Archiv der Kategorie: Rezension

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Absturz eines Genies

Der Protagonist und Ich-Erzähler, der 1766, dem Zeitpunkt seiner zweiten Geburt und ab wo er sich Jakob Kainer nennt, gerade mal 20 Lenze alt war, ist hochbegabt, weit über dem Durchschnitt, herausragend. So sieht er es zumindest selber. Aber es wird ihm von Spezialisten seines Faches auch attestiert werden.

Es ist kein einfacher Weg für diese Frühbegabung, die er auch ist, ans Licht zu kommen. Sein Stand, sein Elternhaus, seine Herkunft sind kein guter Boden für solch ungewöhnliches Talent. Viel Zeit verwendet der Icherzähler werweißend, der sich in direkter, höchst elaborierter Rede an sein Publikum wendet, das sind die Ratten von Paris, auf die Erörterung dieses seines Genies, das anfänglich nur er selber in sich fühlt und wie er es pionierhaft zum Leuchten und zur handwerklichen Meisterschaft bringen, auf Möglichkeiten sinnierend, wie er die Hindernisse auf diesem Weg dahin überwinden, ausräumen könne. Es sind ihrer viele, vielschichtige, menschen- und geographiegemachte.

Dieser große, gewaltige Menschenabriebsroman, spielt in einer Zeit, als man noch zu Pferd, zur Fuß oder in der Kutsche unterwegs ist; an der Elektrizität wird gerade geforscht; im Roman spielen die Leydschen Flaschen mit und Benjamin Franklin wird in Paris Vorträge halten; aber das ist nun vorgegriffen.

Erstmal treibt es unseren Protagonisten aus dem Hinterland, aus dem „Dorf seiner Kindheit“, nach Wien. Hier herrschen klare Standesunterschiede, streng reglementiert, besonders die Differenz zum hochwohlgeborenen Adel.

Allein die Reise nach Wien ist ein eigener abenteuerlicher Roman mit präzisen Beschreibungen aus der Zeit; gleichzeitig ein Befreiungs- und Entwicklungsprozess für den Protagonisten, der die Pubertät kaum hinter sich haben dürfte, eine Coming-of-Age-Reise, nachdem er auf dem Land rudimentär das Uhrmacherhandwerk, mehr ausgenutzt und schikaniert als gefördert, gnädigerweise etwas erlernen durfte. Immerhin reicht es für eine Empfehlung an den Meister Servasius Weisz in Wien.

Thomas Willmann lässt sich in der ausführlichen Schilderung dieses unglaublichen Lebens der extremen Höhen und schauderhaften Tiefen ganz von der Sprache Goethes inspirieren. Das wirkt mitunter angenehm altertümlich und entsprechend angenehm anglizismenfrei, kitzelt aber den Geist des Lesers pausenlos durch die lupenrein exakte Gesetztheit; aktiviert die Synapsen im Gehirn, ja bildet geradezu neue.

Die Schilderung des Wien des späteren 18. Jahrhunderts ist großartig, soweit historischer Roman, scheint prima recherchiert, ja nimmt den Leser direkt mit auf eine Zeitreise, da Willmanns Beschreibungen immer auch sehr bildhaft, filmhaft sind, kinohaft direkt; sie dürften somit manchen Filmemachers Fantasie, der Ungewöhnliches zu tun vorhat, inspirieren, wie Jahrmarktvorgänge mit den mechanischen Puppen des Monsieur Vaucanson beispielsweise (oder später in Paris die Jaquet-Droz’schen Automaten) oder Uhrmachers und seines Lehrlings untertänigster Bücklingsauftritt vor einem adeligen Kunden.

Hier wird auch die heiß-romantische Liebesgeschichte (mehr Gefühl geht in keinem erotischen Groschen-Roman nicht, hier aber mit Nivooh!) zu Amalia initiiert, die dem Coming-of-Age des Protagonisten nicht nur die Krone sondern zugleich auch scheußliche Hörner aufsetzen wird, denn unempfindlich gegen Eifersucht ist er ganz und gar nicht.

Diese Geschichte wird so enden, man soll ja nicht zu viel spoilern, dass der Protagonist sich gänzlich neu erfinden muss; sie wird den Beginn seines schon in der Anfangssequenz angekündigten zweiten Lebens markieren, in welchem er sich Jakob Kainer nennt, Kainer, das hört sich an wie Nobody.

Kainer muss sich als vorerst von jeglicher menschlichen Gesellschaft Ausgestoßener durchschlagen, identitätslos, namenslos. Mit dem geraden Weg des einstigen Wunderkindes vom Lande in die feinsten Kreise mechanischer Erfindungen ist somit vorerst nichts.

Ein kleines Requisit aus seinem ersten Leben, eine silberne Rose mit einem Blattöffnungsmechanismus, wird für die dünne und nicht unbedingt absehbare Kontinuität des ursprünglichen Genies sorgen.

Als Jakob Kainer kommt er problemlos bei der preussischen Armee unter. Und so minutiös sich Willmann Wien vorgenommen hat, taucht er nun mit seinem Protagonisten ein in die Schilderung von Kriegsgräueln, Kriegsroman, alptraumhaft, trashig, die sich in kaum was von den Scheußlichkeiten der heutigen Kriege von zivilisierten Gesellschaften wie in der Ukraine oder in Nahost unterscheiden.

Immerhin lässt Willmann seinen zwielichtigen Literaturstar überleben, denn er hat noch einiges in petto an historischen Schilderungen aus dem damaligen Paris und auch an Tauchgängen in die tiefsten Tiefen schierer Unvorstellbarkeit menschlicher Fantasie, Dirty-Fantasy-Roman. Wie in Gaza gibt es in Paris ein gut ausgebautes System an Tunnels, die zu Recht das Tageslicht scheuen.

