Das kleine Zimmer

Das kleine Zimmer ist ein Kinderzimmer und, soviel darf ausgeplaudert werden, das Kind, das darin wohnen sollte, ist tot. Dieses kleine Zimmer ist im Film der Ort, an dem die zwei Geschichten, die er miteinander verwebt, am heftigsten zur Reaktion kommen. Autorinnen und Regisseurinnen sind Stéphanie Chuat und Véronique Reymond.

Die erste Geschichte ist die von Rose. Sie ist Altenpflegerin. Wir lernen sie kennen wie sie einen alten Körper schonend mit Salbe einreibt, wie sie eine Frau Rivelli behandelt. Rose lebt mit ihrem Mann Marc zusammen, er begeht relativ früh im Film das Sakrileg, im kleinen Zimmer eine Glühbirne, die in der Küche ersetzt werden muss, abzuschrauben. Marc arbeitet in einem Design-Bureau in Lausanne. Die sind gerade dabei, in New York einen begehrten Auftrag zu gewinnen, womit sich für ihn die Frage stellt, hingehen oder nicht. Seit das Kind gestorben ist, ist die Freude aus dem Leben des jungen Paares verschwunden.

Die andere Geschichte ist die von Edmond, dem Greis, gespielt vom großartigen Michael Bouquet, vielleicht einem der strahlendsten und listigsten Greise der Filmgeschichte. Sein Sohn, der nach Chicago ziehen wird, will den Vater ins Altenheim bugsieren. Vater und Sohn fahren dem Genfer See entlang, der Sohn am Steuer, so fängt der Film an. Beim Altenheim angekommen verschließt Edmond bockig das Auto von innen. Er hört klassische Musik und die fndet er „beau“, schön. Überhaupt hat er so seine Lebenseinstellung.

Die beiden Geschichten treffen im Altenheim zum ersten Mal aufeinander. Rose pflegt Edmond und möchte ihm das Leben verlängern. Diese Idee pariert Edmond mit der Gegenfrage, ob sie denn glaube, so ein Altenleben sei ein schönes Leben und überhaupt, ob sie denn ein schönes Leben habe. Hat sie natürlich nicht, denn Colin, ihr Bub, hatte schon vor der Geburt eine Herzinsuffizienz und ist noch im Mutterleib gestorben. Darüber kommt Rose nicht hinweg. Überhaupt das Herz. Daran leiden sie alle in diesem Film. Auch psychische Herzinsuffizienz könnte man sagen.

Edmond wehrt sich energisch und mit Intelligenz gegen sein Leben im Altenheim. Rose kriegt das ab. Sie versucht zwar, Monsieur Berthoud, das ist der Familienname von Edmond, zum Essen zu verleiten mit dem vorbereiteten „Fraß“, von dem sie behauptet, den würden viele andere auch essen. Edmond: „Wenn Sie mit mir essen, ess ich auch“.

Die Geschichten vermengen sich dann zusehends, wie der Sohn von Edmond eines Tages die Wohnung seines Vaters einfach hat ausräumen lassen. Da steht er nun, und will partout nicht ins Heim zurück, wohin der Sohn ihn verfrachtet hat. Rose erbarmt sich seiner und nimmt ihn bei sich auf. Hier kommt das für Colin vorbereitete Kinderzimmer ins Spiel, das nie benutzt wurde, und für Rose eine Art Heiligtum darstellt. Es wird zum Nukleus, in dem die Geschichten sich verschmelzen, aufeinander reagieren  und sich vorwärts treiben, ganz nebenei gesagt in einer Grauzone am Rande der Legalität, in einem Mischgebiet von Alltag und Wahnsinn. Und auf die Frage, was Edmond denn mache, wenn im Heim rauskommt, was er mache, antwortet er schlagfertig: „dann bekomme ich vielleicht drei Wochen keinen Dessert.“

Eine sentimentale Geschichte, aber vollkommen unsentimental erzählt; eine realistische Geschichte, puh, Realismus, aber immer an der nicht sicht- aber spürbaren Grenze zum Wahnsinn. Und wie Edmond sich auf Les Diablerets vor dem großartigen Schweizer Alpenpanorama aus der Geschichte verabschiedet, seiner Frau gedenkend, die schon vierzig Jahre früher dort ihr Leben verloren hat!

Das ist vielleicht die Spanne in diesem Film: Alltag einer Altenpflegerin, Alltag von Designern und Müttern, Alltag von Alten, alles nicht sehr erbaulich, alles nicht sehr erfreulich; ab und an mal kurz der aufgewühlt wellende Genfer See und gegen Ende diese Fahrt erst mit der Bahn, dann mit der waghalsig gehängten Seilbahn auf den kühnen, schneeigen Felsbrocken Les Diablerets. Für Rose, gespielt von Florence Loiret-Caille, sind das nur Steine, sie kann der Großartigkeit der Natur nichts abgewinnen. Während sie für den entlaufenen Greis Edmond ein Stück seiner Geschichte darstellen, seine Frau ist dort vor 40 Jahren gestorben. In einer eindrücklichen Szene, steigt er die Stufen zum Gipfel hinan, wie er dies tut, Schritt um Schritt, leicht schwankend, den linken Arm fast wie steif sich auf den Schirm stützend, den er dann in den Schnee steckt, das will einem schier den Atem zum Stocken bringen. Eine physische Anstrengung, zu der er vielleicht rein naturwissenschaftlich-medizinisch gar nicht mehr in der Lage wäre, wozu er sich aber als Urschauspieler, kaum steht er vor einer Kamera noch aufschwingen kann – ganz ähnlich sein fast tänzerischer Gang auf dem Weg zum Grab von Colin. Auf Les Diablerets also, da steht er dann, schaut in die Ferne, geht einen Schritt in Richtung Schnee und den Rest kann man sich denken. Das prosaische Gegenstück zu dieser eindrücklichen Höhenszene, das irdische sozusagen, bietet Rose, die immer noch jammert, dass sie das Kind verloren hat.

Das hat mir an diesem Film so besonders gefallen, diese Spanne zwischen Alltäglichkeit und dem Sich-Aufbäumen dagegen, zwischen dem bedrückten Herzen und dem, das sich erhebt. Gewiss eine sentimentale Geschichte, aber so frappierend nüchtern erzählt.

