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Bibliothèque Pascal

Stilsicher, inszenierungssicher, kunstsicher erzählt uns der Autorenfilmer Szabolos Hajdu die Geschichte eines kaputten Frauenlebens aus Rumänien. Oder eine europäische Gefällsgeschichte. Wohlstandsgefälle, Armut und die Wege zur Prostitution.

Die Rahmenhandlung. Eine Frau möchte wieder für ihr eigenes Kind sorgen. Sie stellt diesen Antrag in einem nüchternen Amtszimmer einer Amtsperson (in einer nicht exakt definierten Behörde, was als Hinweis mehr auf Symbolismus denn auf Realismus des Filmes interpretiert werden kann). Die Amtsperson, ein Herr, ist nicht unfreundlich, sondern sachlich interessiert, wirkt überhaupt nicht amtsarrogant hinterhältig oder zynisch sondern eher pragmatisch zupackend.

Die Rahmenhandlung wird abrupt unterbrochen und es wird die Geschichte dieser Frau erzählt oder vielleicht nur heiss fantasiert?

Schon als Mädchen ist sie im Zirkus missbraucht worden. Sie war ein Mädchen ohne Heimat und immer Objekt für die Männer. Der Film schildert ihren absurden Leidensweg von Rumänien über halb Europa bis nach London in die Bibliothèque Pascal, einem exklusiven Sexclub, aus welchem sie sich in einer ätherischen Befreiungsaktion, von der man wieder nicht recht weiss, ob sie geträumt ist oder nicht, befreit. Mona, so heißt die junge Frau läuft in ihren Sexsklavinnen-Lederklamotten einfach weg, enteilt in diesem Kostüm in die Strassen Londons.

Längeres Schwarzbild.

Im Amt. Das Einreichen der Forderung nach dem Sorgerecht für das eigene Kind geht weiter. Wie sie die Formulare unterschrieben hat und gegangen ist, wird der Herr entscheiden, dass sie das Kind haben darf. Dann sieht man Mutter und Kind an einem Tisch, fein gedeckt, aber ohne irgend ein Essen und sie tun so, als ob sie ein Festmahl zu sich nähmen; sie gehen in eine Kinderkuschelecke und während Mama anfängt, ein Märchen von einem Schloss zu erzählen, fängt die Kamera an, sich zu entfernen und wir sehen, dass wir in einem grossen Möbelhaus sind, die Beschallung ist STILLE NACHT HEILIGE NACHT und die Leute sind eifrig dabei, Tische zu vermessen, Dinge anzuschauen und einzukaufen.

Monas Leidensgeschichte als das Corpus des Filmes. In Balkan-Surrealismus-Symbolismus-Manier erzählt. Es fängt an beim Zirkus. Sie ist noch ein Mädchen. Sie macht eine Ansage. Der eine Typ steht auf sie. Aber während dieser auftritt, tanzt sie mit einem anderen glühenden Vereherer. Der andere verlässt die Bühne, es kommt zu einer Schlägerei. Sie flieht. Findet sich am Strand wieder. Liegt da. Plötzlich bewegt sich der Sand neben ihr. Ein Revolver taucht aus dem Sand auf, eine Männerstimme zwingt sie, den Sand, unter welchem sich der polizeigesuchte Flüchtling verborgen hält, mit ihren Klamotten neben sich zu bedecken, schon kommt die Polizei mit dem Fahndungsfoto. Balkanklamotte, denken wir. Er flieht am Abend mit ihr in eine einsame Badehütte. Sie diskutieren. Er findet es gut, dass sie ihn beschützt hat. Dann schläft er. Sie betrachtet ihn, Sie will abhauen, weiterer Surrealismus. Plötzlich verwandelt sich die Szene, die beiden sitzen an einem Tisch, die Tapete, die scheußliche wird zu einer Art feiner Schlosstapete, Mona ist in Folklorekleidung, der Typ, der Ausbrecher im Torero-Kostüm, Heirat oder so. Er erwacht, er sagt, er habe das geträumt, hat sie seinen Traum gesehen, nein, er habe die Fähigkeit, andere Leute seine Träume sehen zu lassen. Tief in die Fantasterei hineingeraten.

Mit dem Zug von Bukarest nach Wien, dann nach London. Bibliothèque Pascal. Die wird erst vorgestellt mit einer perfekten Shownummer mit einem Artisten, der auf einem doppelt-mannshohen Dreirad fährt und Fakeln jongliert und drum herum die Members. Sie wird später in das Kabinett Jeann-D’Arc geführt, wo sie je nach Laune der Herren diese oder jene Misshandlung erlebt, alles sehr schön künstlerisch gezeigt, fast wie Performance, wie Kunst dargestellt, der erste schlägt sie, das geht noch, dann gibt’s rätselhaft-litarische-pseudoliterarische Texte, Kunstcollage; sie ist in Ledermontur, dann kommen ins cleane helle Kabinett die Sadisten mit dem aufblasbaren Ledersack, in den sie gesteckt wird, sie pumpen die Luft raus, alles sehr rätselhaft und symbolhaft. Es wird von Desdemona geredet, es geht „um Dein Leben und Deine Seligkeit“.