Auch skandalträchtige, historische Ereignisse baut der Autor in sein Werk ein, die öffentliche Geburt eines Kindes in Versailles aus der Liaison des Dauphin mit einer Österreicherin, ein gesellschaftliches Ereignis erster Güte oder die grauenhafte Massenpanik nach dem „feu d’artifice“ des großen Ruggieri. Dies vor dem Hintergrund einer episch geschilderten Art von toxischer Ménage à trois, in die Kainer in Paris hineingerät; auch ein Stück Edelnuttenroman.

Das übelste, widerlichste, abstoßendste Objekt – historisch dürfte es kaum zu belegen sein – das sich so himmlisch anhört, ist die Sphärenmaschine. Sie ist der brutale Tiefpunkt, vielleicht auch Kernpunkt der Forschungen von Jakob Kainer und dessen Mentor, der Titelfigur des eisernen Marquis, der ihn im preussischen Lazarett aufgegabelt hat. Sicherlich das contraire eines humanistischen Bildungsromans: es geht um Vorstufen der Erkundung künstlichen Menschentums, von Menschen herbeiexperimentierten Menschentums, Abgrund der Abgründe: die Entwicklung eines Menschen aus Fleisch und Mechanik – und Menschenfleisch ist zu dieser Zeit in den dunklen Gassen von Paris leicht und billig zu haben. – Was die Lust am Ansteckenden der Sprache des Autors Willmann nicht schmälert, der gegen Ende hin immer öfter in einen Pas de trois von Adjektiven und Substantiven verfällt. (Thomas Willmann, Der eiserene Marquis, Roman, 928 Seiten, Euro 36.00, verlagsbuchhandlung liebeskind, ISBN 978-3-95438-165-4)

Faszination Zombies: „Films of the Dead – Das Buch der Zombiefilme“

Was fasziniert uns Lebenden oder gar uns lebendig Toten so sehr an den Zombies?

Dass wir ein Ebenbild unserer selbst verspüren: Wesen, die nicht richtig zum Leben kommen, die aber auch nicht richtig tot sein können? Dieser vollkommen dumpfe, amorphe und unaufhaltbare Bewegungsdrang; diese Unfähigkeit zu Kommunikation.?

Diese Parallele zum Stumpfsinn von Terrorherrschaft und insofern von Natur aus ein hochnotpolitischer Topos?

Gleichzeitig der Traum von der Ewigkeit, vom ewigen Leben, mindestens ein 1000-jähriges Reich sollte es schon sein (wobei dieses dem Amorphen einen ausgetüftelten Parade-, Präsentier-, Bürokratie- und Formwillen hinzugefügt hat).

Wie sich in der Bewegung eines jeden Menschen überhaupt Zombihaftes findet – vielleicht im Extremfall des performenden klassischen Ballettänzers nicht, der es schafft mit eiserner Disziplin, alles Zombiehafte seines Körper verschwinden zu lassen – für einige performative Hochkonzentrations-Momente wenigstens; womit die Themen Willen und Freiheit gegen das Zombitum in Stellung gebracht wären.

Es wäre vielleicht spannend, sich mit einem Psychologen zu unterhalten. Auch wäre sicher spannend, zu eruieren, wann die Zombies überhaupt wichtig wurden für die Menschen. Wirklich erst mit dem Kino in den 60ern? Mit der NACHT DER LEBENDEN TOTEN von Romero? Sind Zombies kulturelle Neophyten, die erst durch das Kino überhaupt und dann durch das Kino der 60er Jahre entstanden sind? Geschöpfe im Gefolge der Massenvernichtungskriege im 20. Jahrhundert?

Erhellendes zu diesen und ähnlichen Fragen kann jetzt FILMS OF THE DEAD – DAS BUCH DER ZOMBIEFILME von Renatus Töpke, erschienen im Mühlbeyer Filmbuchverlag, beitragen. Das ist kein systematisch-wissenschaftliches Werk, keine Enzyklopädie – das wäre ein Fass ohne Boden.

Töpke geht seinem Thema nach anhand einer Sammlung von Texten zu 154 Zombiefilmen. Er lässt sich subjektiv von seiner Begeisterung für das Genre und sein Hintergrundwissen leiten.

Dreh- und Angelpunkt sind die Romero-Filme, die selbst wiederum eine ganz eigene Pointe zur Geschichte der Zombiefilme beitragen. Ein dusseliger Assistent hatte vergessen, das Copyright-Zeichen im Film DIE NACHT DER LEBENDEN TOTEN anzubringen: wodurch dieser Ur-Zombiefilm vom ersten Tag an frei war für Imitate, Weiterentwicklungen und wohl unversehens eine Invasion weiterer Zombiefilme ausgelöst hat.

Nebst den Texten zu den Filmen gibt es eine Anzahl Interviews mit Zombiefilmmachern. Die Texte selbst bestehen aus deskriptiven Ansätzen, was immer wieder das Zombitum im Plot ausgelöst hat, von der Hautverpflanzung bis zum Meteoritenschwarm oder einer misslingenden Initiationsprüfung, aus produktionstechnischen Hintergrundinformationen und Anekdoten sowie aus ganz subjektiven Kommentaren des Autors.

Zombihaft scheint allerdings das Schlussredaktionsdepartment des Verlags großzügig über jede Menge Druck- und Schreibfehler hinweggesehen zu haben.

Arielle, die Meerjungfrau

Es allen recht machen.

Es scheint, dass dieser Film von Rob Mashall, der mit David Magee und John DeLuca auch das Drehbuch geschrieben hat, es allen recht machen möchte.

Dem originalen Märchengeber Hans Christian Andersen Respekt zollen und die unglückliche Liebe zwischen Fabelwesen und Menschen herauszuarbeiten, eine nie mögliche Liebe. Der Film möchte alle Wünsche an Unterwassertraumwelten erfüllen. Ebenfalls die Anforderungen an einen Gesangsfilm; wobei die Nummern vor allem solistisch bleiben.

