher, die Filme von Sofia Coppola, die kann man anschauen. Die haben schon was Persönliches, wie soll ich sagen, fast was unbekümmert Persönliches. Wenn es ihr gefällt, so lässt sie einen schwarzen Lamborghini Runde um Runde auf einer Teerbahn in einer Wüstenei drehen. Eins, zwei, drei, ad libitum. Das ist subjektiv, das ist kindisch-kindlich, das ist irgendwie radikal. Das vergisst man auch nicht so schnell. Ah, das war doch der Film mit dem Lamborghini, der in der Wüste wie verrückt im Kreis gefahren ist.

Es gibt auch Szenen, die sind weniger originell, wenn der Protagonist des Filmes, ein erfolgreicher TV-Star, sich Go-go-Girls ins Hotelzimmer bestellt, die dann an einer Stange grässlich abtörnende Tänze vollführen. Und weitere Szenen aus einem gelangweilten Starleben. Tiefe hat das nicht.

Tiefe hat vielleicht das Leben hors classe, welches das natürliche, geburtsbedingte Biotop von Sofia Coppola ist, sowieso nicht (ihr Vater war der berühmte, ja, ja, Francis, ja ja, Ford Coppola, also Weltprominenz). Und vielleicht erkennt sie das. Und dann dreht sie ganz ungeniert ohne Tiefe. Und vielleicht macht gerade das die Filme für die Kritiker – und auch für ein gar nicht so kleines Publikum, wie LOST IN TRANSLATION bewiesen hat – so überaus faszinierend, diese Zwanglosigkeit, dieses sich an kein Gesetz gebunden fühlen, diese Spontaneität, dieses dem Einfall folgen; einfach diese Freiheit, die sie hat und die sie sich nehmen kann – und sich auch nimmt(!), wie sie sonst beim Film vor lauter Produktionszwängen kaum mehr zu finden ist, erst recht nicht beim deutschen Film, der immer schlimmer im Prokrustes-Bett des Fernsehens deformiert wird – dagegen muss einem Sofia Coppolas Film wie eine Erlösung vorkommen.

Plug & Pray

GIBT ES FÜR DIESEN FILM EINE FSK-FREIGABE FÜR INTELLIGENTE ROBOTER?
WENN JA AB ODER BIS ZU WELCHEM GRAD DER ANDROIDISIERUNG?
KÖNNEN ROBOTER DIESEN FILM VERSTEHEN?
GIBT ES EIN KINO FÜR INTELLIGENTE ROBOTER?
WERDEN ROBOTER FILMEMACHER ERSETZEN KÖNNEN?
IST DIESER FILM ROBOTERN ZUMUTBAR?
KANN DIESER FILM DIE MENSCHEN VOR DEN ROBOTERN SCHÜTZEN?
BRAUCHEN INTELLIGENTE ROBOTER FÜR IHRE GEISTIGE WEITERENTWICKLUNG EIN KINO?
WAS WERDEN DIE INTELLIGENTEN ROBOTER IN IHREN FILMEN DEN MENSCHEN ERZÄHLEN?

South

Artefakt von Zweien, Fillei und Krenn, die versessenen und vernarrt sind in die Schwarz-Weiss-Fotografie.

Die Leinwand wird zum grenzenlosen Spielplatz für Korn und Körnigkeit, für Schraffuren, Strukturen, Punktierungen, Linien, Maserungen, Schattierungen in allen Nuancen von Hell, Grell, Dunkel, Grau, sie wird zum Bilderrätsel – und der Zuschauer darf daraus die Story von der unerschlossenen Vergangenheit des titelgebenden SOUTH, womit Lateinamerika gemeint ist, herauszufinden versuchen. Wer darin einen gescheiterten Banküberfall und eine geheimnisvolle Frau aus der Vergangenheit sieht, dürfte auf dem richtigen Weg sein.

Der letzte schöne Herbsttag

Mit diesem Film will Ralf Westhoff offenbar beweisen, dass sein Film SHOPPEN ein Zufallstreffer war. Sogenannt gute Schauspieler hatte er beide Male. Aber der Stoff, der Stoff. Die grosse Anzahl Darsteller im ersten Film und das Modell des Speed-Dating hat ein taugliches Korsett für eine Handlung abgegeben. Jetzt will Westhoff das Geld nicht mehr mit so vielen Darstellern teilen, beschränkt sich hauptsächlich auf ein Paar als Protagonisten – und zeigt, dass er dafür keinewegs gerüstet ist, dass es ihm an allen Ecken und Enden und an Kanten sowieso fehlt, vor allem aber an Handlung, die den Film spannend und interessant machen würde.