Übrigens, schön der Gauner am Strand, der geht nachher ganz nackt nur mit der Pistole in der Hand zum Waschraum rüber, und wie er in einem weissen Anzug wieder rauskommt, da stehen wie symbolisch im Halbrund Männer mit Gewehr im Ansschlag vor ihm, aber er geht auf sie zu, sie sind keine realistischen Figuren.

Im Kabinett wird ihr vorgeworfen, dass sie schamlos in Männerklamotten rumlaufe, sie hat einen Military-Anzug an. Und die weisse Puppe.
Eine sehr künstlerische, kunstvolle Reise in die Abgründe des Sexlebens von reichen Gesellschaften.
Die Wahrsagerin ist ihre Mutter, auch da gibt es eine merkwürdige Begegnung.
Ein sich selbst genügendes Künstlertum, Guru, Visionär, Scharlatan, wilder Fabulierer, das muss man bei solchen Filmemachern fragen.
Im Kabinett wird ihr Heroin in den Arm gespritzt, darauf kommt eine weitere halluzinatorische Szene. Bilder eines traumatisierten Lebens.
Ihr Kind hat sie, so gibt sie es später zu Protokoll, an der Entbindungsstation in der Kötölös-Straße zur Welt gebracht.
Schöpft der Filmer mit grosser Kelle aus den Abgründen der Seele, spezieller: der europäischen Seele oder gar der Balkanseele?

Beginners

Das grösste Thema des Kinos ist die Liebe, und falls dem nicht so sein sollte, dann ist sie zumindest eines der grossen Themen des Kinos. Liebe will gelernt sein. Die sie hier zu lernen haben, das sind die Beginners. Das Ziel dieser Liebe ist: to be real. Das dürfte heißen, dass die Liebe etwas Persönliches ist.

So ist der Film. Der kommt wie der persönliche Film von Oliver. Er ist der Sohn von Hal. Hal hat 1955 geheiratet. Oliver kam in den frühen Sechzigern als einziges Kind zur Welt. Sein Vater hatte schon vor der Heirat seiner Mutter gesagt, dass er schwul sei. Er war Museumsdirektor. Wie seine Frau gestorben ist, da war Hal schon über 70. Da fing er ein geoutetes Schwulenleben an, hatte einen jungen Freund, Andy, der in ihm den Vaterersatz fand und ihn liebte. Hal war ab da „real“. Machte bei der Schwulenbewegung mit, bei Feten, wurde bald krebskrank; aber auch seinem Tod sah er wach und ohne zu jammern, immer im Gefühl, „real“ zu sein, entgegen. Er machte sich nicht viel draus.

Der Film fängt nach dem Tod von Hal an. Oliver räumt die Wohnng auf. Es sind Erinnerungsfetzen, es gibt eine Szene vor dem Haus, wo Oliver etwas auf einen Riesenberg von Müllsäcken wirft. Das erinnert an den Film von Thomas Haemmerli „7 Mulden und eine Leiche“, der mit dem Ausräumen der Wohnung seiner Mutter Erinnerungsarbeit verbindet.

Das erste und wichtigste Erbstück ist ein Hund, eine Promenadenmischung. In dem findet Oliver nach dem Tod des Vaters eine Art Gesprächspartner. Wenn er ihn anschaut, schreibt er ihm Texte zu, die im Film als Untertitel erscheinen.

Oliver selbst hatte zwar schon Verhältnisse gehabt, Liebesverhältnisse, aber nichts von Dauer. Der Film zeigt nun, wie er parallel zur Erinerungsarbeit selber sich auf den Weg macht, „real“ zu werden. Ob das wirklich so gelingt wie bei seinem Vater ist eine andere Frage.

Zu diesem „Real“-Sein (also immer in der englischen Bedeutung) gehört aber nicht nur die Suche nach Beziehung, sondern auch das Malen. Er malt in seinem Atelier sonderbare Zeichnungen, Köpfe, Texte. Auch fängt er an mit Graffity-Sprayen ohne Angst vor Entdeckung, ein sonderbares Outing, wenn man so will. Er macht nie einen richtig glücklichen Eindruck. Hat ihn das demonstrativ vorglebte späte Glück des Vaters eingeengt, entmutigt? Oder ist er eher von Natur aus nicht zum Glück disponiert; man könnte jetzt philosophieren, wie weit ein Mensch seines Glückes Schmied sei.

Zu den privaten Erinnerungsstücken gehören auch Bilder des Besuches einer Vernissage mit der Mutter. Oliver war vielleicht 8, und wie die Mutter einer Dame, die tiefsinnig-komplizierte Kunstwerks-Exegese betreibt, richtig faxenhaft blöd über die Schultern schaut, wird es dem Buben zu peinlich und sie verlassen die Veranstaltung, wobei die Mutter noch vorschützt, der Bub habe eine komplizierte Erkrankung, hoffentlich meint sie nicht die Fantasie damit. Oder die Mutter spielt mit dem Buben, sie macht mit der Hand eine Schießgeste und der Bub fällt auf der Stelle tot um, aber das muss nochmal geübt werden.

Seine Suche nach Beziehung beschreitet wunderliche Wege. Er geht an eine Kostümfete verkleidet sich als Psychiater mit Bart und Perücke, setzt sich neben ein Sofa (Dr. Freud lässt grüßen) und berät Frauen, die sich bereitwillig hinlegen. Kann aber nicht viel helfen. Bis Anna kommt, die eine spielt, die nicht sprechen darf (resp. wegen Kehlkopfentzüngung gar nicht kann), ein reizvoller Einfall. Sie muss ihren Text, ihre Fragen immer auf einen Notizblock schreiben und hält diesen dem kostümierten Seelendoktor hin. Sie sagt ihm auch gleich, dass er unglücklich sei. Sie ist Schauspielerin, wohnt in New York.