Der Film möchte den Buddywunsch, der auch komisch sei (die komischen drei Tiere), perfekt bringen: die Begleiter von Ariel (Halle Bailey), Krabbe, Zierfisch und Pelikan (oder Seemöwe). Der Film möchte auch nicht den Zuschauer mit Effekten und Action zudröhnen; das gelingt ihm sehr gut.

Der Film möchte genügend ansprechenden Dekor und ebenso genügend Süße präsentieren, nebst Sturmbildern. Der Film möchte ein Showfilm sein mit Tanzeinlagen, sei es von Schildkröten oder Seepferdechen. Der Film möchte politisch total korrekt sein und antirassistisch sowieso. Also hat der König Triton (Javier Bardem) eine schwarze Frau, Queen Selina (Noma Dumezweni), während ihr gemeinsamer Sohn Prince Eric (Jonah Hauer-King), ein astreiner weißer Darsteller wie aus Shakepseares kolonialistischer Zeit ist.

Der Film möchte nichts falsch machen, er macht zwar vieles richtig, man mag sich auch in keiner Weise aufregen über den Film, da ist er einfach zu ordentlich. Er gibt dem Märchen die Ehre. Er bringt Ariel über ein Schiffswrack in Verbindung zur Menschenwelt. Er lässt die Faszination aufkommen, die Eric, der von Ariel aus dem Sturm gerettet wird, für seine vage in Erinnerung bleibende Retterin empfindet. Er lässt Ariel gegen ihren Vater Neptun die Regeln brechen, nämlich Kontakt zur Menschenwelt suchen; ja sie wird sich sogar in einen Menschen verwandeln mit Hilfe einer Magierin und Quallenfrau.

Grindhouse-Kino DeLuxe – Schund – Trash – Exploitation

Das Buch von Harald Mühlbeyer ist eine Sammlung von Texten zu Grindhouse-Filmen aus den 70ern, die er im Kino Quadrat in Mannheim gesehen hat. Das ist das drittälteste Programmkino Deutschlands und feiert dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum. Die Texte sind subjektiv, emotional, direkt, gezeichnet von der Begeisterung für das Grindhouse-Kino

Mühlbeyer ist Autor von Greenshot seit 2010.

Was ist Grindhouse-Kino?
Schmuddelkino, Filme, vor denen die Eltern warnten. Bahnhofkino.

Kino Quadrat: Obskures, Abseitiges, simpel gemachtes Genrekino, Horror, Thriller, Action, Abenteuer, Western, Scince Fiction, Blaxploitation, Sexploitation, Schäbiges, Schmodder der Filmgeschichte. Ein echter Grindhouse-Film will in erster Linie Film sein und nicht Grindhouse.
Skurril, einfallsreich, durchgedreht, Manst statt Kunst, einfach machen…

Es sind Müll-Filme. Stringenz ist nicht gefragt. Es geht um die Erregung niedriger Bedürfnisse, meistens: männlicher Bedürfnisse. Die Filme haben immer das Publikum im Blick. Es ist das Billigkino der 70er. Filme als Zeitgeisterbahnfahrten.

Es dürfte bei diesem Kino Schnittmengen geben mit dem, was Sigi-Götz-Entertainment im Blickfeld hat.

Zu beziehen über Mühlbeyer Filmbuchverlag.

Hunted – Waldsterben

So wasserstoffblond. So signalrot. So gefügig? 

Eve (Lucie Debay) ist Französin, wird aber für eine Russin gehalten oder für eine Polin. Sie überwacht ein Bauprojekt. Übernachtet im Hotel. Hat keine Lust, den Anruf ihres Freundes anzunehmen. Geht in eine Bar. 

Undifferenziert blondes Strähnenhaar. Undifferenziert rotes Kleid. So direkt, wie ihre Signale sind, so plump wird sie an der Bar angemacht. Ein locker bärtiger Typ (Arieh Worthalter) rettet sie. Mit ihm tanzt sie. Mit ihm lässt sie sich ein. Mit ihm knutscht sie. Mit ihm will sie im Auto wilden Sex treiben. 

Ein anderer Mann steigt ins Auto, setzt sich an Steuer. Ab geht’s in die Nacht mit wilden Trieben, ohne zivilisatorische Bremsen, Wölfe dazwischen geschnitten oder schwarze, lefzene Hunde. Der Horror ist unkontrolliert los. 

Dabei bleibt eine Hoffnung präsent aus dem Prolog. Am Lagerfeuer erzählt eine Mama ihrem Buben eine Horrorgeschichte vom Kreuzritter Nicodemus und seinen Mordsgesellen, die hungerten und ein junge Frau suchten, die sie vertilgen konnten. 

Diese Geschichte wird teils wie in Schattenbildern erzählt, eine ungewöhnliche Einführung in einen düster, blutigen Horrorstreifen, der das Tier im Menschen gnadenlos frei lässt. 

Der Begriff Waldsterben im Titel orientiert sich hierbei keineswegs am ökologischen Thema.

Wenn man den Prolog als Interpretationshilfe nimmt, so wirft der Film ein übel brutales Bild auf die Kreuzritter, die angeblich in Jerusalem das Heilige Grab schützen wollten. Dazwischen passiert viel Unheiliges. Es wird recht krud und in der nächtlich erleuchteten belgischen Horrortankstelle gibt es nur noch chinesische Waren, während der beleibte Tankwert am Smartphone beflissen chinesisch lernt.

Bienenstich und Hakenkreuz -Zeichentrick aus Dachau – die Deutsche Zeichenfilm GmbH

ARMER HANSI,

das ist das, was rauskommt, wenn eine blutrünstig-mörderisch-rassistische Diktatur, wenn die Nazidiktatur versucht, ein Produkt wie Disney-Filme selbst herzustellen, wenn sie versucht, Kunst systemrelevant zu machen. 

