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Undressed

Die Augen nicht loslassen können

Das wird hier wie ein Naturereignis zelebriert, wie die Protagonistin Elle (Lena Meckel) das erste Mal Ben (Malik Blumenthal) in die Augen schaut und vice versa.

Es ist nicht eine Amour fou, die der Film von Tim Trachte (Dem Horizont so nah) nach dem Drehbuch von Stefanie Sycholt schildert. Es könnte eher ein Rettungsring sein und mehr als nur ein Abenteuer aus Leichtsinnigkeit. Oder ein erotischer Stachel der Sonderklasse.

Elle hat gerade die Textilfirma von ihrer Oma Margot (Brigitte Karner) übernommen. Sie ist zurückgekehrt von einem Auslandsaufenthalt in Paris. Sie ist verlobt mit dem smarten Thilo (Gerrit Klein), der auch in das Geschäft involviert ist. Gegen diesen doch irgendwie farblosen Geschäftsmann ist Ben wie eine Sensation: er ist muskulös, er liest philosophische Bücher (Leibniz kommt vor) und, was ihn noch spannender macht, er hat im Knast gesessen.

Aber Ben ist ein Nichts, wie er behandelt wird. Er ist nicht die Gesellschaftsschicht der Geschäftsleute. Er hängt verloren in der Welt, hat ein trauriges Schicksal. Er jobbt als Security. So ein Pfund kann ein Film natürlich nicht verschenken.

Das Drehbuch steckt ihn in nächste und intimste Nähe zu Elle. Er soll die Oma bewachen. Sie wohnt im selben Bungalow-Anwesen wie Elle. Es gibt Durchblicke von diesem zu jenem Zimmer, ja gar zu einem Pool, der zu einer finnischen Sauna gehören könnte, wo bekanntlich nackt gebadet wird.

Der Film wird als Erotik-Thriller beworben. So gibt es viel nacktes Fleisch zu sehen, aber auch feine Dessous, hübsche Kleidung und genügend Soft-Liebesszenen. Besonders diese werden in eine weiche Wolke voluminöser Orchestermusik getaucht.

Verwunderlich ist allerdings, dass Elle bei der Übergabe des Geschäftes nicht die ganze Wahrheit über den Istzustand, über Verpflichtungen und Abhängigkeiten der Firma erfahren hat. Da bleibt einiges im Dunkeln, ja es werden mehr an Machenschaften an den Tag kommen. Es wird sich als plausibel herausstellen, dass ein Sicherheitsdienst nötig ist. Es gibt Drohungen in Form von blutverschmierten Textilien und wie später eine Pistole ins Spiel kommt, darf davon ausgegangen werden, dass diese nicht nur als Deko eingesetzt wird.

Die Herrschaften sollten halt besser die Hände vom Personal lassen und wenn schon gekämpft wird, dann, so ein Bonmot, besser für als gegen etwas. Oder: jeder müsse in einem Clan seine Rolle spielen.

Undressed

Die Augen nicht loslassen können

Das wird hier wie ein Naturereignis zelebriert, wie die Protagonistin Elle (Lena Meckel) das erste Mal Ben (Malik Blumenthal) in die Augen schaut und vice versa.

Es ist nicht eine Amour fou, die der Film von Tim Trachte (Dem Horizont so nah) nach dem Drehbuch von Stefanie Sycholt schildert. Es könnte eher ein Rettungsring sein und mehr als nur ein Abenteuer aus Leichtsinnigkeit. Oder ein erotischer Stachel der Sonderklasse.

Elle hat gerade die Textilfirma von ihrer Oma Margot (Brigitte Karner) übernommen. Sie ist zurückgekehrt von einem Auslandsaufenthalt in Paris. Sie ist verlobt mit dem smarten Thilo (Gerrit Klein), der auch in das Geschäft involviert ist. Gegen diesen doch irgendwie farblosen Geschäftsmann ist Ben wie eine Sensation: er ist muskulös, er liest philosophische Bücher (Leibniz kommt vor) und, was ihn noch spannender macht, er hat im Knast gesessen.

Aber Ben ist ein Nichts, wie er behandelt wird. Er ist nicht die Gesellschaftsschicht der Geschäftsleute. Er hängt verloren in der Welt, hat ein trauriges Schicksal. Er jobbt als Security. So ein Pfund kann ein Film natürlich nicht verschenken.