Anna logiert im Hotel und es entwickelt in langsamen Lernschritten eine Beziehung, sie schlafen dann wohl auch miteinander, aber das ist nebensächlich. Die Entwicklung dieser Beziehung wird immer wieder unterbrochen durch Reminiszenzen an den Vater, resp. es werden Szenen aus seinem Leben eingespielt, vom Glück mit Andy, von den politischen Aktivitäten, von Feten und dann vom langen Sterben und dem Schlauch im Mund, der ihn stört.

Übrigens wird auch das mit der Musik sehr geschickt gehalten, gelegentlich ein paraphrasierndes Trompetensolo oder mal was Zeitgenössisches.

Was filmisch gut gelöst ist, dasss Oliver also nicht in den Kisten klaubt und Dinge hervorzieht. Man sieht ihn nur in der Wohnung und mit dem Hund sprechen und die Erinnerungen steigen praktisch aus den Kisten heraus. Sie sind ihm Leitfaden beim nicht unkomplizierten Verhältnis mit Anna, das ein unentschiedenes Hin und Her ist.

Der Film zeigt einen Oliver, der nie an seinen Vater heranreichen dürfte. Vielleicht weil ein nicht schwuler Mann auch nie diesen Freiheitsgenuss so demonstrativ ausleben kann wie ein einmal geouteter Schwuler? Komisch auch,  dass  Oliver nie einen Kontakt zu Andy, dem Geliebten des Vaters hatte. Das wird auch thematisiert. Wie Oliver  nach New York reist, muss er den Hund irgendwo unterbringen. Dafür ist Andy richtig. Dieser macht Oliver allerdings den Vorwurf, er würde den Kontakt zu ihm, dem Partner seines Vaters,  meiden, wohl weil er schwul sei.  Nach einigem Zögern und man nimmt es dem Schauspieler ab, dass es ihn Mühe kostet, geht er auf den großen Andy zu, legt sich an seine Brust und wird von ihm gedrückt. Aber was in seinem Gesicht vorgeht, das sehen wir nicht.

Schon der Vater von Oliver hatte zu seinem Vater ein Nicht-Verhältnis.
Wenn man genauer hinschaute, könnte einem auch klar werden, dass Oliver durch die Besetzung mit dem Schauspieler Evan Mc Gregor einen Typen darstellt, der abgrundtief vatergestört scheint, der den Eindruck erweckt, er müsse immer Teile oder Ecken der Realität ausblenden (könne also entsprechend wenig „real“ sein), weil dort jederzeit der Vater auftauchen könnte.

Ein Film, der sich unspektuakulär mit dem Thema Liebe (und Tod und Leben) befasst, der das Thema vor allem in seiner Komplexität (auch: Liebe und Macht!) zu erfassen sucht; Liebe auch als Konkurrenz-Verhalten, denn Christopher Plummer strahlt als geouteter Schwuler und Vater ein solches Glück und eine solche Souveränität aus, da wird der Sohn, noch dazu mit einer Hetero-Liebe, nicht so schnell aufschließen können.

Arrietty – Die wundersame Welt der Borger

Politisch korrekt ist das nicht so ganz, sich seine lebenswichtigen Güter zu “borgen” ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, sie je wieder zurückzugeben – na, was ist daran unkorrekt, das machen doch die Vereinigten Staaten und Deutschland und Griechenland und Portugal und Irland und alle, alle auch, sie borgen und borgen und borgen. Inzwischen könnte man meinen, auch sie denken nicht daran, das Geld je wieder zurückzuzahlen.

Nun, es gibt dann doch noch Unterschiede zwischen den Staaten und den Borgern aus diesem wunderbaren japanischen Anime. Die Borger, die wir hier kennen lernen, eine Familie bestehend aus Mama, Papa und dem Töchterchen, der wunderbaren Haupt- und Titelfigur Arrietty, Traum einer Animefigur, die machen das anders, denn sie borgen sich von den Menchen nur das Lebensnotwendige und nur soviel, dass die Menschen es nicht merken. Sie erfüllen sich in gewisser Weise den Nischentraum. Wenn die Menschen das allerdings merken oder wenn die Menschen sie gar zu Gesicht bekommen, dann ist Schluss mit dem Traum. Dann müssen die Borger ausziehen und sich eine neue Bleibe suchen.

Dazu muss erwähnt werden, dass die Borger ganz kleine Lebewesen sind, wahre Winzlinge, die sich in minimen Hohlräumen oder exklusiverweise auch mal in einer Puppenstube in der Gerümpelkammer des Hauses, das sie sich als ihr Quartier ausgewählt haben, einnisten. Ihre Ausflüge in die Vorratskammer oder in die Küche ihres Gasthauses, das sind wahre und halsbrecherische Expeditionen durch Leitungsrohre und Hohlräume und Ritzen zwischen Brettern mit waghalsigen Abseilaktionen und Klettereien auf Küchentische und Küchenschränke. Und sie dürfen sich nicht erwischen lassen dabei.