Love Life – Liebe trifft Leben

Nur sich vom Krebs nicht das Leben versauern lassen, das scheint die Maxime von Stijn zu sein, einem modernen Werbefuzzi, der hier portraitiert wird (der holländische Titel des Filmes lautet: kommt een frouw bij de dokter – kommt eine Frau zum Doktor, falls mich mein nichterlerntes Holländisch nicht im Stich lässt). Stijn ist ein vielleicht prototypischer – vielleicht auch nicht – heutiger Allerweltsmann, mit so gut wie keiner Tiefe ausgestattet, mit keinen Problemen, der Erfolg im Beruf stellt sich von selbst ein und der bei den Frauen sowieso.

Die Filmmethode passt sich seiner Typologie an: sie ist fahrig, schnell, wendet ihr Interesse spontan und abrupt neuen Szenen zu, bleibt nie zu lange an einer Stelle. Sie passt sich, bewusst oder intuitiv, das wäre noch zu ergründen, ohne große Mühe dem oberflächlichen, lockeren, gerne auch sexistischen, denn Ficken ist schön, Geschäftsmenschenslang an, in welchem das Buch „Mitten ins Gesicht“ von Kluun geschrieben ist, das dieser Verfilmung zugrunde liegt.

Portrait eines hippen jungen Mannes in der modernen Werbegesellschaft. Bei einem Meeting lernt er Carmen kennen, die Schwarzhaarige. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Carmen und Stijn heiraten. Das Wort von der Liebe, bis dass der Tod euch scheidet, wird hintersinnig eingeführt. Es kommt auch ein Kind zur Welt, Luna heißt das Mädchen. Aber die erwähnte Erzählweise macht daraus keine Staatsaktion, das sind im Leben von Stijn maximal dekorative Anläße und Dinge. Denn Sex ist das, was ihn umtreibt, mit einer allein, das geht nicht.

Bald stellt sich heraus, dass Carmen Krebs hat, bösartigen. Die ersten Szenen, die davon berichten, erwecken die Assoziation eines Aufklärungsfilmes über Krebs. Es werden groß Wörter wie „Chemo“ oder „Bestrahlung“ wie Zwischentitel vor den entsprechenden Aktionen eingeblendet. Es gibt auch eine ärztliche Erläuterung zum Vorgang der Bestrahlung, dass es sich um einen Präzsionsangriff auf den Tumor handle, wie ein Bombenangriff im Irak. Während sie sich bestrahlen läßt – vorher schon wurden die Haare geschnitten und die Perücke angepasst, wobei sie feststellt, dass dieser neue Look tierisch jucke. Tierisch jucken, das ist so ein schöner Ausdruck. Und was unsere Hauptperson tierisch juckt, das ist das männliche Teil an ihm. Während seine Gattin also bestrahlt wird, vergnügt er sich in der Disco. Amüsiert sich. Sie erbricht sich, er bringt Luna zu Bett. Ein weiterer Zwischentitel ist „Amputation“, denn bei Carmen handelt es sich um Brustkrebs. Auch zu diesem Thema gibt es ärztliche Erläuterungen, gerade auch hinsichtlich des erotischen Interesses von Stijn. Aber selbst wenn er sein Töchterchen zu Bett bringt, ist er in keiner Sekunde der liebe- und hingebungsvolle Vater.

Dass Stijn nicht monogam leben kann, führt zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihm und seiner kranken Frau. Das Thema dieser Auseinandersetzung ist Roos, seine Ersatzkönigin. Üblicher Beziehungs-Heckmeck, er solle aufhören mit Roos. Er kann aber nicht. Und über allem steht das Wort „bis dass der Tod Euch scheidet“, das wird  immer mal wieder zitiert. Stijn ist jedoch ein schwacher Typ. Er sieht sich nie in einem Konflikt. Er versucht sich durchzulavieren, versucht mit Lügen sein Doppelleben neben der kranken Frau zu verstecken, das ist alles. Er ist auch gar kein besonders spannender Typ. Eine lose Folge von Impressionen aus dem Leben dieses Menschen, der sich magisch und undwiderstehlich zu den Frauen hingezogen fühlt und sich nichts denkt dabei, der den Frauen verfallen ist und sie ficken muss.

Es gibt das Spiel Wahrheit /Pflicht, was er in einer ruhigen Stunde mit Carmen am Meer spielt, da erzählt er offen. So sind sie denn glücklich bis zu seinem nächsten Rückfall. Zwischendrin rückt der Tod näher. Es gibt Details über den Krebs an der Leber, der praktisch keine Schmerzen verursacht, worauf Carmen meint, das sei wenigstens etwas Humanes. Beispiel eines modernen Menschen in den modernen Konventionen, die ziemlich amoralisch sind? Menschen geprägt und aufgehoben in werbeschicker Welt?

Wie der Tod nicht mehr abwendbar ist, machen sie Urlaub in einem Südseeparadies. 36 Stunden Flug und sie will die Scheidung einreichen. Liebe im Zeichen des Krebses hat ihre eigenen Spielregeln. Nur nicht sich durch so eine Krankheit die Liebeslust verderben lassen. Denn Stijn leidet sowieso schon unter einem unmenschlichen Zeitmanagement. Portrait eines modernen Zerfahrenen, gespalten zwischen Beruf, Krebs und Frauen, eines wie ein Boot auf wogender See hilflos hin und hergerissenen Menschen.

Er flüchtet wieder in die Disco. Hat Halluzinationen oder Visionen, Luna sagt von der Discowand herab, Mama sei böse auf ihn. Das Gewissen rührt sich zur Unzeit. Er fährt wie ein Besessener davon und baut einen Unfall. Endlich hat er die Muße, die Ruhe, Carmen bis zum Exitus zu begleiten, auch eine Sterbehilfe wird aktiviert. Carmen ist zäh. Vorher wurde noch ein Familienfoto am Bett von Carmen gemacht. Carmen ist widerstandsfähig. Der Todestrunk reicht nicht. Der Doktor muss mit einer Spritze nachhelfen.

Dann fährt der Papa mit Tochter Luna in einem Jeep ans Meer, wo Luna endlich die Kiste, die schon früher im Film vorgekommen ist, aufmachen darf. Vorher hatte Stijn noch am Todesbett versucht ein Witzchen zu machen mit einem neuen Anzug, den er gekauft hatte, er führt ihn der Sterbenden vor wie ein Model und behauptet, Shoppen mache glücklich. Carmens letzte Worte, der Trunk schmecke wie Ouzo. Und dann endlich, darauf haben wir schon länger gewartet, wie Carmen tot ist, ruft Stijn als erstes Roos an, wann sie sich treffen können.

