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Antebellum (DVD)

Generationentraumata.

Drei neuere Filme zum Thema der Schwarzenemanzipation in den USA. Steve McQueen schildert in Harriet, der Weg in die Freiheit einen Meilenstein zur Zeit, als in manchen Staaten der USA noch Sklaverei herrschte, Queen & Slim beobachtet den heutigen Rassimus in den USA und Jean Seberg wirft einen peripheren Blick über die berühmte Schauspielerin auf die Black-Panther-Bewegung in den 70ern des letzten Jahrhundert. Die Reihe könnte beliebig fortgesetzt werden.

Im Gegensatz zu all diesen Film behandeln Gerard Bush und Christopher Renz das generationenübergreifende Trauma von Sklaverei, Diskrimierung und Unterdrückung, ein deutlich komplexerer Ansatz. 

Dieser Ansatz wird gleich zu Beginn des Filmes explizit mit einem Faulkner-Zitat (das innerhalb des Filmes nochmal vorkommt) angekündigt: „Die Vergangenheit ist niemals tot, sie ist nicht mal vergangen“. 

Die Hauptfigur im Heute-Teil des Filmes ist Veronica (Janelle Monáe in der brillanten Doppelrolle auch als Eden). Sie ist eine auch in den Medien erfolgreiche Professorin für US-Verfassungsgeschichte und einer ihrer Schwerpunkte ist die Revolution der historischen Marginalisierung der Schwarzen oder auch der Exorzismus der latenten Vergangenheit. 

In Veronica kämpft das Blut ihrer Vorfahrin im Geiste, Eden, einem Sklavenmädchen, das zur Zeit des Civil War auf einer Sklavenplantage der Konföderierten brutal ausgebeutet und missbraucht wird und die ständig überlegt, wie dem Elend zu entkommen. 

Diese Civil-War-Phase des Filmes wird eindringlich theatralisch inszeniert und gespielt. Dazu gibt es am Schluss auch eine Erklärung, die möglicherweise den Nexus zwischen Vergangenheit und Gegenwart qua Ratio erklärbar machen möchte; was mir nicht unbedingt erforderlich scheint, da es sich um generationenübergreifende Gespenster, Traumata handelt, die sich just rationaler Behandlung entziehen. 

Veronica ist verheiratet, eleganter Mann, aufgewecktes Töchterchen „Kennedy“. Mama muss auf Vortragsreise. Sie übernachtet in der Luxus-Suite eines Luxus-Hotels. Hier wird sie vom Trauma „Eden“ heimgesucht. Wie sie mit einer Freundin und einer Bekannten ausgehen will, wird ihnen im Restaurant ein Katzentisch zugewiesen. Aber auch eine „Headhunterin“, eine Weiße stalkt Veronica brutal. Der Vergangenheit als Schwarzer ist nicht zu entkommen. 

Dem Film gelingt es eindringlich, dieses eingefleischte Gespenst generationenübergreifender Rassenvorurteile und Missachtungen darzustellen und damit dem Faulkner-Satz schmerzhafte Wahrhaftigkeit zu verleihen; wie leicht es dem einen Menschen offenbar fällt, dem anderen, der nicht genau so aussieht wie er oder nicht genau so ist, Verachtung zu zeigen, ihn als nicht gleichwertig zu behandeln. Oder, wie es im Film heißt: Die unbewältigte Vergangenheit richtet Chaos in der Gegenwart an“. 

Das Glück ist ein Vogerl (ARD, Mittwoch, 16. Dezember 2020, 20.15 Uhr)

Glücksplätzchen

Wer verbreiten will, dass Glück – zu Weihnachten im Fernsehen – als frohe Botschaft möglich ist, der muss zuerst das Unglück oder die Abwesenheit oder den Verlust von Glück schildern und dann Dinge eintreten lassen, die das Glück wieder herstellen, am besten als Apotheose mit viel Applaus und strahlenden Gesichtern. 