Aber eine schöne Geschichte wäre keine schöne Geschichte, wenn nicht genau das passieren würde, was nicht passieren darf und wenn sich die Dinge dann nicht doch noch zu einem glücklichen Ende entwickelten. Auch darum lieben wir solche Geschichten.

Die Familie des Gasthauses unserer Borger hat nämlich einen kränklichen Sohn, der heisst Sho, und die Familie besteht sowiso nur aus ihm, seiner Mutter und einer alten Haushälterin, die für die Borger bald die Böse wird. Sho bekommt nun Arrietty eines Tages verbotenerweise zu Gesicht und Sho und Arrietty freunden sich an entgegen den Gepflogenheiten der Borger. Allerdings kommt die Haushälterin Haru dahinter und will die Borger vertreiben, sie scheut vor keinen drastischen, ja sadistischen Mitteln zurück, nicht mal davor, den Kammerjäger auf die Borger anzusetzen. Aber weil wir im Märchen sind, nimmt das alles eine gute Wendung. Mehr sei hier von der Geschichte gar nicht ausgeplaudert.

Was mir gefällt an diesen Borgern ist, dass sie sich nur die Dinge borgen, die sie wirklich zum Leben brauchen und nur so, dass niemandem auffällt, dass er einen Schaden hat. Das machen die Staaten schon ziemlich anders. Die borgen Geld um Dinge zu tun, die sie überhaupt nicht bräuchten, um Atomwaffen zu bauen, um Milchprodukte zu subventionieren, die dann in Afrika zu Hunger führen, um für Milliarden Projekte auf die Beine zu stellen, die niemand braucht, um Industrien zu subventionieren, die auch ohne Subvention leben könnten, oder die Waffen herstellen, bei denen Einzelne auf Kosten der Allgemeinheit überproportional viel Geld verdienen und die der Menschheit nichts Gutes tun und sowieso der Allgemeinheit keinen Nutzen bringen. Die Borger beschaffen sich nur, und das in aller Bescheidenheit und ohne jemandem merklich zu schaden, eine Art Grundeinkommen.

Was mich bei Filmen mit Winzlingen auch immer beschäftigt, das ist die Relativität von Grösse, die sie einem bewusst machen. Die kleine Welt der Borger ist eine ganze Welt. Und wie rücksichtslos doch die grosse Welt der Menschen, bis eben auf den sensiblen Sho, mit der für sie kaum wahrnehmbaren Welt der Borger umgeht. Wie beschränkt doch jede Welt auf ihre Grösse ist. Wie leicht sie die absolut setzt. Wie brutal der Zuschauer es empfindet, wenn Haru die Mutter von Arrietty in der Puppenstube entdeckt und sie in ein leeres Marmeladenglas einsperrt. Das tut weh. Und wie man sich vielleicht bewusst wird, wie man selber eine störende Fliege gedankenlos killt.

Solche Klein-Gross-Filme sind immer auch dazu angetan, den Respekt vor anderen Welten einzufordern, den Blick auf die Relativität eigener Grösse zu richten. Das tut dieser Arrietty-Film auf grandiose Weise.

Mein Filmtipp der Woche.

Morgen das Leben

BOGENHAUSEN ODER PERLACH, das ist hier die Münchner Frage. Die Filmemacher haben sich für Perlach entschieden, also für das nicht schicke München.

Im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Filmern, scheint das Autorenpaar Timm/Riedel und dann der Regisseur Riedel schon mal genau hinzuschauen. Das macht der dokumentarische Background.

Von Riedel in wohltuender Erinnerung ein anderes München-Movie, die Dokumentation „Draussen bleiben“ oder von Bettina Timm „Herr Zhu“, eine präzise beobachtende, fesselnde Wiener Dokumentation.

Wo schauen die beiden mit diesem neuen Film hin? In ein ein gesichtsloses Münchner Neubaugebiet, wie sie in und um München sprießen wie die Pilze im Herbst. Modernes, bequemes Neubauviertel, ob Hasenbergl, Panzerwiese, Neuperlach, Messestadt, das spielt keine Rolle.

Wie unter einem Mikroskop haben sie sich einige der Menschen in diesem Gewusel näher betrachtet, schauen ihnen zu, wie sie sich abmühen, wie sie ihr Leben lebenswert zu gestalten versuchen; diesmal es ist allerdings inszeniert mit einer Methode, die sich am Dokumentarischen orientiert, also möglichst plausibel rüberkommen soll. Und so vielleicht einen wichtigen Impuls zur Erneuerung des deutschen Kinos mit seinem verhängnisvollen Hang zum Studienratsgehabe, geben können. Die Welt hat also nicht so zu sein, wie der Filmemacher sie sich ausdenkt, modellhaft bis belehrend und oft rechthaberisch und unbelehrbar, und wie er sie sich in seiner Schulweisheit ausdenkt, die Welt ist vielleicht anders und voller Überraschungen, wenn man nur genau hinschaut, wenn man sie erforschen will.