Das Sterben, das wurde recht lange und langsam zelebriert, da verlässt der Film den Stil und teilweise sogar die Erzählposition von Stijn, da legt er offen, dass er wohl nur intuitiv versucht hat, das zugrunde liegende Buch zu illustrieren und dessen Atmosphäre zu übernehmen, dass es ihm aber an analytischem Scharfblick fehlt, so einen Typen wie Stijn ganz genau zu zeichnen, auseinanderzunehmen, nachvollziehbar zu gestalten. Andererseits: gewiss ein diskussionswürdiges Thema.

Der Große Crash – Margin Call

Computerdesigntechnisch ist es heute durchaus möglich, eine Skyline wie die von Manhattan, also des Weltbankenviertels, so darzustellen, dass fallende und sinkende Schatten aussehen, wie fallende und sinkende Börsenkurse, Hochhausfassaden wie Tabellen und Schatten wie Kurse und gegen Ende des ersten Anblicks dieses Häusermeeres kriechen bedrohliche Schatten wie eine Sturmflut die Häuserfronten hoch. Die Katastrophe nagt und steigt.

Die Hauptbühne aber für das uns ins Haus stehende wohlig-gruselige Kammerspiel ist in einer höheren Etage eines solches Geldhochhauses. Durch die Wohligkeit wird jedoch gleich ein hässlicher Strich gemacht. Eine böse Truppe, die sich äußerlich keinen Deut vom Anzugseinheitsbrei der White Collars unterscheidet, stürmt, angemessenen Schrittes zwar, das Haus; fast wie Schnitter Tod wird die kleine Sturm-Mannschaft die Reihen der Angstellten lichten, die Triage scheint nach Zufallsgenerator zu funktionieren. Die Schnitte sind kurze, präzise Worte, leise vor allem, denen auch niemand zu widersprechen vermag, denn Widerspruch ist zwecklos. Die Alternative zur angebotenen Kündigung wäre noch schlechter. Das Entlassungsmassaker dauert wenige Minuten; dann begibt sich die Kamera vor die Haustür und sichtet die Reihen der Menschen, die mit ihren kleinen Kartons privater Habseligkeiten einen traurigen Exodus in Richtung Arbeitslosigkeit bilden.

Einschub: grad dieser Tage war wieder zu lesen, dass die großen Banken alle, weil das Geschäft dank bescheidener gesetzlicher Regulierungen nach dem Lehmann-Crash (um den es sich hier wohl handeln dürfte) nicht mehr ganz so wild laufen darf, wieder eine Großoffensive in Personalabbau starten, weil das einer der Punkte ist, bei dem sie Kosten sparen können, wenn sie schon nicht mehr Gewinne ad libitum nach Freibeuter Art einfahren dürfen. Denn sie glauben, sie müssen das hohe Gewinnniveau halten, 25 Prozent peilte Herr Ackermann bei der Deutschen Bank an. Als seien solch wahnwitzigen Gewinnmargen ein Naturgesetz. Insofern ist der Film hochaktuell.

Dummerweise passiert bei der aktuellen Schnitterei ein kleines, ein klitzekleines Malheur. In Form eines Computer-Sticks. So ein kleines, kaum daumengroßes Teil, eines der wenigen privaten Dinge, die Eric mitnehmen konnte und welches er einem nicht entlassenen Junior-Angestellten noch zwischen Tür und Angel zustecken konnte mit der Bemerkung, er solle sich das mal anschauen, aber es sei Vorsicht geboten. Eric hatte immerhin eine Chef-Position. Ihm sind einige Dinge bei den Geschäften aufgefallen. Dinge, die offenbar werden ließen, dass das tolle Bankhaus kurz vorm Einsturz steht.

Was der Stick nun alles in Gang setzt, nachdem der Junior-Angestellte ihn sich angeschaut hat, die diskrete Panik, die sich wie ein heimlicher Tsunami oder wie ein Herrgott während der Nacht in dem Gebäude ausbreitet, das ist sozusagen der Hauptgang dieses exquisiten, auch exzellent gestylten und besetzten Menüs an wohlig-präapokalyptischer Sauce. Banken-Crash à discretion.

Die Starriege, die diesem Menü Glanz verleiht, wird angeführt von Kevin Spacey und Jeremy Irons. Der Starkoch und Menüentwerfer heißt J.C. Chandor. Er gibt auch gar nicht vor, hier ein Lektion oder tiefere Einsichten über das Banken-(Crash-)Wesen zu verbreiten. Es macht ihm einfach Spaß, der sich auf den Zuschauer überträgt, sich auszumalen, wie es in so einer diskret-feinen Etage kurz vorm Zusammenbruch zugehen könne. Und er macht das sehr plausibel. Dass der Besitzer der ganzen Chose noch dazu von Details keinen Blassen hat, dass er eben nur Geschäftsmann ist und auch noch aus dem Zusammenbruch ein Geschäft machen wird, das ist die Ironie nicht nur in diesem Film. Vielleicht ist das viel eher die Definition des Geschäftsmannes schlechthin, erst recht eines, der aus Geld deutlich mehr Geld machen will.

Chandor versetzt den Zuschauer nicht in die Position des zu Belehrenden oder desjenigen, der aufgeklärt werden muss, er benutzt die Leinwand auch nicht als Bühne, die in den Zuschauerraum sendet, noch will er den Zuschauer einem Thrill aussetzen oder ihn mitfühlen, mitschmachten lassen, noch ihn zu Tränen rühren oder ihm den Atem rauben; er benutzt die Leinwand als eine kleine Öffnung in sein Labor; der Zuschauer darf Zaungast sein und einen genauen Blick in einen aufgescheuchten Ameisenhaufen werfen, er wird also eher naturwissenschaftlicher Beobachter einer herannahenden Katastrophe und wird Zeuge, wie diese im Atomkern einer Bank zu welchen Reaktionen führt. Der Zuschauer wird Teilhaber an einem offenen Geheimnis.

Und da der Zuschauer ganz entfernt über sein Konto und seine Börse und sein Gehalt und die Rechnungen und die Negativ- oder Positivzinsen auch mit der Finanzwelt und der Geldwelt verbandelt ist, darf ihm der eingangs erwähnte wohlige Schauder sicher sein. Denn ein wenig betrifft  die Katastrophe auch ihn selbst.

Das ist wie wenn ein Mensch auf der Straße zusammenbricht und sich bereits genügend Helfer um ihn kümmern; es ist ein Instinkt des Menschen, das mitzuerleben, ob das Opfer gerettet werden kann und wie die Schritte dazu sind.