Das Drehbuch steckt ihn in nächste und intimste Nähe zu Elle. Er soll die Oma bewachen. Sie wohnt im selben Bungalow-Anwesen wie Elle. Es gibt Durchblicke von diesem zu jenem Zimmer, ja gar zu einem Pool, der zu einer finnischen Sauna gehören könnte, wo bekanntlich nackt gebadet wird.

Der Film wird als Erotik-Thriller beworben. So gibt es viel nacktes Fleisch zu sehen, aber auch feine Dessous, hübsche Kleidung und genügend Soft-Liebesszenen. Besonders diese werden in eine weiche Wolke voluminöser Orchestermusik getaucht.

Verwunderlich ist allerdings, dass Elle bei der Übergabe des Geschäftes nicht die ganze Wahrheit über den Istzustand, über Verpflichtungen und Abhängigkeiten der Firma erfahren hat. Da bleibt einiges im Dunkeln, ja es werden mehr an Machenschaften an den Tag kommen. Es wird sich als plausibel herausstellen, dass ein Sicherheitsdienst nötig ist. Es gibt Drohungen in Form von blutverschmierten Textilien und wie später eine Pistole ins Spiel kommt, darf davon ausgegangen werden, dass diese nicht nur als Deko eingesetzt wird.

Die Herrschaften sollten halt besser die Hände vom Personal lassen und wenn schon gekämpft wird, dann, so ein Bonmot, besser für als gegen etwas. Oder: jeder müsse in einem Clan seine Rolle spielen.

The Last Journey – Die letzte Reise der Menschheit (Stream)

Romantische Dystopie

so romantisch, so dystopisch, so herzerwärmend menschlich und das Drama am Schluss wird leicht gemacht mit einem Chanson „Gute Reise“.

Der Film von Romain Quirot könnte direkt aus den 70ern stammen, aus dem New Hollywood oder dem italienischen Giallo-Feld. Aber die Kommunikations- und Überwachungstechnik ist hochmodern und funktioniert zudem in einer Welt, in der Paris und der Eiffelturm in Trümmern liegen.

Die Fernkommunikation passiert per Holograumm. Die Überwachung ist raffiniert und allgegenwärtig. Noch in der entlegensten, filmgroßartigen Wüste tauchen mit Kameras bewehrte mechanische Spinnen auf und rollen sich zur Flucht zu Bällen zusammen.

Drohnen so groß wie ein Tennisball tauchen aus dem Nichts auf und beängstigen die Flüchtigen. Es sind dies das unfreiwillige Road-Movie-Team Paul (Hugo Becker) und die kindlich-wunderäugige Elma (Lya Oussaidit-Lessert).

Elma hat in einem einfachen Kiosk von verblichenem Charme in der Wüste gearbeitet. Der untergetauchte Hugo erscheint auf seiner Flucht bei ihr und möchte den Treibstoff Lumina nachbestellen für seine alte, räderlose Schrottkarre, die er in Paris im Schwarz- und Untergrundhandel erworben hat.

Zur der Zeit wird Paul längst über die Medien gesucht. Er ist der einzige Astronaut, der die Erde vor dem roten Mond beschützen, diesen unschädlich machen kann. Denn die Menschen, Thema Ausbeutung der Natur, haben auf dem roten Mond das kostbare Lumina abgebaut. Der rote Mond droht auf die Erde zu stürzen.

Paul ist der einzige, der dessen Schutzschirm durchdringen und somit die Erde retten kann. Aber er schleicht sich davon, drückt sich vor der Verantwortung.

Die Geschichte hat einen familiären Hintergrund. Dieser wird in Schwarz-Weiß-Vergangenheit erzählt. Paul hat einen Bruder, Elliott (als Erwachsener Paul Hamy), der sich immer zurückgesetzt gefühlt hat. Der mit einer natürlichen Autorität ausgestattete Jean Reno ist der Vater. Von seinem Kontrollzentrum aus versucht er, Paul mit Hilfe des ihm auf die Fersen geschickten Elliott zu finden.