So halten es Catalina Molina als Regissuerin und Ingrid Kaltenegger als Autorin, die mit Christiane Kalls das Drehbuch nach ihrem eigenen Buch verfasst hat. Daraus ist herzallerliebste Fernsehzuckerplätzchenbäckerei geworden nach Hausfrauenart und mit herzallerliebst aufspielenden Darstellern.

Franz Brandstetter (Simon Schwarz) ist Lehrer und in der Mid-Life-Crisis. Er leidet darunter, dass er nicht Rockstar geworden ist, der sich in die Zuschauermenge wirft. Er ist verheiratet mit Linn (Patricia Aulitzky), der er schon jahrelang immer zum Geburtstag ein Wochenende zu Zweit, mit der Absicht der Wiederbelebung von Liebe und Zuneigung schenkt, nie aber Zeit zur Realisierung hat. 

Franz und Linn nehmen zwar am Befreiungsseminaren eines Glücksgurus (Stipe Erceg) teil; aber wenn die nötige Offenheit dafür nicht da ist, dann wird das Glück nie abheben oder angeflogen kommen wie ein Vogerl. 

In dieser Situation wird Franz Zeuge eines Unfalls mit einem Toten. Es ist dies Egon, Nikolaus Paryla, ein markanter Zimtstern für jedes Weihnachtsgebäck. Er ist in einem Schrottauto auf dem Weg zu seiner unerfüllten Jugendliebe Mali. Ein Zeitungsbericht über ihren Geburtstag verrät ihren Aufenthalt – auf Plausibilität von solchen Gebäckzutaten muss hier nicht viel Wert gelegt werden, so lange es zuckrig bleibt. 

Die große Waltraut Haas darf als Mali eine Komapatientin mimen, selbst das gelingt ihr eindrücklich. Franz ist Zeuge geworden des Unfalls, bei dem Egon ins Jenseits befördert wurde, und da es sich um eine Weihnachtsgeschichte handelt, – denn Franz hat dem baldigen Opfer das Einfädeln verwehrt – erscheint dieser fortan als Geist, den nur er sieht und der ihn auf seinem Weg zum Glück berät, ein schönes dramaturgisches Mittel zur Verfeinerung des Fernseh-Weihnachtsgebäcks. 

Zu einer schönen Weihnachtsgeschichte gehören immer auch mehrere Generationen. So bekommen junge Talente ihren Auftritt bei der Suche nach ihrem ersten Glück. Es sind dies Julie (Lucy Gartner); bei ihr verursacht ausgerechnet Johannes (Lino Gaier) Schmetterlinge im Bauch, ein von ihrem Vater gemobbter Schüler. Aber nicht genug, dessen Mutter wird auch noch ihren Vater psychologisch beraten. 

Zum konstruierten Glück gehört auch, dass Franz über die fesche Krankenschwester Tessa (Julia Edtmeier), die Mali betreut, Kontakt zu einer Rockband bekommt und dort einspringen soll. Die Damen Kaltenegger, Kalss und Molina haben nicht gespart an Rührstoff, Zucker und Kalorien, um nahrhafte Plätzchen fürs Weihnachtsfernsehen herzustellen. Die Schauspieler spielen wie im Glühweinrausch und die Frauen sind hübsch aufgemacht, selbst im Koma.

Irreversibel Straight Cut (DVD)

Liebe und Abgründe.

Nach wilden Titeln und Kameraspielereien folgt eine ausgiebige Liebesszene mit zwei nackten Hauptdarstellern, es sind dies Monica Bellucci als Alex und Vincent Cassel als Marcus. Sie sind jung, verspielt. 

Die Szenen wurden 2002 gedreht von Gaspar Noé. Sie sind Teil des Filmes Irreversibel. Noé hat den Film, der in langen Sequenzen und mit ganz wenigen Schnitten auskommt und damals in Cannes bei der Uraufführung schockiert haben soll, neu zusammenmonitert. 

Beide Fassungen, was hochspannend ist zu vergleichen, erscheinen jetzt als DVD mit Trailer und Zusatzmaterial, Statements der Beteiligten, aus denen hervorgeht, dass das damals ein sehr spontaner Film war, wie er heute wohl kaum mehr gemacht werden könnte. Es gab nur ein enges Zeitfenster, in dem das Hauptdarstellertrio, mit Albert Dupontel als drittem im Bunde, drehen konnten. 