Während die Gebrüder Disney für ihren Schneewittchen-Langfilm erst mal in München 1941 157 Bücher zur Inspiration kaufen und dann 500 Zeichner zwei Jahre für die Produktion beschäftigen, wollen die Nazis, Hitler liebte Mickey-Mouse, mit einer aus dem Boden gestampften Firma mit einem Schlachter an der Spitze mit nur 50 Zeichnern anfangen und in viel kürzerer Zeit einen animierten Zeichentrick-Welthit schaffen. 

Die Nazi-Diktatur hat gekreißt und dabei – einen „Armen Hansi“ geboren, so heißt der rührselige Film über Kanarienvögel und Meisen, so dass es einer Zeichnerin schon nach einigen Monaten gewaltig stinkt, immer nur „Kanarienvögel und Meisen“ zu zeichnen, einen Film, den keiner sehen wollte – das dürfte der Disneyfilm „des kulturell höherstend sich fühlenden Deutschen“ gewesen sein, der „künstlerisch wertvolle, abendfüllende Zeichenfilm“.

Noch grotesker dürfte der Vergleich zu Disney ausfallen, wenn man bedenkt, dass bei Disney professionelle 500 Zeichner zwei Jahre lang an Schneewittchen arbeiten, während in Berlin in der extra gegründeten „Deutschen Zeichenfilm“ ein dubioser Mix beschäftigt wird aus vor allem angelernten Zeichnerinnen, einigen gelernten Zeichnern, verschiedenen ausländischen Berufsleuten aus Holland oder Russland, bei denen nicht so klar ist, wie sie dazu gekommen sind; noch kurioser ist die Methode des „Kinoxens“. Nie gehört? Die haben sich den Disney-Film Schneewittchen besorgt. Dann wurde dieser auf eine Wand projiziert, Bild für Bild, davor ein Transparent gehalten, auf das die Figuren kopiert wurden. Aber aus Schneewittchen und den Zwergen werden die Kanarienvögel und Meisen, wie auch immer… so eine Art Raubkopiererei in den letzten Jahren im tausendjährigen Größenwahnreich. 

Im Buch von Rolf Giesen über dieses kuriose Kapitel aus der braunen Zeit kommt der Begriff des Überläuferfilmes vor („Purzelbaum des Lebens“), der aus der Konkursmasse der Nazizeit und ohne als solcher kenntlich gemacht worden zu sein, sich in die Nachkriegszeit rettet. Es ist die Rede von supererfolgreichen Werbefilmern in der Wirtschaftswunderzeit, die einige Jahre vorher noch böse antisemitische Karikaturen gezeichnet haben. 

Diese Zeichentrick-Firmen-Neugründung habe sich vor allem als Ausbildungssttätte für Trickzeichner verstand, weil ja für einen abendfüllenden Langfilm Hunderte von Zeichnern benötigt wurden. Dass diese Akademie ein Intrigantenstadel war, da dürfte sie sich kaum von anderen unterscheiden; nur dass der Leiter, ein ehemaliger Schlachter von Beruf, bei Disziplinarproblemen mit Kriegseinsatz drohen konnte. 

Zur Überlebensstrategie der Zeichner gehörte es, in Richtung Serie zu denken und das Projekt einer Nazi-Disney-Produktion in die Länge zu ziehen, weil das vor der Front bewahrte, bis 1944 mit dem totalen Krieg die Trickfilmproduktion stillgelegt wurde; die Zeichner sind für die Rüstungsproduktion eingesetzt worden.

Giesen schildert diese absurde Geschichte anhand von Originalzitaten; Interview-Teile davon wurden in der Zeit zwischen 1988 und 2013 mit damals Beteiligten geführt und werden in Ausschnitten wörtlich zitiert. 

Das Bändchen, zu beziehen über den Muehlbeyer-Verlag, wird abgerundet mit den Kurzbiographien einiger der Protagonisten des deutschen Zeichentrickfilms, deren Karrieren auch nach der Nazizeit teils sehr erfolgreich weitergegangen sind, es folgt eine umfangreiche Bibliographie der vielfältigen Quellen, die von Büchern, Katalogen, wissenschaftlichen Arbeiten über Zeitungen und Zeitschriften bis hin zu TV und DVD reichen. 

Den Abschluss bildet ein Personenregister, in dem Wolfgang Liebeneiner fehlt. Wenn ich Autor oder Künstler wäre, weiß ich nicht, ob es mir recht wäre, in einem Namensregister gelistet zu sein, in welchem gleich ehrenwertig ein „Adolf Hitler“, ein „Dr. Joseph Goebbels“ oder ein „Dr. Josef Mengele“ verzeichnet sind.

Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra

Die anderen hängen sehen.

Das ist das Prinzip der Kronzeugenregelung. 

Von einem höchst erfolgreichen, brisanten Gebrauch derselben berichtet Marco Bellocchio in seinem dichten, spannenden Film. 

Tommaso Buscetta (Pierfrancesco Favino, in jeder Sekunde überzeugend!) nimmt die Kronzeugenregelung nach längeren Gesprächen mit dem Richter Giovanni Falcone (Fausto Russo Alesi) in Anspruch. Der Preis dafür: Straferlass und stattdessen ein neues Leben mit einer neuen Identität in einem fremden Land, in Amerika. 

Knast hatte Tommaso, gerne Masino genannt, vorher schon genug gehabt in seinem Leben; seit dem Teenageralter war er Mitglied der ehrenwerten Vereinigung, der Cosa Nostra auf Sizilien. Er kannte nichts anderes. 

Bellocchio schildert opulent und molto con Italianà das luxuriöse Leben zu den Glanzzeiten des sizilianischen Verbrechens in den frühen 80ern, wie durch den Drogenhandel das Geschäft immer mehr boomt und damit die Begehrlichkeiten und die Auseinandersetzungen unter den verschiedenen Verbrecherbanden. 