Die Filmemacher beobachten einige Menschen, die in einer dieser modernen Siedlungen wohnen, wie sie sich einzurichten versuchen, denn das Leben, das ist norgen, wenn man den Titel beim Wort nehmen will, sie beobachten diese Menschen also bei den Vorbereitungen auf das Leben. Und nur dem Zuschauer dürfte klar sein, dass sich deren Leben in diesen Vorbereitungen auch erschöpfen wird. Kleine Menschen. Denn die Not des Wirtschaftens wird sie für immer an dem erträumten Morgen hindern. Das ist die weder aggressive, noch schulmeisterliche, noch überhebliche, noch vergiftete oder zynische sondern den Menschen herzlich zugeneigte Botschaft dieses Filmes. Weil sich die Filmemacher selbst vielleicht auch nicht viel anders sehen. Sie wuseln in ihrer Filmwelt, auch wenn sie eine Kostbarkeit nach der anderen hervorbringen.

JUDITH, die offensichtlich nicht mehr Stewardess ist, spielt ihrem Kind die Rolle immer noch vor, wenn sie ihm Essen serviert, als sei sie hoch über den Wolken. Sie macht übers Telefon Kundenbefragungen und nimmt noch einen zweiten Heimjob an, den sie während des Telefonierens ausführen kann: Gefässe zusammensetzen, einen Kleber dranpappen und ein Röhrchen reinstecken. Sie geht sogar so weit, dass sie in Uniform und mit Rollkoffer aus dem Haus geht, eine Runde dreht und wieder nach Hause kommt, um den Anschein des Stewardessen-Berufes aufrechtzuerhalten.

ULRIKE möchte nochmal was Neues anfangen, sie lässt sich anlernen für einer Art mobiler Massage; Balancing, so reflektiert Ulrike, wenn sie das einmal die Woche gehabt hätte, dann wäre ihr der Freund nicht davon gelaufen und dann hätte sie ihren Job beim Sozialreferat nicht aufgegeben und dann müsste sie nicht dieses mobile Balancing-Geschäft betreiben. Es gibt sehr schräge Bilder, wenn sie mit einer Kollegin im orangenen T-Shirt und mit einer japanischen Mikado-Frisur aus der Münchner U-Bahn die Rolltreppe hochfährt. Erinnerung an eine japanische Vergangenheit. Sie bietet auch den schönsten Moment des ganzen Filmes, während sie in einem Kurs lernt Brautschleier aufzusetzen, und wie sie ihn dann aufhat, dann wird sie unvermittelt von einem Weinanfall erfasst, einem Weinausbruch, das ist erschütternd komisch. Davon hätte man gerne mehr gesehen, das ist die Richtung, in die sich die Macher des Filmes weiter vor trauen sollten.

JOCHEN ist in einem Wohnheim untergebracht mit einem etwas sturen Verwalter und nimmt immer sein Fahrrad mit auf sein Zimmer, hat Probleme mit der Herdplatte – das ist überhaupt eine der guten Qualitäten dieses Filmes, dass die Figuren immer etwas zu bewältigen haben, insofern schaut man schon mal interessiert zu. Jochen lässt sich zum Versicherungsvertreter ausbilden, er bekommt genaue Anleitungen, wie er seine Kunden behandeln soll, sich zuerst für sie interessieren, zum Beispiel für das Staubsaugerbild an der Wand, das der Kunde vor Jahren selbst gemalt hat (das ist eine Szene, die vielleicht von der Performance und Inszenierung her, was den Publikumserfolg betrifft, mehr hätte hergegeben können, ohne an Ernsthaftigkeit zu verlieren). Jochen darf in einem leerstehenden Musterhaus schlafen. Hier kommt es unverhofft zu einer Fickszene, aber die ist nicht interessant, weil es dabei nichts zu bewältigen gibt, weil die vollkommen rausfällt aus dem Film, weil sie mit dem Thema überhaupt nichts zu tun hat.

Der andere Need-Strang der Figuren ist der, dass sie versuchen müssen, andere Menschen zu manipulieren, zu überreden: eine neue Zeitschrift zu abonnieren, sich massieren zu lassen oder sich von Jochen eine Versicherung aufschwatzen zu lassen. Anleitung zur Manipulation. Unter diesen Aspekt gehört eine Szene mit einer Yoga-Lehrerin, die man gründlicher hätte durchdenken können und konsequenter ihrer Argumentation folgen, um somit Jochen ganz anders in die Bedrouille zu bringen, ohne dass es in billigen Boulevard ausgeartet wäre.

Eine wunderbar Zwischensequenz fernöstlichen Ursprungs sind die morgendlichen Jogger im Einkaufszentrum, wenn sie in einer Reihe alle eine Rolltreppe die falsche Richtung hinauf laufen. Da kam mir kurz PLAYTIME von Jacques Tati in den Sinn.

In manchen Momenten ist mir die durchaus ausgeklügelte Soundkulisse aufgefallen. Andererseits ist das Ganze in seinem Hupfen vom einen Strang zum anderen doch recht TV-teilig geraten, aber TV-Sender sind Ko-Proudzenten.

In gewisser Weise kann bei den Machern eine durchaus liebenswerte Attitüde zum Obekt festgestellt werden, eine Art Forsetzung der Miniaturmalerei.

Ausserdem gibt es eine schräge Höhensonneszene. Auch schöne Zwischenbilder von Morgendämmerung und Münchner Strassenkehrmaschinen.

