Absturz eines Genies
Der Protagonist und Ich-Erzähler, der 1766, dem Zeitpunkt seiner zweiten Geburt und ab wo er sich Jakob Kainer nennt, gerade mal 20 Lenze alt war, ist hochbegabt, weit über dem Durchschnitt, herausragend. So sieht er es zumindest selber. Aber es wird ihm von Spezialisten seines Faches auch attestiert werden.
Es ist kein einfacher Weg für diese Frühbegabung, die er auch ist, ans Licht zu kommen. Sein Stand, sein Elternhaus, seine Herkunft sind kein guter Boden für solch ungewöhnliches Talent. Viel Zeit verwendet der Icherzähler werweißend, der sich in direkter, höchst elaborierter Rede an sein Publikum wendet, das sind die Ratten von Paris, auf die Erörterung dieses seines Genies, das anfänglich nur er selber in sich fühlt und wie er es pionierhaft zum Leuchten und zur handwerklichen Meisterschaft bringen, auf Möglichkeiten sinnierend, wie er die Hindernisse auf diesem Weg dahin überwinden, ausräumen könne. Es sind ihrer viele, vielschichtige, menschen- und geographiegemachte.
Dieser große, gewaltige Menschenabriebsroman, spielt in einer Zeit, als man noch zu Pferd, zur Fuß oder in der Kutsche unterwegs ist; an der Elektrizität wird gerade geforscht; im Roman spielen die Leydschen Flaschen mit und Benjamin Franklin wird in Paris Vorträge halten; aber das ist nun vorgegriffen.
Erstmal treibt es unseren Protagonisten aus dem Hinterland, aus dem „Dorf seiner Kindheit“, nach Wien. Hier herrschen klare Standesunterschiede, streng reglementiert, besonders die Differenz zum hochwohlgeborenen Adel.
Allein die Reise nach Wien ist ein eigener abenteuerlicher Roman mit präzisen Beschreibungen aus der Zeit; gleichzeitig ein Befreiungs- und Entwicklungsprozess für den Protagonisten, der die Pubertät kaum hinter sich haben dürfte, eine Coming-of-Age-Reise, nachdem er auf dem Land rudimentär das Uhrmacherhandwerk, mehr ausgenutzt und schikaniert als gefördert, gnädigerweise etwas erlernen durfte. Immerhin reicht es für eine Empfehlung an den Meister Servasius Weisz in Wien.
Thomas Willmann lässt sich in der ausführlichen Schilderung dieses unglaublichen Lebens der extremen Höhen und schauderhaften Tiefen ganz von der Sprache Goethes inspirieren. Das wirkt mitunter angenehm altertümlich und entsprechend angenehm anglizismenfrei, kitzelt aber den Geist des Lesers pausenlos durch die lupenrein exakte Gesetztheit; aktiviert die Synapsen im Gehirn, ja bildet geradezu neue.
Die Schilderung des Wien des späteren 18. Jahrhunderts ist großartig, soweit historischer Roman, scheint prima recherchiert, ja nimmt den Leser direkt mit auf eine Zeitreise, da Willmanns Beschreibungen immer auch sehr bildhaft, filmhaft sind, kinohaft direkt; sie dürften somit manchen Filmemachers Fantasie, der Ungewöhnliches zu tun vorhat, inspirieren, wie Jahrmarktvorgänge mit den mechanischen Puppen des Monsieur Vaucanson beispielsweise (oder später in Paris die Jaquet-Droz’schen Automaten) oder Uhrmachers und seines Lehrlings untertänigster Bücklingsauftritt vor einem adeligen Kunden.
Hier wird auch die heiß-romantische Liebesgeschichte (mehr Gefühl geht in keinem erotischen Groschen-Roman nicht, hier aber mit Nivooh!) zu Amalia initiiert, die dem Coming-of-Age des Protagonisten nicht nur die Krone sondern zugleich auch scheußliche Hörner aufsetzen wird, denn unempfindlich gegen Eifersucht ist er ganz und gar nicht.
Diese Geschichte wird so enden, man soll ja nicht zu viel spoilern, dass der Protagonist sich gänzlich neu erfinden muss; sie wird den Beginn seines schon in der Anfangssequenz angekündigten zweiten Lebens markieren, in welchem er sich Jakob Kainer nennt, Kainer, das hört sich an wie Nobody.
Kainer muss sich als vorerst von jeglicher menschlichen Gesellschaft Ausgestoßener durchschlagen, identitätslos, namenslos. Mit dem geraden Weg des einstigen Wunderkindes vom Lande in die feinsten Kreise mechanischer Erfindungen ist somit vorerst nichts.
Ein kleines Requisit aus seinem ersten Leben, eine silberne Rose mit einem Blattöffnungsmechanismus, wird für die dünne und nicht unbedingt absehbare Kontinuität des ursprünglichen Genies sorgen.
Als Jakob Kainer kommt er problemlos bei der preussischen Armee unter. Und so minutiös sich Willmann Wien vorgenommen hat, taucht er nun mit seinem Protagonisten ein in die Schilderung von Kriegsgräueln, Kriegsroman, alptraumhaft, trashig, die sich in kaum was von den Scheußlichkeiten der heutigen Kriege von zivilisierten Gesellschaften wie in der Ukraine oder in Nahost unterscheiden.
Immerhin lässt Willmann seinen zwielichtigen Literaturstar überleben, denn er hat noch einiges in petto an historischen Schilderungen aus dem damaligen Paris und auch an Tauchgängen in die tiefsten Tiefen schierer Unvorstellbarkeit menschlicher Fantasie, Dirty-Fantasy-Roman. Wie in Gaza gibt es in Paris ein gut ausgebautes System an Tunnels, die zu Recht das Tageslicht scheuen.
Auch skandalträchtige, historische Ereignisse baut der Autor in sein Werk ein, die öffentliche Geburt eines Kindes in Versailles aus der Liaison des Dauphin mit einer Österreicherin, ein gesellschaftliches Ereignis erster Güte oder die grauenhafte Massenpanik nach dem „feu d’artifice“ des großen Ruggieri. Dies vor dem Hintergrund einer episch geschilderten Art von toxischer Ménage à trois, in die Kainer in Paris hineingerät; auch ein Stück Edelnuttenroman.
Das übelste, widerlichste, abstoßendste Objekt – historisch dürfte es kaum zu belegen sein – das sich so himmlisch anhört, ist die Sphärenmaschine. Sie ist der brutale Tiefpunkt, vielleicht auch Kernpunkt der Forschungen von Jakob Kainer und dessen Mentor, der Titelfigur des eisernen Marquis, der ihn im preussischen Lazarett aufgegabelt hat. Sicherlich das contraire eines humanistischen Bildungsromans: es geht um Vorstufen der Erkundung künstlichen Menschentums, von Menschen herbeiexperimentierten Menschentums, Abgrund der Abgründe: die Entwicklung eines Menschen aus Fleisch und Mechanik – und Menschenfleisch ist zu dieser Zeit in den dunklen Gassen von Paris leicht und billig zu haben. – Was die Lust am Ansteckenden der Sprache des Autors Willmann nicht schmälert, der gegen Ende hin immer öfter in einen Pas de trois von Adjektiven und Substantiven verfällt. (Thomas Willmann, Der eiserene Marquis, Roman, 928 Seiten, Euro 36.00, verlagsbuchhandlung liebeskind, ISBN 978-3-95438-165-4)