Tommaso verschwindet, wie der Boden immer heißer wird für ihn, nach Brasilien, weil seine Frau (Maria Fernanda Candido) von dort stammt. Auch dort feines Villenleben, aber ständig lauert die Gefahr, derweil in Italien von seinem Gegner Toto Riina (Nicola Cali) eine Familienmitglied nach dem anderen umgebracht wird. Verhaftung, Überstellung nach Italien, Verhöre, die schließlich zu teils tumultartigen Gerichtsverhandlungen mit einer halben Mafiabande in Käfigen führt.

Bellocchio hat die Geschichte zu einer flüssigen und temporeichen Filmerzählung im Sinne eines Tatsachenberichtes gebürstet, fast wie die Ballade vom ehrbaren Mafioso, der doch nichts mehr als Frau und Kinder liebt. Der Film gibt damit auch ein Votum ab für das Instrument der Kronzeugenregelung, denn ohne diese wären die hermetischen Strukturen der Mafiaclans nie aufzubrechen gewesen. 

In einer Bar in Mexiko (Filmbuch)

Autor Rainer Boller (Wilder Westen Made in Germany) platziert seinen Leser in einen wohligen Sessel in einer mexikanischen Bar. Den Whisky oder besser den Margarita oder den Tequila, die Tortillas und die Enchiladas muss er sich schon selber besorgen, ist aber auch gar nicht nötig in der dicht genre- und anekdotengeschwängerten Atmosphäre, die Boller mit seinem Buch herstellt.

Das ist eine ganz eigene Gattung: Er lässt über das Motiv der mexikanischen Bar legendäre und weniger bekannte Filme, wie Film Noir, Western, Abenteuerfilm, Revue passieren, in denen Szenen mit einer mexikanischen Bar vorkommen, auch wenn die ab und an in den USA gedreht worden sind, denn die mexikanische Zensur war streng und wollte unbedingt, dass die Filme ein gutes Bild des Landes verbreiten.

Man kann sich den Autor am Tresen sitzend vorstellen und aus seinen langen Reisen durch die Filmgeschichte und durch Mexiko munter erzählen hören. Er verfügt über einen enormen Anekdotenschatz, den er sich aus Archiven der unterschiedlichsten Art, aus Schauspielerbiographien, aus Gesprächen mit an den Filmen Beteiligten oder Verwandten von Berühmtheiten oder mit Berühmtheiten selbst, aus Drehbüchern, Korrespondenzen, Sichtungs- und Drehberichten zusammengesammelt hat, eine unerschöpfliche Kiste und dazu gibt er auch noch die Credits der Filme an und immer auch wieder Kritiken, da wird auch mal eine besonders witzige (deutsche) Synchronisation gelobt oder über verwechselte Filmrollen bei der Premiere berichtet.

Zudem stellt er einige der Protagonisten in knappen Biographiepunkten vor. Es ist eine Welt, in die sich trefflich versinken lässt, so fern und so nah zugleich oder wie man auch sagen könnte, Lektüre zum Abschalten ganz ohne Weltflucht oder Eskapismus. Denn es ist immer wieder das Menschliche, was fasziniert, sowohl im Film als auch hinter den Kulissen.

Widrige Drehbedingungen, Isolation im Dschungel. Wenn beim Dreh mit Richard Widmark plötzlich ein richtiger Kampf mit einem Dobermann oder gar einer Boa Constrictor wird – Widmark, der sich selbst als „zweite Garnitur“ bezeichnet.

Wenn Humphrey Bogart um die Teilnahme am „Transpacific Yacht Race“ mit seiner Yacht Santana bangt, weil der Dreh am „Schatz der Sierra Madre“ mit John Huston sich hinzieht und hinzieht. Oder Mitchums höchst distanzierter Blick auf Hollywood oder wie Humphrey Bogart skeptisch über Schauspielerpreise denkt (es müssten ja alle die selbe Rolle spielen, um Vergleichbarkeit herzustellen): „Akademie-Preise sind Schaumschlägerei für die Öffentlichkeit“.

Dann die Info, dass der Autor nach einer Begegnung mit Jane Russel auf die Idee mit diesem Buch kam. Aber auch cineastische Wunder, wenn Robert Rodriguez in zwei Wochen für 7′ 500 Dollar einen Film dreht, der über 2 Millionen einspielt.

Andererseits die Äußerung von John Payne, der das Drehen nur als lässigen Brotjob ansieht: „ Ich habe meine Filmarbeit nie richtig ernst genommen. Alles war eine Art Spaß. Ein einträglicher Beruf.“. Bunuels heidnischer Spaß, sein Team im Dschungel in Panik zu versetzen.

Dann die Liebesaffären oder katatrophale Drehbedingungen. Oder der ewig geheimnisvolle Autor B. Traven, ein Deutscher, der in Mexiko lebte. Und immer wieder die Zensur in Hollywood und dann auch noch in Mexiko.

Zwischendrin fügt Boller aktuelle Reisetipps zu von ihm erwähnten Drehorten bei. Das ausführlichste Kapitel ist jenes über John Hustons „The Treasure of Sierra Madre“, bei dessen Dreh „alle spürten, dass ein außergewöhnlicher Film entstehe“.

Erhältlich über den Mühlbeyer Filmbuchverlag.

Das große Buch des kleinen Horrors

Iiih!, schaut das giftig und grimmig aus, das Titelbild! Giftgrün und horrorviolett, Puppen, Critters, Gnome, Goblins oder Gizmos. Auf Würfeln ist das Wort T O T zu lesen. Aber nicht genug des Würfelspieles, die kleine Puppe mit den roten Haaren will auch noch drauflosstechen, den Teddy vor ihr hat sie bereits zerlegt.

Peter Vogel, der Autor, widmet das Buch seiner Mutter, „auch wenn es ihr nicht gefallen wird“. Das lässt auf eine hohe persönliche Affinität zum Thema „Kleiner Horror“ schließen. Auch zum Vaterverhältnis gibt es eine Bemerkung: „Mein Vater kann meine bis heute anhaltende Actionfigurenobsession auch nicht nachvollziehen“… und kommentiert, das müsse er auch nicht, denn „one man’s trash is another man’s treasure“.