Das Zusammenspiel von berührenden menschlichen Begegnungen einerseits, der romantisch gemalten dystopischen Zerfallswelt mit intakter Drahtlos-Kommunikation und den immer wieder drübergelegten leichten Chansons andererseits machen Magie und Zauber dieses Filmes aus. Er spielt „in naher Zukunft“ und es gibt ein „da draußen“ und eine Mauer sowie marsfliegerhaft ausgerüstete Kontrollfiguren.

Teachers for Life – Lernen aus Verbundenheit (Stream)

Pinguin aus Eis

Schüler aus England sollen im Kunstkurs aus einem Eisblock bei nicht allzu kalten Temperaturen einen Pinguin herausschlagen. Eine kitzlige Aufgabe, denn der Eisblock schmilzt bereits, wird dadurch durchsichtig und man muss gut aufpassen, keine zu großen Stücke abzuschlagen. Diese Aufgabe kann symbolisch gelesen werden für die Absicht dieses Filmes von Julian Wildgruber & Kathrin Höckel, der eine Auftragsarbeit für das Institut für Achtsamkeit, Verbundenheit und Engagement ist.

Die Idee ist, dass Schule eben nicht Paukerei sein soll, fachidiotisch Wissensvermittlung, sondern dass dabei immer auch der Mensch gesehen werden soll. Eine Sichtweise, die unmittelbar auf einen achtsamen Umgang mit der Welt allgemein hinweist, auf den Klimawandel, wofür die Pinguin-Eisskulptur-Aufgabe eine fast ironische Symbolik erzeugt.

Die Dokumentaristen haben sich drei Hauptprotagonisten vorgenommen, Lehrer, die über das Fachliche hinaus den Schüler als ganzen Menschen im Blick haben.

Der Lehrer in England nimmt sich nach der Aufgabe, ein Eiskristall zu zeichnen, des einzelnen Schülers an, befragt ihn konkret, was ihn an der Aufgabe, fasziniere, warum er sich wohl oder unwohl fühle dabei.

Auf einer Klassenfahrt in die französischen Alpen erfahren die Jugendlichen direkt, wie der Klimawandel den Gletschern zusetzt; das sei der wahre Klassenraum, heißt es.

In Berlin begleitet das Dokuteam eine junge Frau, die zuerst ihre Lehramtsprüfung ablegt (mit höchster Auszeichnung), lässt sie über das halbe Jahr Leerzeit sprechen, das sie zwischen Prüfung und der ersten Lehreranstellung zu überbrücken hat, wie sie sich dabei für Klimaschutz und Yoga angefangen hat zu interessieren, und dann gibt es noch Einblick in eine Yogastunde mit ihren Schülern, bei der der Prüfungsstress thematisiert wird.

In Frankreich wendet sich der Blick des Filmes auf das berühmte Fußballinstitut, in welchem hoffnungsvolle Nachwuchsfußballer gezielt auf Profikarrieren vorbereitet werden. Der Trainer, der für den Profifußball zu klein war, hat sich seinen eigenen Profitraum mit dieser Position erfüllt. Hier wiederum kümmert sich der Film um einen groß gewachsenen Mohammed, seine mentalen Probleme und ob er wie gewünscht einen Verein findet, der ihn bald schon nimmt.

Living The Light – Robby Müller (Stream)

Die Unsichtbaren 

Kameramänner sind im Film die Unsichtbaren. Nicht die einzigen Unsichtbaren, aber die wichtigsten Unsichtbaren. Es gibt andere wichtige Unsichtbare, das sind die Regisseure. Aber die sind meist viel berühmter; kaum jemand, der einen Film wegen einem Kameramann anschaut, aber wenn Jim Jarmusch als Regisseur firmiert oder Wim Wenders, dann kann das ein Grund sein, ins Kino zu gehen.

Dabei wären diese beiden Regisseuren möglicherweise gar nicht so namhaft, wenn sie nicht den großartigen, kreativen Robby Müller als Kameramann gehabt hätten. 

Licht selber kann man nicht sehen, es wirkt nur in der Reflektion auf Gegenstände, das erklärt einer von Müllers Gaffern an einer Stelle und vielleicht spielt es für die von Müller bevorzugten Zwielicht-Stimmungen eine nicht zu vernachlässigende Rolle, dass er aus Holland kommt und eine Verwandtschaft zur großen holländischen Malerei nicht von der Hand zu weisen ist; in Holland kommen durch die Weite des Landes und das nahe Meer und die Wolken Lichtstimmungen ganz eigen zur Geltung. 