Am Schluss kann sich die Riedel vor lauter Begeisterung gar nicht von seinem München trennen, da ist die Geschichte längst nicht ausserzählt, wenn Jochen wie schon erwähnt im Musterhaus fickt, wenn die Arena ins Bild kommt, wenn noch ein Flugzeug über die Heide fliegt, wenn Ulrike sich noch an die renaturierte Isar begibt

Generell möchte man Riedel/Timm zurufen: Ihr seid auf dem richtigen oder auf einem richtigen, zukunftsfähigen Weg, aber mehr Biss, mehr Mut zu mehr Privacy, das dürfte Ihr ruhig entwickeln, vor allem eines: das Buch, das Buch, das Buch! Sich auf einen Konflikt mit all seinen penibel durchdachten Konsequenzen konzentrieren und diesen ohne Konzessionen ans Fernsehen zum radikalen Kino bürsten. Mut, Mut, dann liegt grösserer Erfolg in der Luft. Courage, meine Herrschaften!

Das Blaue vom Himmel

Die Autoren sind noch relativ jung laut IMDb, offenbar zu jung, um wenigstens in der IMDb kurz zu schauen, ob es ihren geplanten Titel „Das Blaue vom Himmel“ nicht vielleicht schon gibt. Es gibt ihn, schon mindestens viermal. Also bereits die erste Empfehlung, die sich die Autoren (oder vielleicht die Produzenten) hätten geben können, nämlich qua Titel eine gewisse Einmaligkeit des Werkes zu beanspruchen, geht daneben. Kein guter Einstieg.

Den nächsten Dämpfer für allfällig hohe Erwartungen, die der Name Steinbichler als Regisseur in manchen Filmkreisen vielleicht noch auszulösen vermag, bringt die Nennung von Degeto in den Titeln. Damit sind leider in letzter Zeit einige sehr enttäuschende Kinoerlebnisse verbunden, richtig schludrig oberflächliche Bücher und mäßig spannende Besetzungen. (Das wird hier leider nicht anders werden).

Das Blaue vom Himmel versprechen, das ist die erste Assoziation zum Titel. Das Blaue vom Himmel schwatzen. Das Blaue vom Himmel auf die Leinwand malen. Nun ja, wenn einer das schon so behauptet, so könnt eventuell Witz in der Luft liegen, wenn er sich denn einen Spaß draus machte und der Fantasie die Sporen gibt, auf Esprit wollen wir die Hoffnung allerdings nicht ausweiten. Was also ist dieses Blaue?

Dieses Blaue ist hier ein merkwüdig banales Herz-Schmerz-Mutterherz-Kino, noch dazu nicht ausreichend begründet erzählt aus der Perspektive einer Frau, die am Schluss des Filmes erfährt, dass ihre Mutter, die im Film verrückt geworden ist, gar nicht ihre Mutter ist. Die Tochter hat aber nie darunter gelitten. Sie hat es nicht gewußt und folglich die wahre Mutter auch nicht gesucht. Um also aus dieser Geschichte, die so nicht weh tun kann noch Empathie zu erzeugen, Gefühle zu evozieren, muss ein Baby minutenlang schreien, und damit die Kontinuität der Gefühle über die Jahrzehnte gewahrt wird, muss die ganze zusammengeclusterte Chose noch an einen Flecken brauner Vergangenheit angekoppelt werden, das kommt immer gut bei den Gremien in Deutschland.

Gewidmet ist der Film “für unsere Mutter“, ein Mutterfilm also. Mütter und Nation, auch so eine Assoziation.

Steinbichler liebt die hellen und luftigen Bilder, er liebt es auch, mit der Kinokamera und der Regie Dinge wichtig zu machen, die nicht wichtig sind, sie aufzublasen, nichts darf gewöhnlich erscheinen, alltäglich, schon gar nichts, was verraten könnte, dass es sich um eine vollkommen unausgegorene Geschichte handelt.

Sie fängt an mit einer Szene des Glückes, 1933, da war man an der Ostsee unbeschwert in weißen Anzügen und weißen Röckchen und konnte als junges Paar am Sandstrand rumbalgen, Glücksszenen wie so häufig in solchen und ähnlichen Filmen. Bis das Paar plötzlich einen Bernstein-Ring in der Hand hält. Text dazu: „gefangen in alle Ewigkeit“. Zeitsprung. Wir sind jetzt 1991. Das ist die große Zeit von Hannelore Elsner. Sie prononciert vom ersten Satz an überdeutlich, das hat vielleicht Steinbichler von ihr so gefordert. Außerdem darf sie die Verrückte spielen, Untertext, ich bin Schauspielerin, denn ich spiele eine Verrückte und zwar so, dass auch die auf den Rängen merken, dass ich das nur spiele, aber es nicht bin.

Was Schauspielerinnen auch gerne tun, wenn sie inneren Monolog oder eben “verrückt“ mimen sollen, sie singen ein bekanntes Lied, hier ist es aus Franz Lehárs Lustige Witwe „ich hab Dich lieb“, das ist schön und volksnah, tut aber weiter nichts zu Sache, denn sie ist ja, wie sich bald definitiv herausstellen wird, verrückt.