Aus diesem Schatzkästchen hat er ein „großes Buch“, gleich eine Film-Enzyklopädie gemacht. Diese besteht aus einem Vorwort, Anmerkungen zum Aufbau, Kritik und Fazit zu 181 Filmen vornehmlich aus den USA, die mit einem 5-Sterne-System bewertet sind, „eine komplette Liste der 32 Charles-Band-Produktionen in diesem Buch“, ein Kapitel „Tiny TV-Terrors: Folgen von TV-Serien mit kleinem Horror“ und anschließend eine Filmliste nach Jahren und Jahrzehnten geordnet.

Die Texte sind von kleinen Schwarz-Weiß-Fotos begleitet, die mehr der illustrierend-kommentierenden Information als der Schaulust dienen.

Der Autor hat sich Tage und Nächte um die Ohren geschlagen beim Sichten von Filmen des Subgenres, das ihn bannt, „sehr oft lustig, zu oft langweilig, immer wieder eigenartig und manchmal auch abartig pervers, banal, inspirierend. .. und viele von ihnen können auch unerträglich frustrierend und in einigen Fällen sogar fast seelenraubend schlecht sein“.

Tiny Terror, Puppen- und Small Creature-Horrorfilme hält der Autor auch deshalb für spannend, weil sie „in dieser geek-schicken Post-Big Bang Theory-Welt … als cool“ gelten, „wenn man mit seinem inneren, begeisterungsfähigen Kind eng in Kontakt steht.“ Das dürfte auch die Attitüde des Autors zu seinen Filmen sein, weshalb die Lektüre unbedingt als anregend bezeichnet werden kann.

Die Hürden der Filme für die Aufnahme in dieses Buch beschreibt der Autor in vier Punkten: sie müssen dem Horrorgenre zugeordnet werden können, ein bis mehrere kleine Wesen sollten prominent auftreten, es darf kein Kurzfilm sein und eine kommerzielle Veröffentlichung auf einem Trägermedium ist Voraussetzung. Keine Aufnahme fanden Filme mit Killerratten, Mörderfröschen, Piranhas, Ameisen und auch Kind-als-Monster-Filme passten nicht (Ausnahme: Zombie-Biber).

Die Filme
Mit ‚Aberrations‘ fängt der Almanach „ganz weit unten“ an. Hier zeigt der Autor, dass bei ihm auch Schimpfen über einen Film dazugehören kann („Dieser ganze Kackfilm ist ein einziger Irrweg“) und gleichzeitig hofft er, dass niemand von seinen Lesern, die er per „Ihr“ anspricht, je diesen Film sehen wird.

Somit wird klar, dass dem Genre gemäss es nicht um wissenschaftliche Penibilität, sondern gerne um rotzigen Kommentar geht. Deftig gemosert ist auch schon was. Vielleicht im Sinne der bayerischen Lebenseinstellung des Grants – das hat per se einen gewissen Unterhaltungswert. Das Buch eröffnet einem so auch einen Blick in die unendlichen Möglichkeiten, was der Mensch filmisch mit Horror durch kleine Wesen alles anzustellen pflegt, Einblick in eine ganz bestimmt Sparte menschlicher Abgründe, die sich hochkultureller Behandlung eher entzieht.

Mir scheint, dass es bei einigen der behandelten Filme lustiger und kurzweiliger sein dürfte, die Review von Peter Vogel zu lesen, als sich die ganzen Filme anzutun. Kinolesen kann ein anregende, inspirierende Aktivität sein. Mir geht es auch ab und an so, dass ich von einem Film wenig angetan bin, wenn ich aber anfange, ihn zu rekapitulieren, mir die Ideen spannender erscheinen als der Film selbst.

Und wie so oft lesen sich Verrisse von drögen Filmen quicklebendig: das fängt gleich beim ersten Film „Aberrations“ an: „Der ganze Kack-Film ist ein einziger Irrweg“ – „niemand sollte diesen oberüblen Film jemals sehen, nicht mal eingefleischteste Trash-Aficionados“ oder über „Demon Dolls“: „Der Wetterkanal hat mehr künstlerischen Anspruch“ oder „Seit ‚The Dummy 2‘, den ich vorher gesehen hatte, glaub ich ja, dass Dustin Ferguson mal zu lang mit dem Kopf unter Wasser war oder in einer prägenden Kindheitsphase von Tieren großgezogen wurde. Seine Filme sind so unterirdisch schlecht, dass sie auf der anderen Seite des Erdballs wieder herauskommen. Ist Ferguson ein Troll?“ oder zu „The Dummy 2“: „Normalerweise hätte man bei der Sichtung sagen müssen ‚OK, wir sind zwar eine Schundfirma, die ausschließlich Schundfilme vertreibt, aber dieser Schund ist selbst für uns zu schundig.‘ Ich habe mir The Dumy 2 für 94 Cent auf Vimeo ausgeliehen, und mich trotzdem betrogen und bestohlen gefühlt.“ oder „Hier haben wir billige und relativ inkompetente Horror-Videogülle der spaßigen Art“ .

Wogegen vorbehaltlose 5-Sterne-Wertungen, die selten genug sind, immer etwas ernsthafter wirken wie bei „Cat’s Eye“: „Der Troll will Amanda im Schlaf buchstäblich den Atem rauben, und es kommt zum epischen Kampf Katze vs. Gnom“ oder bei ‚Critters‘ „Nach Ghost Busters (eine andere „Gruselkomödie“) die wohl beste filmische Mischung aus Horror und Komödie“ oder zu ‚Dead Silence‘: „Vor allem ist es der wahrscheinlich gruseligste Film überhaupt in diesem Buch und eine der qualitativ hochwertigen Produktionen“ oder über „Dolls“: „Wenn es etwas zu bekritteln gibt, dann nur die kurze Laufzeit von nur 77 Minuten“ und als Begründung für das Buch schreibt der Autor: „Gäbe es die ‚Puppet Master‘-Reihe nicht, hätte ich dieses Buch niemals geschrieben“.