Im Zusammenhang mit dem Licht können auch Fachausdrücke fallen wie Exposure Value, wenn ein ehemaliger Oberbeleuchter von der raffinierten Installation von künstlichem Licht erzählt, oder es kann anekdotisch amüsant werden, wenn es Robby Müller in die gigantische Hollywood-Maschinerie verschlägt und er kurz vor dem Sonnenaufgangsdreh die stundenlang aufgebaute künstliche Beleuchtung für überflüssig erklärt. 

Daraus wird klar, dass ihm der kleine individuelle Film mit einem Auteur weit besser gelegen ist, bei dem sich zwei Kreative wie er viel Spontanes vorbehalten konnten und somit individuell blieben, unverkennbar. 

Der Film von Claire Pijman ist ein ganz persönlicher Nachruf auf den 2018 verstorbenen Kameramann mit berühmten Regisseuren als Talking Heads wie Wim Wenders, Jim Jarmusch, Lars von Trier, Barbet Schroeder oder von Verwandten und ehemaligen Mitarbeitern und auch Ausschnitte aus Interviews mit Müller selber. 

Die Dokumentaristin hatte Zugang zum privaten Filmmaterial von Müller, der in seinem rastlosen Leben aus dem Koffer meist eine Kamera, Film oder Foto, gerne auch Polaroid, in der Hand hatte, um die Hotelzimmer zu filmen, von Fahrzeugen aus seine jeweilige Umgebung; es gibt Making-of-Footage zu sehen und Ausschnitte aus den Filmen, darunter Kultfilme wie Paris-Texas oder Alice in den Städten. 

Dass der Film sehr persönlich ist, zeigt der immer wieder zwischen den Untertiteln eingesetzte Ruf: Camilla! – dass das Privatleben bei einem Leben ständig unterwegs leidet, das verwundert nicht weiter. 

Wurzeln des Überlebens (online-Premiere)

Und im Hintergrund dräut die industrielle Landwirtschaft

und die Chemieindustrie mit ihren Konzernen. 

Aber Betram Verhaag (Drehkonzept und Treatment: Eva Linke) übernimmt in seinem Film gerade nicht die Aggressvität der turbokapitalistischen Landwirtschaft und der Ausbeuterin der Erde, der chemischen Indstustrie. Verhaags Kritik ist sanfter Natur. 

Verhaag lässt kreative Landwirte der unterschiedlichsten Couleurs zu Wort kommen, die nicht nur nicht auf den Kopf gefallen sind, sondern die recht glücklich wirken, nicht gedrückt von einer Schuldenlast sind oder geplagt von ausgelaugten Böden, die der Wind leicht wegbläst oder die schnell das Regenwassser nicht mehr auffangen können, auch kranke Tiere kennen diese Landwirte kaum. Es sind Landwirte, die hinter das mechanische Weltbild von Descartes zurückgehen und die auch den Adam Smith wirtschaftlich überwunden haben. 

Landwirte, die den Kreislauf der Natur genau studieren und sich geschickt in diesen einbringen und so nachhaltig und rücksichtsvoll ihr Teil für sich und die Menschen abschöpfen, ohne den Ast, auf dem sie sitzen, abzusägen. 

Es ist ein Film für Menschen, die sich für die Grundlagen unseres Lebens und unserer modernen Existenz interessieren, eine Lecture für Fortgeschrittene, es ist ein kein Agit-Prop-Film gegen Agrarsubventionen und Chemiekonzerne. 

Es ist vielleicht einer der Filme nach dem Motto, dass steter Tropfen den Stein höhlt, was sich ganz langsam auch im Ansatz zu einer Wende in der europäischen und auch der deutschen Agrarpolitik zeigt, indem die Abkehr von der Förderung der Größe der Betriebe zu einer Hinwendung zur Förderung rücksichtsvoller Kleinteiligkeit – viel zu zaghaft – eingeleitet wird. 