Und wo der Hund begraben liegt, das erfahren wir am Ende auch.

Die Lincoln Verschwörung

Das Thema ist durchaus aktuell und so ist der Film auch gedacht: der Staat soll nach einem Terroranschlag nicht rachsüchtig werden und sich an die zivilen Gesetze halten.

Die Reaktionen auf die Ermordung von Präsident Abraham Lincoln sind hier im Fokus; wie Justiz und Politik unbedingt und schnell Täter und Hinrichtungen brauchten und sich dabei wenig um die Gesetze kümmerten. Der Hinweis auf 9/11 ist unmissverständlich, wenn auch sozusagen in einer dicken Schwarte aus Oel verpackt, in einem Gemälde, das aus uralten Zeiten stammen könnte und noch mit einer dicken Sauce an Musik eingeschwallt wird.

Der Terrorakt von 1865, der hier juristisch nachbearbeitet wird, war eine Folge der Spannungen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten.

Die Verschwörer hatten sich in der Pension von Mary Surrat getroffen, weil ihr Sohn John in die Verschwörung involviert war. Sie hatte noch die Tochter Anna, die an der Verschwörung vor allem fasziniert haben dürfte, dass der bekannte Schauspieler Booth (der dann die Ermordung durchführte) mit dabei war.

Kaum war Lincoln ermordet, kaum hatte er seinen letzten Atemzug getan, fingen die Erben Lincolns, die Minister und Senatoren bereits mit Verschwörungstheorien an, dass es eine Gruppe gewesen sein müsse. Der Sohn von Mary konnte entkommen. Aber die Justiz brauchte Täter. So wurde auch sie verhaftet, weil die Mörder sich ja bei ihr im Hause getroffen hätten.

Jetzt wird die Hauptperson des Filmes wichtig, es ist der ganz junge Anwalt Frederick Aiken, der von seinem „Gönner“ mit der Verteidigung von Mary Surrat betraut wird, was er nur gegen viele Skrupel und Zweifel schließlich tut.

Robert Redford, der die Regie besorgte, dürfte in Aiken, gespielt vom Schauspieler James McAvoy, ein junges Alter Ego seiner selbst gesehen haben, einen fast romantisch-idealistischen Anwalt, welche Lichthintergründe er ihm manchmal gibt!, der reine amerikanische Vertreter des Rechtes, eines fast puristischen Idealismus, der mir heillos veraltet und außer Mode scheint. Vielleicht sind es Anflüge von Sentimentalität von Reford, der in seiner Regie diesen Anwalt immer süßlicher werden lässt, fast zu schmelzen droht er. Hier macht Redford mehr sich selbst was vor, als dass er der Welt Spannendes oder Aufklärendes zu berichten hätte.

Er hat den Anwalt in einer anrührenden Kriegsverletzungs-Szene auf einem Schlachtfeld, zwei Jahre vor 1863 eingeführt, der Hauptmann liegt schwer verletzt da – im Rest des Filmes wird er hinken, wenn man ihn denn gehen sieht – verlangt aber von den Sanitätern, dass sie als erstes den Soldaten, der fast am Sterben ist, mitnehmen. Das sind Helden.

Dann schneidet Redford auf den Abend der Ermordung Lincolns. Er fängt bei einem Empfang an, bei welchem Aiken in die richtige und wichtige Gesellschaft eingeführt wird und auch gleich auf seinen Mentor trifft, der ihn umgehend mit dem vergifteten Job betrauen wird. Ein idealer junger Amerikaner. Redford schildert das sehr gefühlvoll und nachvollziehbar in schöner alter Kinoschönschrift mit viel Suggestivkraft dank Licht, Ton und auch Figurführung.

Nach der sehr im Dunklen geschilderten Ermordung Lincolns während einer Shakespeare-Aufführung finden schon bald die ersten Gerichtsverhandlungen statt. Die sind sehr präzise gearbeitet, wie Aiken einerseits Gerechtigkeit nach dem Gesetz will, wie die herrschende Machtclique vor allem und möglichst schnell Todesurteile durch den Strang präsentieren möchte. Das ist sehr schön, sehr dicht, sehr emotional inszeniert.

Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass dieser Film hier zahlreiches freiwilliges Publikum anziehen wird. Es ist ein weiteres wunderbares amerikanisches Justizdrama. Ich könnte mir das als geeignet für den Schulunterricht vorstellen: als Lektion in Geschichte und als Beispiel eines gelungenen amerikanischen Justizfilmes. Letztlich gehen die Menschen jedoch ins Kino, wage ich zu behaupten, wegen dem Subtext. Was will uns Redford erzählen? Die Message ist doch die, der idealistische Glaube an Menschen, die dem Rechtssystem – gegen die Staatsraison – zum Recht verhelfen. Das kommt einem in unserer korrupten Zeiten sowas von fast möchte ich sagen „hinterwäldlerisch“ vor. Das ist nicht bös gemeint. Aber Redford scheint in einer idealistischen Zeit stehen geblieben zu sein, vielleicht weil er es sich als wohlhabender Amerikaner leisten kann?

Redford spricht zwar ein aktuelles Thema an wie eingangs erwähnt, ein hochaktuelles Thema sogar, denn auch Barack Obama hat noch nicht alle Gesetzesverbiegungen aus Bushs Antiterrorkrieg wieder zurecht gerückt (auch in Deutschland sind manche Gesetze von damals noch nicht außer Kraft gesetzt). Aber Redford erzählt das sozusagen in einem veralteten Zeichensystem, das kaum mehr jemand versteht. Oder er versteckt sich hinter einem vermeintlich korrekten historischen Bild, was sogar ein ziemlich sentimentaler Fehler sein kann. Er berichtet aus einer Gedanken- und Vorstellungswelt, die nicht die unsere ist. Aber wie ich meine, nicht so, dass sie unsere Neugier und unsere Interesse zwingend wecken. Mehr gut gemeint und schön gemacht als den Nerv der Zeit getroffen.