Das Buch ist wie der Bericht eines Abenteurers, der durch dreckige, ätzende, ankotzende Schundzonen sich durchquälen muss, aber versehen mit penibel notierten „Kill Counts“ für jeden Film (differenziert in on-screen oder off camera), einem Merker für „Creative Killing“, den notorischen, nervigen Skeptikern (ein solcher möchte er selbst nicht sein), auch da wird genau Buch geführt, sowie einem ständigen Hadern mit seinem Schicksal als Autor dieses Buches: „Überhaupt will ich nach Festigstellung dises Buches keine shot-on-video-Filme mehr sehen, lieber schleife ich meinen Hodensack durch ein brennendes Reisnagelfeld“ oder “Also schlechte Filme fabrizieren und frech werden auch noch, oder wie?!“

Gerne tritt der Autor auch in einen Dialog mit dem unsicht- und unhörbaren Leser/Filmfan, wer sich hier mehr zumute und ob er dafür am richtigen Ort sei: „Wer bei ‚Ghoulies go to College‘ nicht zumindest ab und zu heftig schmunzelt, der geht zum Lachen in den Keller (und macht dort wahrscheinlich noch ganz andere Sachen)“ oder „Den freakigen Stonern unter Euch sowie den waghalsigen Trashliebhabern von der Sorte ‚Gebt mir mehr! Ist das alles, was ihr zu bieten habt?!‘ empfehle ich die ersten beiden Teile der Reihe“ oder „vier kurze Softsexszenen. Wem das viel gibt, der darf noch einen Stern zum Zweierrating dazu packen“ oder auch „Okay, den meisten Genrefans wird ‚Shrunken Heads‘ wohl zu kindisch sein, und den Gorehounds unter Euch ist er sicher zu zahm“.

Abqualifikationen
„Schrott, Schundwerk, ein eher vernachlässigbarer Beitrag, es gibt schlechte Filme, aber es gibt so etwas wie – die späteren Evil Bong-Teile, ein durch und durch mieser Käse, Filme, die so mies sind wie dieser, eine äußerst banale Schlaftablette von einem Film, wie ein unausgegorener, mieser Experimentalfilm, ein dreckiger, mieser, kleiner Film, in dem wir krassen Scheiß sehen, müder Episodenfilm“.

Merke
„… ein Gruselfilm, der auch wirklich gruselig ist, ist leider alles andere als eine Selbstverständlichkeit.“

Das Buch ist erschienen im Mühlbeyer Filmbuchverlag und ist auch dort zu bestellen.

Wilder Westen Made in Germany (Buch)

Spannend und gespickt mit anekdotenhafter Backgroundinfo: die deutsche Filmgeschichte unter dem Aspekt der Westernproduktion durchkämmt. Das hat sich Reiner Boller vorgenommen und er berichtet der Reihe nach darüber. Leitfaden sind die Filme. Das Buch ist kein dröges Lexikon, vielmehr ist es auch eine reiche Dokumentation über das Abenteuer „Filmherstellung“ (zB: Unterwasseraufnahmen: Kamera in Holzkiste mit Glaswand).

Es ist auch ein Fundgrubenbuch: Namen (wobei allerdings ein Namensregister fehlt), Anekdoten, Planungen, Kommentare, Erfolge, Misserfolge, Eigenheiten, Eitelkeiten, Privilegien.

Es gibt kein Vorwort, keine Einleitung, keine Vorrede, schnörkellos westernhaft gehts gleich zu Sache mit Kapitel 1 über stumme Colt-Duelle an Rhein, Neckar und Isar.

Auf der hinteren Umschlagseite ist zu lesen, dass es sich hierbei um das umfassende Handbuch zum deutschen Western handelt und dass der Autor Reiner Boller jahrleang zum Thema recherchiert habe.

Die Anfänge bis zur Nazizeit werden knapp und kursorisch abgehandelt, der Einfluss der Europa-Tournee von Buffalo Bill auf die Western-Filmproduktion und dass der später berühmte Hollywood-Regisseur William Dieterle in der Pfalz mit Western-Filmen angefangen habe. Ausschnitte aus Berichten von Setbesuchen oder aus Filmkritiken verlebendigen den Eindruck.

Das Buch ist eine Sammlung, ein Kompendium von Fakten, autobiographischen Schilderungen (ZB Louis Trenker über den teils in Amerika gedrehten „Der Kaiser von Kalifornien“), zeitgenössischen Kritiken, aus Zitaten aus Fachzeitschriftten, Pressenotizen, Interviews, Besprechungsprotokollen, Minutenberichten, Interviews des Autors und Interviewzitaten, Sachstandmemos, Korrespondenzen, Aktennotizen, Tagesberichten, Firmenüberlegungen, Abrechnungen.

Nach den Texten über einzelne Filme (mit ausführlichen Angaben über die Credits) gibt es immer auch Ausschnitte aus Kritiken, Einzelvorstellungen wichtiger Darsteller oder Produzenten. Die Gliederung der Berichte über einzelne Filme kann so sein: Titel und Credits, Story, die Arbeit am Drehbuch, die weiteren Vorbereitungen, die Dreharbeiten, die Premiere, Western-Fazit, Auswahl aus zeitgenössischen Kritiken, Namen im deutschen Western (zB Michèle Girardon und versehen mit einem kleinen Foto). Und immer ein spezielles Augenmerk auf die Musik.

Es folgen einige Filme der Nazizeit in Richung Karl-May und Projekte, die in der Endphase des Dritten Reiches noch aufwändig geplant waren, so farbenprächtig und opulent wie „Münchhausen“ mit Hans Albers, die nicht mehr zu realisieren waren.