Es gab kaum Budget, kaum Drehbuch. Desto wilder hängt sich die Kamera rein, will sich nichts entgehen lassen, von den Aufregungen der Szenen, die zwischen flapsiger Liebeständelei, wie hier in der ersten Szene (eigentlich müsste er aufstehen, aber kommt doch nicht los von ihr) und Party, Aufputschmitteln bis hin zu ausgiebigster Brutalität, Gewalt und Vergewaltigung hin und her pendeln. 

Es ist ein Kino, das Gegenwart als etwas Kostbares sieht, das sich von der Gegenwart und Gegenwärtigkeit der Darsteller und ihren Beziehungen kaum trennen kann und trotzdem nie in öden TV-Realismus verfällt, das gerne bis ans Zahnfleisch des Existentialismus geht. 

Ein Kino, das durchgehend lust-, erotik-, sex-, exzess-, rausch- und gewaltgeschwängert ist und trotzdem das Leben farbig und bunt sieht. 

Marcus hat in der ersten Szene, und das zeigt auch schön, wie hier so ein Halbernst an Liebeständelei stattfindet, Probleme mit dem rechten Arm oder der Hand, immer wieder versucht er die Finger zu spreizen. Später wird klar, dass der Hintergrund alles andere als harmlos ist. Zumindest sehe ich das als eine interne Storyverschränkung, die im Widerspruch zum „straight“ Cut stehen könnte.

Überhaupt enthüllt der Film wie beim Schälen einer Zwiebel nach und nach Hintergründe zu dieser anfangs zwar spannenden aber alles andere als tiefgründigen oder dramatischen Liebesszene, an deren Ende die Frau gedankenverloren einen Schwangerschaftstest machen wird. 

Dieser nicht so ganz tierisches Liebesernst, vielleicht mehr Körper, die nicht voneinander loskommen, wird in weiteren Szenen ausgeweitet auf das Partyleben, bei dem nichts als Anmache in der Luft liegt, auch hier eher die Leichtigkeit erträumten Liebeslebens; wobei es Gründe gibt für Alex, die Party dann doch zu verlassen. 

Dann kommt es erst dicke und exzessiv: die Vergewaltigung, die löst eine weitere Kette selbstjustizlerischer Gewalttaten aus. Das sozusagen rückblickend erzählt. Im Nachhinein von da dann wieder nach vorne geschaut, beleuchtet die ausgiebige anfängliche Liebesszene in einem ganz anderen Licht, fast möchte man es kaum mehr glauben. 

Der Film ist ein rauschhafter Trip durch extreme Gemengelagen in der Umgebung des Phänomens körperlicher Liebe im menschlichen Leben, im Sinne von: über Sex kann man nicht sprechen, man kann nicht alles erklären oder „Es gibt keine Untaten“, man muss leben. 

Irreversibel (DVD)

Egal wie Gaspard Noe seinen Film erzählt, ob von hinten nach vorn wie hier anno 2002 oder straight wie 2020 in, IRREVERSIBLE STRAIGHT CUT, der Zuschauer baut sich so oder so sein Bild zusammen. 

Es gibt einen Test, bei welchem die Buchstabenfolgen in einem Wort verändert werden und trotzdem kommt der geübte Leser mit großer Selbstverständlicheit auf den genormten Content. So könnte es bei Noé sein, ein Input linguistischen Kinos gewissermaßen. Noé spielt mit der Schreibweise der Wörter schon im Titel, dreht Buchstaben und Buchstabenfolgen um, verfremdet das Optische, was am Inhalt nichts ändert. 

Und so ist es auch mit diesem Film, es dürfte sogar keine Rolle spielen, welchen von beiden man zuerst schaut, es ist schließlich das gleiche Footage, lange durchgespielte Szenen aber in der hier vorliegenden Originalfassung von hinten her erzählt. 

