Wetten auf ein Kind?
Das wäre zynisch. So hatte Richard Linklater sein Projekt, das nicht von Anfang an auf 12 Jahre angelegt war, nicht angedacht. Wie will man schon bei einem 6-jährigen Jungen wissen, ob er 12 Jahre später, mit 18, zum Film noch was taugt?
Auf 12 Jahre ist die Produktion angewachsen. Jedes Jahr hat Linklater die Geschichte der Jugend der fiktionalen Figur Mason mittels einiger Drehtage weitergesponnen.
Vom Buben zum Studenten, vom Buben zum jungen Mann. Real-Life-Input sozusagen. Wir können hier einem Menschen beim Heranwachsen förmlich zusehen. Und das fast drei Stunden lang. Das dürfte der alles andere übertönende Reiz dieses Filmprojektes sein. Dem haftet durchaus etwas Voyeuristisch-Makabres, etwas Gruseliges an, zu schauen, wie die Zeit vergeht, die Kindheit vergeht, wie nichts bleibt. Wie absehbar das in der Rückschau wirken mag.
Die Szenen selbst, die zu sehen sind, sind typische und oft gezeigte Filmszenen was Jugend und Heranwachsen, was Familienleben für den Film hergeben; das Leben besteht aus Alltagsbewältigung. Vom Buben, der dem Vater seine Schätze zeigt, der mit seiner älteren Schwester ständig im Clinch liegt, der mit dem biologischen Vater einen Ausflug mit Camping und Schwimmen und Fischbraten am offenen Feuer unternimmt, der in Konflikt mit einem seiner zahlreichen Stiefväter gerät, der Jugendparties feiert, erste Küsse, der Auto fährt, von zuhause auszieht in eine Studentenbude, damit endet der Film.
Kaum ist Mason im Dorm eingezogen, schleppt ihn sein Mitbewohner mit zwei Frauen in eine schöne, bergsteppenähnliche Landschaft hinaus. Da verstärkt sich der Eindruck, fühlt sich dieser Darsteller, der als 6-jähriger Bub mit dieser Episodenfilmerei angefangen hat, die ein anderes Leben als seines darstellt, überhaupt wohl? Vielleicht kein Zufall, dass im Film sein Hobby die Fotografie wird, dass er ersten Erfolg bei einer Ausstellung hat und ein Stipendium gewinnt, obwohl der Irak-Veteran von Stiefvater ihm knallhart vorrechnet, dass das kein seriöser Gelderwerb werden kann.
Auch die Frage, können Fotografen als Hauptfigur in einem Film überhaupt interessant sein. Es gibt ein Beispiel, das die Behauptung bestätigt, „Blow Up“ von Antonioni. Aber hier entsteht der Eindruck eines Fotografen, der lieber schaut, sieht und knipst als dass er gesehen und fotografiert wird. Das meinte ich mit „Wetten auf ein Kind“. Warum mir der Film zusehends zäh vorkam, besonders wenn ausgiebig der Highschool-Abschluss in der neuen Patchwork-Familie gefeiert wird. Vielleicht wird da klar, warum es sogar klug gewesen wäre, so eine Wette abzuschließen, also der Autor mit sich selber. Weil mir so die Dokumentation mehr gut gemeint vorkommt, und prima Schauspieler hat der Linklater allemal und gut spielen tun sie bei ihm auch; warum mich der Film aber nicht so mitgerissen hat wie beispielsweise Linklaters „Before“-Trilogie (Sunrise, Sunset, Midnight) in der ein Ehekonflikt im Abstand von jeweils zehn Jahren fortgeführt wurde.
Hier aber fehlt ein Konflikt. Es fehlt eine Charakteranalyse des Buben. Die einen Spannungsbogen ergeben hätte. Wie kommt ein so und so charakterisierter Junge mit allen absehbar auf ihn zukommenden Situationen von Kindheit und Jugend zurecht? Ohne diese Voraussetzung hält einzig die voyeuristisch biologische Neugier am Alterungsprozess den Zuschauer bei der Stange, pikant, pikant, wie die Haare länger werden, erzwungener Kurzhaarschnitt, Harry-Potter-Phase, Akne hatte er nie, erster Flaum an der Oberlippe, einige Barthaare am Kinn, Stimmbruch und ganz knappe Sprache, dann die Ohrringe, deren Loch sich ins Extreme weitet oder gar lackierte Fingernägel, hineinwachsen in die Jugendkultur, Künstlermähne, aber auch dieses Interesse war von Linlater nicht sein explizites Forschungsinteresse, ihn interessierte das grobmaschige Thema Kindheit, das er in die Adoleszenz (und die entsprechenden, aufklärerischen Gespräche mit den Eltern) weiter entwickelte.
Wobei die Mutterfigur mit ihren Wandlungen fast mehr interessiert mit ihrer Unsicherheit Männern gegenüber und wie schnell sie wieder mit einem neuen anbandelt, mit einem Professor, der sich bald schon als tobsüchtiger Alkoholiker entpuppt, und dann mit dem Irakkriegsveteran und schon wieder mit dem nächsten, und wie sie in eine merkwüdige Krise schlittert, wie die Kinder ausziehen und sie die Gegenstände ihrer Vergangenheit entrümpelt. Patricia Arquette ist fantastich über die 12 Jahre und Männer und Berufsstationen und Häuser hinweg. Ebenso der biologische Vater von Mason und ihr erster Ehemann, Ethan Hawk; der aber bleibt konstant eine leichtfüßige Figur, liebt die Musik, spielt Gitarre, ist eher der Abenteuertyp als der solide Familienvater.
Vielleicht sollte Linklater es noch mit einer auf 90 Minuten reduzierten Kurzfassung versuchen.
Irgendwie klebt mir Linklater mit den Szenen zu sehr an der Alltäglichkeit des Lebens.
Interessiern würde jetzt eine Vertiefung von Masons Äußerung, er sei mit seinem Gefühlsleben wohl genau so konfus oder irritiert wie seine Mutter.
Große Grundglaubwürdigkeit der Figuren durch ihr Spiel.
So ein Film erscheint mir wie die Vivisektion eines Heranwachsenden, eines Wachstumsprozesses. Ein delikates Unterfangen. Vor lauter Respekt davor, soll man trotzdem den kritischen Blick nicht verlieren, denn so richtig spannend ist der Film nicht. Siehe weiter oben.