Die erste Phase nach dem Krieg. Hier dominierte der Heimatfilm; der Western wurde mehr als abgedeckt von Hollywoodproduktionen. Mit dem eigenen Western ging es in den 60er richtig los.

Besonders ausführlich, fast wie ein eigener Roman, sind die Schilderungen über die Herstellung der ersten großen Karl-May-Filme beginnend mit „Der Schatz im Silbersee“. Überlegungen am Anfang, Besetzung, Neukonzeption einer Rolle für Götz George, Details über die Kostümherstellung, über jugoslawische Kaskadeure, Zwischenfälle beim Drehen, die Idee des „boxoffice appeal“, ein von einem Pferd abgebissenes Ohr, Wendlandts Wunsch, keinesfalls Blut zu zeigen („jugendfrei“), bis hin zu Fahrkosten/Diäten-Aufzählungen oder dass Götz George beim Dreh ein Stück verlorene Jugend nachholen konnte, die Pracht des Cinemascope-Farbfilms und der Beitrag der Indianervereine, Kosten und Einspielergebnis oder die Message Winnetous „für Friede, Freiheit, Toleranz, Respekt gegenüber anderen Menschen und Religionen, Menschenrechte, Liebe“.

Merke: Horst Wendlandt hat staatliche Hilfe abgelehnt (ein für unsere Zeit ziemlich ungewöhnlicher Satz eines erfolgreichen Produzenten).

Vom Erfolg Wendlandts angestachelt, fängt auch Arthur „Atze“ Brauner mit Wildwestfilmen an. Ihm hat ein solcher in einer lebensgefährlichen Situation im Krieg das Leben gerettet, indem er im Bruchteil einer Sekunde so reagiert hat, wie er es im Western gesehen hatte. Wodurch sein Bezug zum Genre essentiell wurde. Allerdings verfügt er nur über die Rechte an den Karl-May-Stoffen, die nicht im Wilden Westen spielen, was zwar 80 % ausmacht, aber eben ohne die Winnetou/Old-Shatterhand-Paarung. Dafür produzierte er die Eddy-Constantine-Filme.

Die Konkurrenz zwischen Brauner mit „Der Schatz im Silbersee“ und „Pyramide des Sonnengottes“ gegen die Winnetou-Filme von Wendlandt belebten das Genre.

Aus Wien kamen die Produktionen der „Wiener Stadthalle“. Dann die vielen europäischen Koproduktionen bis zu den Spaghetti-Western mit und auch ohne deutsche Beteiligung.

Die hohe Zeit des deutschen Western war die erste Hälfte der 60er Jahre, nach dem Heimatfilm öffneten sie den Blick in die Ferne, zum Fremden; aber immer mit einem Hauch Romantik im Gegensatz zum harten amerikanischen Western.

Nach Abebben der deutschen und deutsch-europäischen Karl-May-Welle gab es noch viele italienische Western mit deutscher Kapital- und Castbeteiligung. Auch die DEFA hat im Zuge dieser Blüte einige Western gedreht, wobei es ideologische Vorbehalte zu beachten galt.

Die 70er Jahre. Der Neue Deutsche Film, Hark Bohm, Isarwestern, ZDF-Vierteiler, Peter Schamoni, mehr ein Northern, denn ein Western, …
Jack London löst Karl May als Inspirator ab („Jack London ist im Kino weit vom Erfolg der früheren Karl-May-Filme.“)

Das Buch streift auch den Lateinamerika-Amazonasfilm; und knapp wenige, neuere Filme wie Das finstere Tal, wobei der Münchner Autor Thomas Willmann Erwähnung verdient hätte, nach dessen Bestseller der Film gedreht worden ist, dann Gold oder Western von Valeska Griesbach.

Zitate.
Kräftige Bauernburschen sorgen auf freier Ackerfläche für gewagte Reiterrennen“.
Herr Pierre Brice hat Pferde bekommen, die ihn gebissen und abgeworfen haben“.
Ich behielt von Übungen (als besonderes Kennzeichen) einen Coltfinger zurück“ (Horst Frank)
In der Tat erwiesen sich die Hunde als gefährliche Gurgelspringer
Alfred Vohrer meinte, es würde ausreichen, wenn die Jugoslawen oder Italiener statt irgendeines Textes im Grunde nur zählen. Das taten sie dann auch“. (Elke Sommer)
Letztlich stammen die Mexiko-Koloritszenen aus Hans Domnicks Dokumentarfilm „Traumstraße der Welt“.
Die Goldmünzen, die am Ende des zweiten Films erscheinen, waren Kondome, die man so verpackte, dass sie wie Goldmünzen aussahen“ (Kelo Henderson).
Für neue Karl-May-Filme zahlen ausländische Kunden bis zum Zehnfachen eines US-Western.
Immer mehr kommt Routine in die Winnetou-Filmreihe.
9.35 Uhr, 1. Klappe. Die Einstellung ist nicht gelungen, da Herr Lange, der Pyrotechniker, die Rohre nicht gelegt hat wie besprochen.“ (Minutenbericht)
„..die halbe Westernstadt brannte ab, trotz Vorsichtsmaßnahmen.“ (Drehbericht).
Wenn ich bei Shakespeare wirklich gut werde – dann falle ich nie wieder für Karl May vom Pferd!“ (Götz George).
Der für seinen Geiz bekannte Arthur Brauner hat mich in diesen Filmen, wie auch noch in anderen, nicht versichtert.“ (Rik Battaglia)
Es ringot, gringot, roccot und djangot sich.“ (Film-Echo/Filmwoche)
Am Ende hievt Corbucci den Reißer schier ins biblische Mammon-Gleichnis: Pompös und grimmig schön.“ (Ponkie)

Das über 500 Seiten starke Buch ist zu bestellen über den Muehlbeyer-Verlag.