Whores‘ Glory – ein Triptychon

Michael Glawogger nennt seinen Film ein Triptychon. Das waren diese Altarbilder im Mittelalter mit zwei Flügeln, die man zusammenklappen konnte. Es gab sie auch als Reisetriptychon. Deren praktischer Zweck war sowohl Schutz der Bildflächen als auch die transportfreundliche Verkleinerung des Formates. Wäre heute alles nicht mehr nötig. Heute könnte auch der Film von Glawogger bestimmt auf eine leicht transportable Datei geschrumpft und dann wo auch immer auf der Welt auf einem Bildschirm angeschaut werden. Wenn man dies denn möchte. Um bei der Dreiteiligkeit zu bleiben: Glawogger nutzt sie, um auf den drei „Tafeln“, resp. in den drei Teilen, Prostituierte aus drei verschiedenen Ländern, die drei verschiedene Sprachen sprechen und drei verschiedene Religionszugehörigkeiten haben, zu portraitieren. Die Orte, wo die Frauen arbeiten, heißen: „Fish Tank“ (Bangkok), „La Zona“ (in Mexiko) und der Dritte ist ein Prostituierten-Ghetto in Bangladesh.

Es gab Filme von Glawogger, die waren Anlass, sich den Namen zu merken, „Megacities“ oder „Working Man’s Death“. Das waren aufregende Bilderbogen, extrem ausgewählte Bilder und Sujets, die sich mit hochaktuellen Themen beschäftigen. Städtewachstum und Ausbeutung in der Arbeitswelt. Prostitution gilt nun als ältestes Gewerbe der Welt, hat also keine besonders aktuelle Bedeutung. Denn es gab sie immer und wird sie immer geben. Insofern fehlt bereits ein wichtiges Element im Vergleich zu den erwähnten früheren Filmen. Prostituion ist zeitlos.

Es gibt unterschiedliche Äußerlichkeiten. Wie die Frauen in Bangkok, die hinter Fensterscheiben tanzen und dabei von einer Überbrückung der Straße herab mit Laserlicht die unten vorbeigehenden männlichen Passanten anmachen. In Bangkok sitzen die Frauen im Bordell alle hinter eine Glasscheibe, ausgestellte Schaustücke, mit Nummern versehen; und die Kunden sitzen in bequemen Fauteuils, wie in einer Flughafen-Lounge oder stehen davor und wählen aus. Der Geschäftsführer berät sie. Manche wollen einen Rabatt aushandeln. Dann werden die Damen resp. ihre Nummern aufgerufen. Sie werden ihren Freiern übergeben, die bezahlen an der Kasse und dann werden die Paare noch zu einem Lift, dessen Tür ein großes aufreizendes Frauenbild ziert, begleitet. Die Post kann abgehen.

In Bangladesh siehts armseliger aus. Das scheint ein rechtes Ghetto aus schmalen Gängen mit vielen Türen zu sein. Ein Europäer mit einer Kamera auf den Schultern muss da wie ein Traktor in einer engen Gasse wirken. Die Betriebe sehen sich als Familien (nirgends kann Unterdrückung und Ausbeutung besser funktionieren als im familiären Rahmen). Die Bordellbetreiberinnen bezeichnen sich als Mütter und kassieren kräftig ab. Vor dem Verkehr holen die Mädels Kondome. Die Mutter zeigt den sehr jungen Mädchen auch, wie sie es machen müssen. In Mexiko wohnen die Damen direkt an einer breiten Straße, in der die Freier mit ihren Wagen kreuzen können. Die Damen stellen sich vor die Tür. Hier hat Glawogger eine Nummer inszeniert. Er hat versucht den Verkehr gegen Geld abschreckend zu gestalten, indem dem Freier für drei Varianten genau zwanzig Minuten zugestanden wurden. Und praktisch auf die Sekunde genau, noch ohne dass er abgespritzt hätte, wurde er wieder rausgeworfen. Ist natürlich komisch bei einer dokumentarischen Kamera, zu wissen, dass der Dokumentarist die ganze Zeit mit dabei ist. Und da der Freier auch kein professioneller Pornodarsteller war, hat das ganze eine gewisse Hifllosigkeit. Ist aber weder geiler Porno noch berührender Doku.

Ich habe sowieso das Gefühl, dass das Rotlichtmilieu nicht unbedingt das von Glawogger ist. Schon in Thailand oder auch in Bangladesh entstand oft der Eindruck, die Leute würden für die Kamera sich ein bisschen verstellen. Dann kommt dazu, was mir von den beiden erwähnten vorherigen Dokumentationen von ihm zumindest nicht so in Erinnerung war, dass hier die Leute sehr sehr viel geredet haben. Das halte ich meist für problematisch oder bestenfalls für fernsehtauglich in Dokus, wenn die Leute sich in laienrhethorischer Selbstdarstellung üben.

Die lustigste Szene war für mich in Mexiko die mit den beiden Landburschen, die zu zweit auf einem Esel durch die Straße der Freier reiten.

Pro Tafel hat sich Glawogger etwa 40 Minuten Zeit genommen.

Von der Kunst, sich durchzumogeln

Das Thema wäre nicht schlecht: ein sensibler, künstlerisch begabter Teen, der anderes im Kopf hat als die Schule. Ihn beschäftigen Topoi wie die Anzahl der Menschen, die es insgesamt schon gegeben hat, die es heute gibt, wieviele Menschen täglich sterben. Die Sterblichkeit, Tsunamis und andere erd- und menschengemachte Katastrophen. Er ist ganz klar ein Typ, der auch noch keinen Sex gehabt hat. Er kann wunderbar zeichnen. Während dem Unterricht malt er ganze Bücher voll mit Gesichtern und Fratzen und Fantasiegebilden. Aber er pflegt keine Hausaufgaben zu machen.

Wobei der Titel „die Kunst sich durchzumogeln“ mir zumindest von der Exposition des Filmes her besehen nicht so ganz treffend erscheint. Denn der junge Mann, George heißt er, versucht gerade nicht sich durchzumogeln, er findet nur andere Themen viel wichtiger. Zudem gibt’s bei ihm zuhause Probleme. Er hat einen Stiefvater. Von dem entdeckt er bald, dass sein Leben auch nicht so funktioniert, wie er vorgibt, dass es funktioniert. Man erwartet also nach der Exposition eher ein Drama. Denn die Figur des ahnungsvollen, sensiblen Künstlers, der nicht für eine brutale Maschinerie wie die Schule gemacht ist, der von so einer Maschinerie normalerweise eher hinauskatapultiert wird, wird sehr glaubwürdig behauptet.