Verhaag rahmt seinen Film mit einem weitsichtigen Text, den Franz Hohler an den Zuschauer gewandt spricht, ein Text, der einen Zusammenhang herstellt zwischen dem Verschwinden eines unangenehmen Käfers in der Südsee und der Verfügbarkeit von Hühnereiern bei uns. Denn alles hängt mit allem zusammen. 

Um seine Portäts eines Tomatenzüchters und -sammlers, eines Herrmannsorfer-Landwirtes, einer Rinderzüchterin, von biologisch-dynamischen Ackerbauern und Viehzüchtern nicht allzu sehr in die Beschaulichkeit versinken zu lassen, erinnert der Regisseur mit einem Metronom immer wieder daran, dass die Uhr tickt. 

Mit diesem Film schließt Verhaag nahtlos an an seinen Film Aus Liebe zum Überleben

Und hier gehts zu Kino on Demand.

The Dissident (digital)

Bienen gegen Fliegen,

das ist einer der aufregenden Kämpfe, über die in dieser Dokumentation von Bryan Fogel, der mit Mark Monroe auch das Drehbuch geschrieben hat, berichtet wird. 

Aber das ist nur eine der vielfältigen Kampfarenen, auf welchen Saudi Arabien versucht, Kritiker verstummen zu lassen. 

Die Fliegen sind Trolle, die zu Tausenden und Abertausenden (das wird auch bildlich attraktiv illustriert) über Twitter-Texte herfallen, die an Saudi Arabien, gar am Königshaus, Dinge zu bemängeln haben. 

Die Gegenarmee, die Bienen, wird in Gang gesetzt von einem Exilanten von Montreal aus, von Omar Abdul Asis, der die Idee mit Jamal Kashoggi entwickelt hat. Dieser ist der Dreh- und Angelpunkt für diesen Film, der gleich aus mehreren Partitionen besteht. 

Es ist der Thriller von einem blutrünstigen saudiarabischen Kronprinzen, abgekürzt wird er als MBS, Mohammad Bin Salman, der wenig Gnade mit Kritikern kennt, der, was inzwischen offiziell bestätigt ist, direkt den Mord am inzwischen zum Dissidenten gewordenen Jamal Kashoggi in Auftrag gegeben habe. 

Kashoggi war jahrzehntelang Journalist in Saudi Arabien. Der Begriff Journalist gilt dort nach wie vor im Sinne der Hofberichterstattung aus dem Königspalast. Mit der Erfahrung des Tahir-Platzes in Ägypten wurde Kashoggi kritischer, bis ihm schließlich geraten wurde, Saudi Arabien zu verlassen, seine Familie, seine Kinder. 

Kashoggi landete in den USA bei der Washington Post und wurde zum kritischen Berichterstatter über sein Heimatland. Seine Ermordung im saudischen Konsulat in Istanbul beherrschte über Tage die Schlagzeilen weltweit. Insofern kann heute beim Zuschauer Vorwissen über den Fall vorausgesetzt werden. Bryan Fogel vervollständigt Lücken, macht Zusammenhänge erkennbar. 

Fogel begleitet die Geschichte auch aus der Sicht des Montrealer Twitterers, der selbst ständig fürchten muss, in eine saudische Falle zu laufen. Er wird zum zweiten Protagonisten, der Einblick gibt in die Arbeit eines glühenden Demokratiebefürworters mit den Mitteln moderner Kommunikation, auch in das Projekt eines eigenen Senders. 

Der Film ist gleichzeitig eine Hommage an Jamal Kashoggi mit Archivfootage aus seinem Leben als Journalist, aber auch die Liebesgeschichte zur türkischen Journalistin Hadice, die ihn durch den Heiratswunsch, ohne es zu ahnen, in die Falle im saudischen Konsulat in Istanbul laufen ließ, der Vorwand waren Papiere für die Hochzeit. 

Der Film gibt weiter einen Einblick in Geheimdienstarbeit, das Ausspähen von Smartphones mit dem Aufspielen von Spionage- und Trackingsoftware über harmlose Mails, das Programm Pegasos; aber es ist auch konkret zu erfahren, wie gründlich die Türkei zumindest das saudische Konsulat ausspäht – ein Schelm, wer glaubt, es sei das einzige! – und welch belastendes Material dadurch über den Mord gewonnen wurde, was die Türkei, so als ob ihr Meinungsfreiheit wichtig wäre, großzügig der Welt bekannt gab. Da kommt der blanke Horror auf. 