Gleich zu Beginn schon und in verhängsnisvoller Weise dann immer wieder, lässt er die Protgonisten ihren Beziehungskistenzustand direkt von der Leinwand über den Zuschauer ausbreiten. Der Zuschauer als seelischer Mülleimer. Wer Eintritt bezahlt, hat wahrlich Besseres verdient.

Und in den Spielszenen wird auf jegliche Verankerung in einem beruflichen und Alltagszusammenhang verzichtet.
Wenn Leo und Claire, so heissen die beiden Teile des Paares, Bus fahren, gibt es keine Haltestellendurchsagen und kein Mensch weiss, warum sie woher und wohin unterwegs sind.
Oder sie trinken auf den Holzdielen vor dem neuen Anbau der Akademie der Bildenden Künste München mit Blick auf das Siegestor Kaffee, aber nie erfahren wir, ob sie Kunststudenten sind, noch warum sie dort Kaffee trinken. Oder wenn sie beide mit dem Fahrrad von zuhause wegfahren, er huckepack hintendrauf bei ihr, so ist das Bild zwar schön, aber der Zuschauer erfährt auch nicht andeutungsweise, wohin sie wollen. Die Figuren befinden sich biographiemässig in einem luftleeren Raum. Das ist das schlimmste, was einem Darsteller, einer Komödie und dem Publikum passieren kann.

Westhoff versucht eine Komödie ohne Handlungsfaden, das ist wie der Versuch, ein Haus ohne tragende Säulen und Balken zu bauen oder einen Menschen ohne Skelett auf die Füsse zu stellen.

Buchtipp: Das finstere Tal

Man sagt ja, in Los Angeles habe jeder Kellner ein Drehbuch in der Schublade, falls mal ein wichtiger Produzent zu Besuch kommt. Man sagt auch, dass Filmkritiker gescheiterte Filmemacher seien, Eunuchen gewissermaßen, die genau wissen, wie es geht, es aber nie selbst tun werden.

Nun hat unser Filmkritikerkollege Thomas Willmann, der für die Münchner tz, den Münchner Merkur und nicht zuletzt für artechock.de schreibt, seiner Vorstellung davon, wie eine gute Geschichte auszusehen hat, Luft gemacht und ein Buch geschrieben. Der ultimative Traum wohl jedes Journalisten, denn in ein Buch wickelt man am nächsten Tag nicht den Fisch ein, ein Buch bleibt.

Ich habe im Sommer vom Erscheinen von Das finstere Tal erfahren, als ich in meinem Stammcafé hier über der Straße gemütlich die tz durchblätterte. Mit einer ganzseitigen Anzeige ehrte das Blatt den Buch-Start eines der ihren, und ich war gelinde gesagt schwer geschockt, denn ich hatte nichts dergleichen kommen sehen. Ich holte mir das Buch, wollte es in Dänemark beim Filmfest von Odense lesen, kam aber einfach nicht dazu. Vor ungefähr drei Wochen habe ich es dann endlich entblättert, aus seiner zarten Schutzfolie befreit, mich zur stillen Nacht ins Bett fallen lassen und die erste Seite aufgeschlagen.

Und dann begann ein Film in meinem Kopf.

Die Handlung beginnt mit einem Reiter, der knapp vor Wintereinbruch in einem abgelegenen, kleinen Bergdorf der wohl bayerischen Alpen Quartier für die kalte Jahreszeit sucht. Die eingeschworene, autarke Gemeinschaft lässt dies zögerlich zu, weist ihn aber darauf hin, dass keine Abreise aus dem Hochtal mehr möglich sein wird, sobald der Schnee zu fallen beginnt. Der Mann, ein Maler, ist darauf vorbereitet und richtet sich im Hof einer Witwe und deren Tochter ein.

Nach und nach lernt der Leser die Dorfgemeinschaft kennen, versteht aber längst nicht alles, wird gezielt im Unklaren gelassen. Nur langsam wird klar, dass im Dorf längst kein Friede herrscht, sondern dass Rechnungen offen sind, gewaltige Rechnungen sogar. An dieser Stelle verlasse ich die Inhaltsbeschreibung, und wer noch keine anderen Besprechnungen dieses Buches gelesen hat und dies auch so lassen kann, wird ein königliches Lesevergnügen haben.

Der Autor baut seinen Debutroman nach dem klassischen Konstruktionsplan des Westerns auf, dem Fremdling über die Schulter geblickt. Diese Erzählperspektive hat den Vorteil, dass sie der Ich-Erzählung ähnelt, der Leser jedoch mehr erfahren kann, da die Erzählung von der Person des Fremdlings abweichen kann, denn der Erzähler ist allwissend. So ist maximale Spannung garantiert, wenn es nach ausgiebiger (aber nie langweiliger) Vorbereitung daran geht, besagte Rechnungen zu begleichen.