Wobei auch die neue „straight“-Fassung einen nicht daran hindert, den Film nicht primär als eine quasireale dramatische Begebenheit zu verstehen wie eine Geschichte von A nach B, sondern viel mehr ihn als eine Entblätterung, Aufblätterung extremer Möglichkeiten in der Beziehung zwischen den Geschlechtern zu sehen.

Diese Vorgehensweise des Auseinanderzupfens erinnert an das Bild von Nikolaus von Cues von den beiden ineinenader gebauten Pyramiden, bei denen je in der Spitze schon die konträre Basis enthalten ist und umgekehrt, das Einzelne im Gesamten. Also hier in dem friedlichsten Miteinander, in der albernsten Sorglosigkeit, in der aufgekratzen Erotikatmosphäre immer schon der Ernst, ja die Gewalttat, die Hemmungslosigkeit des Triebes mitschwingen. 

Enthüllungsarbeit, die der Zuschauer leistet. Ein so geforderter Zuschauer hat mehr von einem Film als von einem, der ihm alles Buchstaben für Buchstaben vorkaut, „erklärt“, so wie Alex es über den Sex behauptet, dass man nicht alles sagen könne. 

Und daneben kurz die bürgerliche Bemessungsschablone, dass manche Dinge Untaten seien; das wird von zwei älteren Herren in einem Zimmer über der Schwulen-Disco ‚Rectum‘ philosophisch behandelt, es gebe nur Taten, das Wort Untaten sei dumm. So ist auch dieser Film eine Tat, über die man sich trefflich unterhalten kann. Die lebensversessene Kamera trägt das ihre dazu bei, dass es sich um eine schillernde Kinotat handelt. 

Türchen, Türchen

Türchen, Türchen öffne Dich, wer ist die Schönste im ganzen Land, oh, nein, falsche Baustelle, es ist Advent, in jedem Fenster ein Kerzlein brennt, Zeit für Adventskalender, Zeit für tägliche Überraschungen und es herrscht Kinoverbot im Lande. 

Aber das Kino lässt sich nicht unterkriegen, aus allen möglichen Spalten und Netztteilen lugt es heraus, spricht uns an. X-Filme hat seit erstem Dezember den Adventskalender 2020 hamlet_X von Herbert Fritsch online.

Herbert Fritsch persönlich, ein sympathischer, älterer Herr, hat die erste Kerze in einem kleinen Video angezündet. 

Egal, ob man die Aktivitäten von Herbert Fritsch kennt oder nicht. Er hat sei Januar 2001 Kurzszenen inszeniert und verfilmt in einer „smarten Kreuzung zwischen Monumentalfilm in gigantischer Besetzung und Low-Budget-Projekt“ (aus dem Werbetext von X_Film). 

Der Geist Hamlets habe sich in die Filme reingeschlichen. Jeden Tag gibt es einen neuen Clip. 

Am zweiten Dezember kämpft Christoph Schlingensief sich ab in einem Parforceritt zwischen Gynäkologen-Besteck, Ophelia und Hamlet. 

Vielleicht könnte man die Methode des Herangehens an so einen klassischen Stoff mit Destruktion im Sinne eine Neukomposition beschreiben, um die Kunst vorm Risiko des Ausleierns und des Erstarrens im Gebetsmühlenhaften zu bewahren.

Die Reihe der Filme von Herbert Fritsch sei noch nicht abgeschlossen. Aber die kurzen, anregenden, vielleicht auch verstörenden, manchmal womöglich auf Anhieb nicht gleich entzifferbaren Einblicke durch die Türchen des Adventskalenders dürfte mit Heilig Abend vorerst zu Ende sein. Dann fangen die Tage wieder an, länger zu werden. 

Eine Geschichte von drei Schwestern (Grandfilm on Demand)

Emin Alper benutzt in seinem neuesten Meisterwerk die Abwesenheit eines jeglichen modernen Ablenkungsfirlefanzes in einem Dorf weit hinten in Anatolien, um am Beispiel von drei Schwestern und einem Dorftrottel nur umso radikaler und klarsichtiger sich die condition humaine vorzuknüpfen. Siehe die Review von stefe.