Natürlich muss eine Liebesgeschichte, erst eine zarte, eingeführt werden. Die mit Sally. Sie taucht erstmals auf, wie sie auf dem Flachdach des Schulhauses raucht. Er guckt nur in die Gegend, in seinen notorischen, man könnte auch interpretieren, Verpuppungsmantel, gehüllt. Eine Lehrerin kommt und riecht, dass geraucht wird. Er nimmt das auf sich, indem er tut, als stecke er sich eine Zigarette an, während Sally entwischen kann. Das bringt die beiden näher. Ihre Mutter führt ein Lotterleben. Hat einen lockeren Umgang mit Männern und dem Sex. Und wie sich rausstellen wird, George eben nicht. Der nimmt das alles ganz ernst. Die Mutter von Sally warnt diese vor der Ernsthaftigkeit von George. Es kommt ein Kunstmaler ins Spiel, der auch auf der Schule war, auf der der Kunstunterricht immer eine Rolle spielte. Der wird es dann mit Sally treiben.

Leider wird die vielversprechende Exposition der Geschichte, die aus dem zarten, ahnungsvollen jungen Mann vielleicht hätte über diverse Krisen einen ernst zunehmen Künstler machen können, durch den Fortgang so ziemlich entwertet, indem bald klar wird, dass alles auf ein nicht allzu teures Happy End zusteuern muss und dass das A und das O im Leben eben doch der College-Abschluss sei, den George nach all seinen Ausfällen und Opponiererei in drei Wochen Ackerei erreicht – und vielleicht nur, weil die Mutter die Wohnung verkaufen muss. Also nicht durchmogeln, sondern büffeln. Und der Mallehrer hat von ihm ein ernstes Gemälde verlangt, wo er seine Grenzen überschreitet, wo er sich neu zu verstehen gibt. Das ist ein leider sehr erwartbares Portrait von Sally, die inzwischen mit dem jungen Maler was hatte. Das kommt ganz entgegen der bisherigen Anlage der Figur. Er hatte zwar mal einen zarten Traum von Sally. Aber dass sie seine Muse sein würde, darauf deutete nun grad gar nichts hin und nur mit Schuften und Pauken wird man eben auch kein Künstler. Ein Film, der die schöne Schilderung der Figur, mit der er anfängt, mit der öden Spekulation auf ein klischeeiger-geht’s-nimmer-Happy End und dass die Welt wieder in Ordnung sei, billig wegschmeißt, den Protagonisten zum Konformismus bringt.

Film Socialisme

Manuel de Oliveira hatte vor einigen Jahren auch eine philosophische Kreuzfahrt unternommen. Diesmal sticht Jean-Luc Godard in See. Er radart mit einem älteren Luxusliner den panmittelmeerisch-europäischen Raum im panhistorischen Zeitfächer ab. Dazu bereitet er jede Menge Footage aus der Filmgeschichte, aus der Philosophie, der Dichtung und der Musik auf. Wie immer liebt Godard Texttafeln zwischendrin, diesmal geht es um „die Dinge“, „Dinge“, „des choses“, „solche Dinge“, „ebensolche Dinge“. „No Comment“ ist die letzte Tafel, da schließt sich schon der Kinovorhang.

Auf einem Kreuzfahrtschiff haben alle einen Grund, ein Motiv für die Fahrt. Alle sind in einen Zusammenhang eingebunden. Der Zusammenhang ist der Weltkrieg, ist Gold aus Spanien, ist Palästina. Eine Kreuzfahrt ist eine zu bewältigende Sache. Darum sind die Leute alle irgendwie angespannt. Das Meer rauscht vorbei. Godard liebt es auch, die Geräusche von Motoren oder Fahrtwind zu montieren, und zwar alles andere als naturalistisch, vielmehr mit Brüchen in der Sound-Continuity und auch mit Bearbeitung des Soundmaterials in Richtung weniger angenehmer Effekte als desjenigen des dumpfen, beruhigenden Gleichklangs einer Schiffsmotors.

Die Passagiere haben viel Zeit, sich in der Reichweite von Godards Radarsystem über alles zu unterhalten, was vielleicht Bestandteil eines heutigen Gesamtbewusstseins über dem Mittelmeer- und Europaraum mit seiner Geschichte der letzten Jahrzehnte, ja der letzten Jahrtausende sein könnte.

Überraschend, wie stark ihn immer noch der Zweite Weltkrieg beschäftigt, für wie virulent er ihn noch hält. Bevor wir alle vergessen. Er montiert das Material aber alles andere denn als eine Mahnung.

Es gibt geographische Zwischentitel: „Aegypten“, „Palästina“ (ist da gerade was mit Palästina?), „Odessa“, „Hell As“, (war da was mit Griechenland?). Und immer wieder die Frage, wieviel vom spanischen Gold auf seiner Reise nach Odessa schon verschwunden sei.

Godard beschäftigt auch, dass Hollywood von lauter Juden gegründet worden sei. Er zählt ihre Namen auf. „Quo vadis Europa“ fragt sich Godard. Er reflektiert über das mütterliche Blut und den Hass.

Vielleicht ist er dann seekrank geworden und ihm ist eine andere Variante seiner Art des Filmemachens in den Sinn gekommen. Er ist immer gerne in die Industriebetriebe gegangen. Hier ist es eine Garage J. J. Martin. Ein Filmteam will was drehen. Der kleine Sprößling der Garage, der Blondschopf ist ein kommendes europäisches Kulturtalent, er tut zu klassischer europäischer Musik schattendirigieren. Seine Kameraden sind ein Lama und ein Esel. Aber zeichnen kann er wie der göttliche Auguste Renoir. Will heißen, er kopiert ihn. Das benutzt Godard wiederum für fantastische Farbeffekte in der Postproduktion. Die Frau von der Garage steht zwischen den Zapfsäulen und liest Balzac. Eine Frau, eine Intellektuelle steht an einer Mauer, macht Notizen, hört Texte aus dem Off. Hinter ihr dreht sich der Schatten eines Windrades auf der Wand. Sie hat ein Programm: sie will 20 Jahre alt sein und sie will immer recht haben.

Wie immer bei Godard geht es auch ums Wirtschaften im Betrieb, dass er allen, die da arbeiten, gehören solle. Armes Europa, liest Balzac und dann das. Dann ziehts Godard doch wieder auf die See. Hellas, die Demokratie und die Tragödie schwirren ihm im Kopf rum. Ob sich da je was machen läßt. Eine Uhr kommt wieder, die goldene Uhr, die wir schon im ersten Teil gesehen haben, sie zeigt keine Zeit an, ein Junge hatte sie vorher auf dem Schiff geklaut. Sie stammt aus den Pharaonen-Gräbern, sie zeigt die graue Vorzeit, die Nacht der Zeiten an.