Das alpine Setting dahingegen verleiht der Geschichte eine gewagte Exotik. Selten sieht man seine eigene Heimat in so einem Lichte. Dieses Aufpropfen eines Genres auf ein anderes hätte misslingen können, doch führt der Autor den Leser derart gekonnt über jedes noch so kleine Detail der sicht- und fühlbaren Welt, dass der Leser sich vorkommt, als stünde er selbst frierend an einem Ort wie dem kleinen Ahornboden, den festgetretenen Schnee des Fußweges knirschend unter den Sohlen fühlend, die keinen Dampfwölkchen seiner Atemluft beobachtend, wie sie in der Morgensonne glitzern, während sie so schnell vergehen, wie sie entstanden sind.

Sprachlich schreibt Thomas Willmann auf hohem Niveau. Nur vier bis sechs Sätze braucht er, um eine Seite zu füllen. Dieses Buch ist keines, das man nebenher in der U-Bahn lesen kann oder in der Mittagspause. Im Gegenteil, das finstere Tal zwingt einen geradezu, sich in die Leseecke, den Ohrenbackensessel vor dem offenen Kamin zurückzuziehen und die heiße Schokolade auf dem kleinen Ablagetisch zu vergessen, während draußen sanft der Schnee fällt. Im Gegenzug belohnt es einen mit einer fesselnden, an atmosphärischer Dichte kaum zu überbietenden Erzählung, die alle Fasern der Seele zum Schwingen bringt.

Natürlich klingt es so, als lobte ich Thomas Willmann über den grünen Klee. Doch ich bräuchte auch gar nichts bloggen zu seinem Debutroman, das wäre der einfachste Ausweg, wäre ich mit dem Buch nicht zufrieden. Nun verhält es sich aber so, dass das Buch wirklich das mit Abstand beste ist, dass ich im letzten halben Jahr gelesen habe – mindestens. Es ist kein zeitloser Klassiker, es ist kein Buch für die Ewigkeit, aber es ist – noch dazu für ein Erstlingswerk – eine absolut runde Sache, ein mustergültiges Lehrstück. Es lässt keine offenen Fragen, es gibt keine nennenswerte Abweichungen von den Entscheidungen, wie man sie selbst gefällt hätte, befände man sich in so einer Situation, es kitzelt die Seele beim Lesen, und vor allem hängt es die Messlatte für Debutromane verdammt hoch.

Ich kann mir gut vorstellen, was für eine schwere Geburt dieses Buch gewesen sein muss. Die Entscheidung für genau diese Geschichte. Die Arbeit, alle Motivationen aller Personen zu jedem Zeitpunkt des Handlungszeitraums zu definieren und auf Realitätsnähe zu trimmen. Der Mut, sich hinzusetzen und die ersten Worte niederzuschreiben. Der noch größere Mut, diese, aber auch vielleicht ganze Handlungsstränge, Kapitel, Personen wieder zu kippen, zu entfernen, zu vernichten, herausnzunehmen. Die Erzählung zu verdichten, immer wieder, so lange, bis ein dramaturgisches Destillat höchster Güte übrigbleibt. Die zahllosen Nächte dazwischen, in denen die Fragen an einem nagen, ob diese oder jene Entscheidung nun die richtige gewesen sei, von der Erzählperspektive bis zu noch so kleinen Details der Handlung oder auch nur der Beschreibung, wie Sonnenlicht in der Ferne über ein Gipfelkreuz flutet. Und dann auch noch einen Verlag zu finden.

Irgendeine Story niederzuschreiben, in einer Folge von schwallenden Schüben von Logorrhoe, das können viele. Text schinden, um auf möglichst viele Seiten zu kommen, damit das Buch nur dicker wird, das wird schamlos durchgezogen. Ich selbst bin auch so ein Kandidat, fürchte ich. Sollte ich jemals selbst etwas zu Papier bringen wollen, wird das meine größte Schwierigkeit sein: Das Weglassen. Nun, Thomas Willmann hat dies wirklich drauf. Das Nötige erzählt er, das Unwichtige lässt er weg, der Rest erklärt sich von selbst. Und herausgekommen ist nicht, wie so oft, ein weiteres Stück trivialer Prosa, sondern Literatur, und das auf einer Qualitätsebene, die sich sehen lassen kann. Zu Recht schreien die Leute nach mehr, denn Leseerlebnisse dieser Intensität, dieser Qualität sind selten wie guter Whisky. Den Film kann ich kaum erwarten. Schade, dass Sergio Leone nicht mehr ist, das wäre ein Stoff für ihn gewesen.

Wer Das finstere Tal zu Weihnachten verschenkt, der tut seinem Beschenkten einen großen Gefallen. Dieses Buch kann in puncto Leselust Tote aufwecken.

Go ahead, make my day.