Sie fährt in einer Taxe in Wuppertal, wie gesagt 1991, an eine bestimmte Adresse. Dann steigt sie aus und geht direkt die Treppen zu dem älteren Haus hinauf. Der Taxifahrer hat inzwischen die Rechnung ausgestellt, 82 DM. Aber sie läuft davon. Das muss also eine große Bedeutung haben, wenn eine solche Kleinigkeit früh in der Geschichte so gewichtig erzählt wird. Er ruft ihr nach. Sie reagiert nicht. Er folgt ihr in die Wohnung. Sie versteht 182 DM. Nein, 82. Jemand muss ihr Geld pumpen, „Juri, ich brauche Geld für die Taxe“, der Taxifahrer steht in der Wohnung, Elsner sagt zu Juri „Wie schön bist Du“, herrscht den Taxifahrer an, hier gebe es Kaffee. So eröffnet man offenbar heutzutage eine Geschichte auf der Suche nach der richtigen Mutter, von der frau nicht weiß, dass es sie gibt und dass frau sie sucht. Da nun also weder die Darstellerin noch der Zuschauer weiß, dass diese Figur die Mutter ist, die die in der nächsten Szene auftretende Frau nicht sucht, so behilft sich das Script mit dem offenbarenden Kommentar zum Taxifahrer „ein Schuft, wer mehr gibt als er hat“. Muttersuche, ganz klar, unserer Mutter gewidmet. Denn wir haben es mit hirnmuskulösem Kino zu tun, das darf sich enigmatisch gebärden. Doch der Rätsel nicht genug. Jetzt wirft Frau Elsner aus einem Fenster des oberen Stockwerkes Porzellanteller. Sie hat einen Wurf, wie nur eine Titanin ihn haben kann, ein Urbild von Tellerwerferin, denn die Teller landen punktgenau, also über mehrere Meter der Freitreppe, auf der Kühlerhaube der Taxe weit unten auf der Straße. Schnitt. Thema Tellerwerfen und Taxe erledigt. Der Zuschauer will sich noch kurz überlegen, was es mit dem Tellerwerfen auf sich hat, ob das ein Hinweis auf griechische Hochzeiten sein soll.

Aber schon ist Frau Elsner in der Küche. Sie darf jetzt weiter verrückt spielen und schüttet eine Packung Kaffee in eine Pfanne, in welcher sich ein Gericht mit Teigwaren an Tomatensauce befindet. Ein bisschen scheint diese Frau durcheinander zu sein. (Mir huscht durch den Kopf, da habe ich doch tatsächlich von Frau Elsener was abgekupfert, nämlich wie sie in einem Toscana-Sommer-Film von Rudolf Thome die Spaghetti ins kochende Wasser eingebracht hat).

Frau Elsners Verrücktheit dürfte jetzt deutlich genug gemacht worden sein. Zeit für einen Sprung nach Berlin in eine Redaktion, wo eine Frau Schleier, wer genau hinschaut, kann unter der dicken, glattsträhnigen, blonden Perücke und hinter der fetten Brille Frau Juliane Köhler, eine bekannte Darstellerin des deutschen subventionierten Kinos, erkennen, dabei ist, ein Feature über Estland im zweiten Weltkrieg zu recherchieren. Just da kommt der Anruf, dass die Mutter von Frau Köhler, also Frau Elsner, in Wupptertal in der Psychiatrie sei.

Wir sind jetzt beim Ehepaar Schleier im highbrow-intellectually eingerichteten Berliner Altbau, riesenhohe Räume mit Bildern und Büchern bis unter die Decke. Hier wird ausführlich diskutiert, ob nicht ihr Mann morgen nach Wuppertal könne. „Ich soll morgen 600 Km nach Wuppertal fahren?“ Na ja, dann fährt halt doch die gestresste Gattin und der Ehegatte meint (das ist einer dieser Sätze, die aus einem Degeto-Drehbuch-Rezept-Ratgeber stammen könnten) „Wenn ich alt bin, möchte ich auch mal so geliebt werden“ und „es ist Deine Mutter“.

Die Tonspur wird daraufhin zum Träger sensibler Klänge und Töne, als ob es sich um große Kunst handle.

Nun ist Frau Köhler bei Frau Elsner, die verrückt, aber nicht ihre Mutter ist, was Frau Köhler aber nicht weiß, noch erfahren will. Mutter und Tochter. Anlass für im Degeto-Kosmos willkommene und gern gesehene Mutter-Tochter-Bilder. Die werden mächtig orchestral mit Bedeutung aufgeladen. Großes Gefühlskino.

Sprung zurück, nie zu lang bei einer Beziehung, bei einer Szene bleiben, das gefällt den Fernsehfunktionären, also nach der Krankheitsszene wieder zurück zu freundlich einladenden 30er Jahre-Bildern, eine Party am Strand, Heißluftballon, helles, erheiterndes Licht und ebensolche Atmosphäre ringsum.

Und wieder die Birkenalle 81 in Wuppertal, zu der die Taxifahrt 82 Dm gekostet hat; man könnte zum Zahlenmystiker werden angesichts der bisherigen Inhaltsleere des Filmes.

Jetzt ist es Zeit für einen gehaltvollen Degeto-Satz von Frau Elsner „Der schönste Platz ist doch bei der Familie“. Oder: „Man muss Juri reinen Wein einschenken“ denn die Degeto liebt die Wahrheit.

Mutter und Tochter schauen in der Birkenalle 81 alte Fotos an. „Ekelhaft“ findet Frau Elsner zu einer Person. Frau Köhler darf aufklären „Das bist Du Mutter“ (unserer Mutter gewidmet). Und Frau Köhler weiß immer noch nicht, dass ihre Mutter gar nicht ihre Mutter ist und will es auch nicht wissen).