Auch wenn Godard an der Zeit leiden mag, an den Verhältnissen, ob seine Message deutlich genug ist, ob sie sich nicht gewaltig versteckt hinter dem Wust an Footage, den er mit unendlichem Fleiß sichtet, auswählt und montiert? Ob seine Message nicht immer undeutlicher wird und er vielleicht gar nicht versteht, warum das keiner mehr verstehen will oder kann? Denn groß ist das Aha-Erlebnis nicht. Die europäischen Fragen waren bei Manuel-de Oliveira bei seinem Kreuzfahrtfilm („Um Filme Falado“) für mich jedenfalls näher am Puls der Zeit.

Trotzdem, wer bei Godard keine geistige Anregung findet, dem ist nicht zu helfen.

Valerie

Josef Rusnak, der Regisseur, versucht an die Beat-Generation anzudocken und der Produzent Hubertus Meyer-Burckhardt sieht diesen Film im Rahmen einer Trilogie mit Monologen, die er produzierte („Mein letzter Film“ und „Ein ganz gewöhnlicher Jude“). Valerie ist der Monolog einer Frau geschrieben von Roger Willemsen, gespielt von Franka Potente als Titelfigur Valerie.

Einpersonenstücke im Theater oder Einpersonenfilme im Kino sind für Zuschauer erst mal was Abschreckendes. Hier stellt es sich etwas anders dar. Es ist vielleicht ein Monolog-Film, aber es ist kein Ein-Personen-Film, die Liste des Castes ist stattlich.

Valerie lebte lange zwischen zwei Welten, zwischen L.A. und Berlin. Ihr Freund lebt in Berlin. Sie hat einen Karrierejob in L.A. Er wird krank, liegt in einem Berliner Krankenhaus. Da entschließt sich Valerie, L.A., den Rücken zu kehren, ihre Zelte dort abzubrechen. Sie zeichnet alles auf Video auf. Ihre Gedanken zu diesem Vorhaben und auch viele Erinnerungen an die Liebe. Der Film gibt also vor, die Schauspielerin hab ihn selbst gedreht, stellenweise sieht man sie auch, wie sie die Kamera in der Hand und auf sich gerichtet hält oder wie sie das von ihr Gefilmte betrachtet (dann kommt die Stimme angenehm dezent vom Band).

Mit diesem persönlich In-die-Kamera-Sprechen folgt Rusnak einem Trend, der sich vielleicht am augenfälligsten bei Youtube manifestiert. Und der offenbar inzwischen auch ins Kino drängt. Kim-Ki-Duk hat einen solchen Film gemacht, „Arirang“, bei dem er nur als er selber Monologe in die Kamera gesprochen hat oder Joaquin Phoenix mit dem Versuch eines Befreiungsfilmes, mit „I am still here“, der kürzlich in den Kinos war. Versuche, Routine im Beruf, vielleicht drohendem Burn-Out zuvorzukommen, Frust in der Produktionsroutine zu überwinden, sich damit kreativ auseinanderzusetzen. Es ist eine Reaktion auf den kreativen Input, den die neue Internetwelt und die leichte Verfügbarkeit von Kameras am oder eingebaut in den Computer oder ins Handy bietet. Die Internetwelt ist da inzwischen deutlich weiter als das Kino.

Das wird besonders am Anfang des Filmes recht offensichtlich, hier agiert Franka Potente sehr staatstheaterlich, sehr schauspielschulgeschult (dieses „gekonnte“ Wegsprechen wie bei einer Lesung), versucht schön und verständlich zu sprechen, gewinnend in die Kamera zu lächeln, wirkt insgesamt steif und bemüht. Die alte Schule halt, die noch nicht mit der neuen Medienwelt aufgewachsen ist. Vielleicht wird gerade an diesem Film deutlich, wie rasant dieser Wandel inzwischen ist, auch an der kleinen Entwicklung die Frau Potente dann doch macht, indem sie zusehends lockerer und selbstsicherer wird und damit zusehends angenehmer und mit persönlicherer Farbe rüberkommt. Es ist bestimmt nicht leicht, als Star, der sie ist, sich so einem Experiment und Lernschritt zu stellen und sich so zu exponieren. Für die Kids muss es wirken, wie eine Mär aus alter Zeit. Allerdings hat sie sich den Schritt weg vom sterilen, schauspielschulantrainierten Schauspieler-Hochdeutsch noch nicht getraut, was klar ein Manko ist, so bleibt sie doch irgendwie heimatlos. Sprachregie und Arbeit am Untertext scheint außerdem Rusnaks Sache nicht zu sein; was einem literarischen Film nicht unbedingt zum Vorteil gereicht.

Wer die erste halbe Stunde durchhält, wird dann mit einem ganz schönen Movie belohnt. Rusnak versucht an seine Anfänge anzudocken, mit viel experimentierenden Varianten, Pixelungen in allen Variationen, Unschärfe und Spiegelungen in Küchengeräten, Nebel und Badewannennebel, Farbspiele und -Filterungen, mit fülligen Farben und fülliger Musik (da könnte Willemsens Plattensammlung einen wichtigen Beitrag dazu geleistet haben; ein Soundtrack der das Zeugs zum Konzert hat – das allerdings konterkariert die schauspielerischen Befreiungsübungen, belastet sie unnötig mit Schwere, mit dem Gewicht von Klassik), auch Schwarz-Weiss, Tempoverlangsamungen oder Stop and Go, Coloriereffekte und Verfremdungen, kurz, viele technische Spielereien, die es auch braucht, um so einen Monolog einigermaßen abwechslungsreich auf die Leinwand zu bringen. Dazwischen schneidet Rusnak immer wieder Hochhausimpressionen von L.A., wo in einem Büro hoch oben Valeries Chef sitzt und die ganze Zeit sie anruft, sie habe schon wieder das Flugzeug verpasst, das sei Scheiße. Und Interieurs aus den Büros dort und viele schöne, langsam zoomende und schwenkende Aufnahmen von Interieurs von Berlin, wo Valerie elegant wohnt oder vom Spital, wo ihr Freund an Apparaturen liegt, immer der lange Spitalflur, und wie sie verlangsamt da durch geht. Das ist schon stimmungsvoll.

Der Text von Willemsen ist poetisch, er will aber keine Schmerzen verursachen, er ist für ein Publikum gedacht, das ihn dankbar gouttieren wird. Es sind Philosopheme zu Liebe und Beziehung („In Ewigkeit in diese Rinde geritzt, der Baum muss bluten“).