Gleichzeitig ist der Film eine eindrückliche touristische Reise von Saudi Arabien über Washington, Oslo, Genf, Istanbul, Montreal, Bahrain und mehr mit stupenden nächtlichen Veduten gerne auch von Drohnen aus gefilmt. 

Der Film ist ganz klar auch ein Appellativfilm mit dem Angebot am Ende: „Mehr erfahren, aktiv werden, etwas verändern: The Dissident.

Der Film macht einem aber auch schmerzlich bewusst, wie schnell so ein Skandal von neuen Stories ins Abseits gedrängt wird; die Meinungsfreiheit ist ja noch in vielen anderen Staaten bedroht und Corona wird von vielen zur Isolierung und zum Ausbau der Überwachung ausgenutzt. Die Frage bleibt, ob und wie sehr Worte (und Bilder) als Waffe taugen. 

Der Film sitzt einem noch stundenlang im Nacken. 

Frei von Schmerz – Die Verbindung von Körper und Geist nach Dr. Sarno (DVD, Stream)

Der Rücken ist meistens nicht kaputt

Dr. Sarno ist Schulmediziner mit einer bemerkenswerten Differenz zu seinem Fach, wenn es um chronische Schmerzen geht, speziell Rückenschmerzen. Dr. Sarno denkt weit über die Schulmedizin hinaus, die gerne rumoperiert und mit Fachausdrücken den Grund im Organischen sieht, da kommt bei ihm der Lateiner zum Tragen, der vom Zusammenhang zwischen gesundem Geist und gesundem Körper ausgeht oder auch Sherlock Holmes „Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache“. 

Es handelt sich dabei dezidiert nicht um alternative Medizin; es geht um eine Kritik an der Schulmedizin, die unter Diagnosedefiziten leide. 

Auch bei Billy Wilder findet Sarno seine Weisheit, wenn es im dritten Akt Probleme gebe, so sei deren Ursprung im ersten Akt zu suchen, sprich, bei Erwachsenen mit chronischen Schmerzen hilft der Blick zurück in die Kindheit. 

Dr. Sarno hat ein Buch, mehrere Bücher, über diesen Zusammenhang zwischen Kopf, Körper und Individualgeschichte geschrieben, wobei speziell unterdrückte Wut und auch Stress eine Rolle spielen. Der Doktor hat auch Vorträge gehalten. 

Diese Langzeitdoku von Michael Glinsky, Suki Hawley und David Beilingson über Dr. Sarno und seine Heilmethode ist nun mehreres in einem: sie ist Zeugnis und Heilungsbericht des Filmemachers Michael Glinsky, der wie sein Zwillingsbruder und auch sein Vater extrem unter Rückenschmerzen gelitten hat, mithin tagelang nur gekrümmt auf dem Boden liegend verbrachte; insofern ist der Film ein Selbstploitiation-Movie, das vor der Preisgabe intimer Familienszenen nicht zurückschreckt. 

Der Film ist Infofilm als auch Hommage an Dr. Sarno, Porträt eines uneitlen, unkonventionell denkenden Mediziners, der sich im Hinblick auf chronische Schmerzen auf Carl Gustav Jung beruft. 

Dann ist es aber auch ein direkter PR-Film für die Bücher von Dr. Sarno; der Film will, das ist seine explizite Ansage, Dr. Sarno bekannter machen. Als flankierende Verkaufsmaßnahme werden prominente Showmenschen interviewt und ein Washingtoner Senator kann als führendes Mitglied einer Anhörung zu dem Thema eigene Heilserlebnisse nach der Lektüre des Dr. Sarno-Buches anführen. 

Bedauerlich ist, dass Dr. Sarnos Ansatz von der Schuldmedizin nicht ernst genommen wird. Das erinnert an der Landarzt, der in seiner Praxis schnell zur Erkenntnis kommt, dass bei vielen Patienten das Gespräch wichtiger ist und der, bloß um glaubwürdig zu bleiben, ein Placebo verschreibt, weil der Glaube schon die halbe Heilung ist. Für viele Ärzte scheint der Ansatz von Dr. Sarno offenbar bereits zu kompliziert, zu schwierig.