Das kleine Zimmer ist ein Kinderzimmer und, soviel darf ausgeplaudert werden, das Kind, das darin wohnen sollte, ist tot. Dieses kleine Zimmer ist im Film der Ort, an dem die zwei Geschichten, die er miteinander verwebt, am heftigsten zur Reaktion kommen. Autorinnen und Regisseurinnen sind Stéphanie Chuat und Véronique Reymond.
Die erste Geschichte ist die von Rose. Sie ist Altenpflegerin. Wir lernen sie kennen wie sie einen alten Körper schonend mit Salbe einreibt, wie sie eine Frau Rivelli behandelt. Rose lebt mit ihrem Mann Marc zusammen, er begeht relativ früh im Film das Sakrileg, im kleinen Zimmer eine Glühbirne, die in der Küche ersetzt werden muss, abzuschrauben. Marc arbeitet in einem Design-Bureau in Lausanne. Die sind gerade dabei, in New York einen begehrten Auftrag zu gewinnen, womit sich für ihn die Frage stellt, hingehen oder nicht. Seit das Kind gestorben ist, ist die Freude aus dem Leben des jungen Paares verschwunden.
Die andere Geschichte ist die von Edmond, dem Greis, gespielt vom großartigen Michael Bouquet, vielleicht einem der strahlendsten und listigsten Greise der Filmgeschichte. Sein Sohn, der nach Chicago ziehen wird, will den Vater ins Altenheim bugsieren. Vater und Sohn fahren dem Genfer See entlang, der Sohn am Steuer, so fängt der Film an. Beim Altenheim angekommen verschließt Edmond bockig das Auto von innen. Er hört klassische Musik und die fndet er „beau“, schön. Überhaupt hat er so seine Lebenseinstellung.
Die beiden Geschichten treffen im Altenheim zum ersten Mal aufeinander. Rose pflegt Edmond und möchte ihm das Leben verlängern. Diese Idee pariert Edmond mit der Gegenfrage, ob sie denn glaube, so ein Altenleben sei ein schönes Leben und überhaupt, ob sie denn ein schönes Leben habe. Hat sie natürlich nicht, denn Colin, ihr Bub, hatte schon vor der Geburt eine Herzinsuffizienz und ist noch im Mutterleib gestorben. Darüber kommt Rose nicht hinweg. Überhaupt das Herz. Daran leiden sie alle in diesem Film. Auch psychische Herzinsuffizienz könnte man sagen.
Edmond wehrt sich energisch und mit Intelligenz gegen sein Leben im Altenheim. Rose kriegt das ab. Sie versucht zwar, Monsieur Berthoud, das ist der Familienname von Edmond, zum Essen zu verleiten mit dem vorbereiteten „Fraß“, von dem sie behauptet, den würden viele andere auch essen. Edmond: „Wenn Sie mit mir essen, ess ich auch“.
Die Geschichten vermengen sich dann zusehends, wie der Sohn von Edmond eines Tages die Wohnung seines Vaters einfach hat ausräumen lassen. Da steht er nun, und will partout nicht ins Heim zurück, wohin der Sohn ihn verfrachtet hat. Rose erbarmt sich seiner und nimmt ihn bei sich auf. Hier kommt das für Colin vorbereitete Kinderzimmer ins Spiel, das nie benutzt wurde, und für Rose eine Art Heiligtum darstellt. Es wird zum Nukleus, in dem die Geschichten sich verschmelzen, aufeinander reagieren und sich vorwärts treiben, ganz nebenei gesagt in einer Grauzone am Rande der Legalität, in einem Mischgebiet von Alltag und Wahnsinn. Und auf die Frage, was Edmond denn mache, wenn im Heim rauskommt, was er mache, antwortet er schlagfertig: „dann bekomme ich vielleicht drei Wochen keinen Dessert.“
Eine sentimentale Geschichte, aber vollkommen unsentimental erzählt; eine realistische Geschichte, puh, Realismus, aber immer an der nicht sicht- aber spürbaren Grenze zum Wahnsinn. Und wie Edmond sich auf Les Diablerets vor dem großartigen Schweizer Alpenpanorama aus der Geschichte verabschiedet, seiner Frau gedenkend, die schon vierzig Jahre früher dort ihr Leben verloren hat!
Das ist vielleicht die Spanne in diesem Film: Alltag einer Altenpflegerin, Alltag von Designern und Müttern, Alltag von Alten, alles nicht sehr erbaulich, alles nicht sehr erfreulich; ab und an mal kurz der aufgewühlt wellende Genfer See und gegen Ende diese Fahrt erst mit der Bahn, dann mit der waghalsig gehängten Seilbahn auf den kühnen, schneeigen Felsbrocken Les Diablerets. Für Rose, gespielt von Florence Loiret-Caille, sind das nur Steine, sie kann der Großartigkeit der Natur nichts abgewinnen. Während sie für den entlaufenen Greis Edmond ein Stück seiner Geschichte darstellen, seine Frau ist dort vor 40 Jahren gestorben. In einer eindrücklichen Szene, steigt er die Stufen zum Gipfel hinan, wie er dies tut, Schritt um Schritt, leicht schwankend, den linken Arm fast wie steif sich auf den Schirm stützend, den er dann in den Schnee steckt, das will einem schier den Atem zum Stocken bringen. Eine physische Anstrengung, zu der er vielleicht rein naturwissenschaftlich-medizinisch gar nicht mehr in der Lage wäre, wozu er sich aber als Urschauspieler, kaum steht er vor einer Kamera noch aufschwingen kann – ganz ähnlich sein fast tänzerischer Gang auf dem Weg zum Grab von Colin. Auf Les Diablerets also, da steht er dann, schaut in die Ferne, geht einen Schritt in Richtung Schnee und den Rest kann man sich denken. Das prosaische Gegenstück zu dieser eindrücklichen Höhenszene, das irdische sozusagen, bietet Rose, die immer noch jammert, dass sie das Kind verloren hat.
Das hat mir an diesem Film so besonders gefallen, diese Spanne zwischen Alltäglichkeit und dem Sich-Aufbäumen dagegen, zwischen dem bedrückten Herzen und dem, das sich erhebt. Gewiss eine sentimentale Geschichte, aber so frappierend nüchtern erzählt.