Die Magie in diesem Film fängt mit dem Discobesuch an, mit Rockn Roll, wie Potente mit Sackkleid wie in Trance umherwandelt und am Schluss in den ganz leeren Räumlichkeiten noch eine Begegnung mit einem übrig gebliebenen Mann hat. Allerdings würde ich diese Szene eher im Bereich der Schnittmenge zum Musikvideo ansiedeln.

Zusammenfassend könnte man sagen: Rusnak versucht Frau Potente etwas aufzuweichen, was ihm im Laufe des Filmes durchaus gelingt und nebenher produziert er mit dieser Aktion einen ansprechenden Film, mit feuilletongerechten Liebesworten von Roger Willemsen in der Art oder nachempfunden oder in der Haltung der Beat-Generation. Unter diesem Aspekt vielleicht ein nostalgisches Movie.

Transfer

Wieviel Einsatz, Mühe, Aufwand, Geld, Zeit, Hingabe und auch wieviele Einzelkönnen sind auch in diesen heute anlaufenden deutschen Film gesteckt worden; und trotzdem dürfte er meiner Einschätzung nach kaum Leute ins Kino ziehen.

Woran mag das liegen? Für mich gabs nur einen Moment, das war ziemlich spät im Film, der bei mir eine Antenne zum Klingeln gebracht hat. Das war bei der Diskussion um die künstliche Manipulation von Embryos, ein Thema was unter dem Titel Präimplantations-Diagnostik zur Zeit die Gemüter bewegt, wenn ich das richtig verstanden habe.

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The Guard

Mehr davon wünschte man sich auf die Leinwände, zumal aus Deutschland, da gibt’s ja gar nix davon, von diesem rabenschwarzen Humor, der sich von unserem Protagonisten, the Guard, Sergeant Jerry Boyle, gespielt von Brendan Gleeson, seinem schwarzen Gegenspieler vom FBI gegenüber äußert (es geht um eine drehbuchmäßig ganz reell eingefädelte Drogengeschichte und um einen korrupten Polizisten, aber weiter nicht von Bedeutung). Boyle sitzt also dem schwarzen FBI-Agenten gegenüber und fragt ihn gleich, ob er aus der amerikanischen Unterschicht komme. Dieser kontert, „nein, Yale“.

Das erfrischende an diesem Krimi, oder Krimi-Comic, sind die Figuren, ihre ausgestellte Direktheit und vor allem die Mechanik des Außerbetriebsetzens einer gewissen politischen Correctness. Das dürfte das Vergnügen sein, nebst einfach lustigen Albereien, wenn der Sergeant und sein Kollege die Leiche mit dem Papier im Mund am Boden stizend finden und über dem Blut an der Wand 5 ½ in roten Zahlen steht, dann können sie sich in filmgeschichtlichen Erörterungen ergehen, ja es gebe doch einen Film 7 ½.

What a beautiful fucking cinema wäre man versucht in Abwandlung eines Ausspruches aus dem Film hier zu schreiben. Dort heißt es, what a beautiful fucking day. Anfangs wird gleich geflucht: ihr verdammten Komödianten. Dem  Landei, unserem Sergeant, wird ein Kollege aus Dublin zu Seite gestellt, der wird leider bald schon ermordet, aber auch das muss bewitzelt werden.
Die Drogendealer, auch sehr originelle Figuren, die lesen Nietzsche, Schopenhauer, Bertrand Russel. Die Mutter von Boyle, die liest Oblomow.

„Ich bin Ire, Rassismus gehört dazu“. Dem frönt unser Sergeant Jerry Boyle ausgiebig. Immer mit grimmigem Gesicht. Das lässt er uns in jeder Sekunde spüren, wie schwer so ein Schicksal ist, ein irischer Polizist zu sein, der sich noch dazu mit Drogendealern, korrupten Kollegen und Schwarzen aus dem FBI rumschlagen muss.
Sein Rassismus: „ich dachte, nur Schwarze würden Drogen dealen“.

Oder es geht um das Pflichtenheft eines Drogendealers. Der hatte nämlich nicht im Vertrag, schwere Dinge zu tun, zum Beispiel eine Leiche zu schleppen (es geht um den Leichnam des jungen Kollegen aus Dublin, von dessen Witwe später zu erfahren, dass er schwul gewesen sei und dass sie nur geheiratet hätten, um die Aufenthaltsbewilligung für sie zu erhalten, denn sie kommt aus Serbien oder aus Kroatien, das kann man in Irland auch nicht so ganz unterscheiden).

Fucking rude ist das alles.
Boyle gönnt sich auch mal einen freien Tag. Da ist er in Zivil. Das erstaunt den schwarzen Kollegen vom FBI einigermaßen, weil man doch einem ganz großen Ding auf der Spur sei, Wert: eine halbe Milliarde (wars dann doch nicht ganz). Boyle leistet sich für seinen freien Tag zwei Nutten, die in Hostessenkostümen antanzen. Die Nutten waren jedoch von den Dealern engagiert und sollen Boyle erpressen

Weitere rassistische Vorurteile: Schwarze können nicht Skifahren.

Auch die Dealer geben uns zu verstehen, wie anstrengend doch ihr Leben sei, wie sie immer aufpassen müssen. Das ist auch so eine komische Ader in diesem herrlichen Film, weil ja auch Boyle dasselbe tut. Keiner hats leicht auf dieser Welt und erst recht nicht in Irland.

Wie Boyle übrigens in seiner Wohnung von Lear mit der Pistole empfangen wird, ist auch eine solche Szene, wie er erst an der Hose kratzt, weil er sich bei den Nutten was geholt habe und wie er dann nach und nach seine Pistole aus der Unterhose rausarbeitet und seinen Gegner erschießt. Dann telefoniert er mit dem FBIler, er habe den erschossen, muss aber erst nochmal nachschauen, ob dem so sei.

Der Tod der Mutter von Boyle gibt Anlass für weitere gallige Kommentare.

Diese Autarkie, diese Autonomie, dieses Aus-sich-selbst-heraus-Agieren, das dürfte es sein, was Boyle so interessant macht, auch wenn man merkt, dass es vermutlich längst Masche ist.
Dumb oder smart, das ist die Frage bei Sergeant Gerry Boyle.
Und die Antwort wäre? Unter der dummen Maske, unter der rassistischen Maske, hm, ganz clever.
Vielleicht ein entfernter irischer Verwandter von unserem Gerhard Polt?
Buch und Regie stammen von John Michael McDonagh.

Go ahead, make my day.