Die neue Hausherrin von Birkenalle 81 beklagt den Verlust der Teller, die Frau Elsner auf die Taxen-Kühlerhaube geschmißen hat, denn die stammen aus dem Baltikum. „Ach, sie stammen aus dem Baltikum“ .

Weiter Fotos anschauen. Frau Elsner verrücktet „Schweinedreck“, „um was geht es“. „Papa hätte lieber einen deutschen Schwiegersohn gehabt“.

Zu viel des geistigen Anspruchs, wir brauchen einen kleinen Ausflug aufs Eis: Mutter und Tochter auf der Eisbahn. Da die Szene für den Film weiter nicht von Belang ist und die Handlung nicht einen Millimeter vorwärts bringt, empfiehlt sich der bewährte Griff in die ausgeleiert-aufdonnernde Degeto-Musik-Kiste.

Zeit für einen gehauchten Satz von Frau Elsner: „ich bin die größte Liebende der Welt“. Verrückte, Kinder und Weise, sag ichs doch.

Während Frau Elsner an der Birkenalle 81 im Bad ist, im Jahre 1991, durchwühlt Frau Köhler mit der glatthaarigen Perücke die Tasche der vermeintlichen Mutter. Jetzt kommt es an den Tag – im Hintergrund singt Frau Elsner ein Lied, auf einem Bild ist die Mutter, die von Frau Elsner als Verrückte gespielt wird, und die im Film Marga heißt, da entdeckt Frau Köhler ihre Mutter Marga mit einem Mann „den ich nicht kenne“ (waren ja auch schon 60 Jährchen her). Die Vergangenheit bricht brutal ein in eine schöne Mutter-Tochter-Idylle.

Auf diese Weise irrlichtert diese Nicht-Geschichte einer Tochter, die zufällig herausfindet, dass ihre vermeintliche Mutter gar nicht ihre leibliche Mutter ist, umher zwischen 1933 und 1991 und lauter banalen Degeto-Sätzen. Ausweg: ein Schnitt, ein Sprung nach Tallin. Frau Schleier findet die richtige Mutter. Das ist nun eine sehr verschlossene Schauspielerin, die nicht viel spricht. Das ist für einen dramatischen Spielfilm höchst unergiebig und Steinbichler rettet mit dem Einfall, die beiden Damen, die jüngere im Hosenanzug, fotomodelhaft ans Meer zu stellen. Mehr konnte er da auch nicht rausholen.

Irgendwann, etwa nach 99 Minuten, löst sich die Nicht-Geschichte in einen wunderbar pastellen wirkenden blauen Himmel auf, auch das Blaue, das uns vorher daraus erzählt worden ist, verschwindet so wie auch dieser Film sehr schnell von den Leinwänden verschwinden wird, als sei nichts gewesen. Im Namen der verarschten Gebührenzahler sollte man die Degeto-Redakteure schadenersatzpflichtig machen, dass sie für teures Gebührengeld ein geistig so armseliges Werklein (und auch gar nicht lustig) finanzieren. Dass inzwischen Banker und Diktatoren für ihre Missetaten zur Verantwortung gezogen werden, lässt hoffen, dass auch öffentlich-rechtliche Fernsehredakteure nicht für alle Zeiten für ihre Untaten ungeschoren davon kommen werden.

Gregs Tagebuch 2 – Gibt’s Probleme?

Was kann man sich bei einem Film über eine Jugend mehr wünschen, als dass einem die eigene Jugend wieder lebhaft in Erinnerung kommt und einem so präsent werden lässt, dass die Gegenwart nicht das Ein und Alles sei und dass man selbst auch eine Geschichte hat? Aber was mir auch bewusst wurde, dass die Jugend nichts anderes ist, als ein oft fröhliches, oft schmerzliches Lernen und Ausprobieren. Was viele Verrücktheiten im Gefolge hat.

In Gregs Tagebuch 2, das bunt und fröhlich und mit lustigen Animationen dazwischen wie Zeichnungen aus einem Tagebuch angereichert ist, haben Greg und seine Freunde den grossen Sprung von der 6. in die 7. Klasse gemacht; in der Jugend liegen von einem Jahr zum anderen Welten. Jedes Jahr bringt seine eigenen Abenteuer, Entdeckungen, Entwicklungen. Die Mädchen werden jetzt immer wichtiger, aber die sind grösser und weiter entwickelt und unerreichbar und sie nehmen die Jungs gleichen Alters auch gar nicht so richtig ernst, was wohl einer vorausschauenden Weisheit der Natur zu verdanken ist.

Wir befinden uns als noch in einer Vorstufe zur Romantic Comedy, ganz ohne Schmachten, hier ist es noch ein Spiel, was kriegen oder nicht kriegen, weit entfernt von unendlicher Verliebtheit, die die Seele eines jungen Menschen in den Himmel heben kann oder Höllenqualen leiden lässt.

Den erzieherischen Rahmen für dieses Jahr vertritt öffentlich die Mutter von Greg, die Redakteurin beim lokalen Trumpet ist und wunderbar über Erziehung und die Erziehung zur Wahrheit schreiben kann. Viel zu schön, um wahr zu sein und die Entwicklungen zuhause, die werden sie beschämen. Denn nach der grandiosen Party, die die Jungs, genau genommen Gregs älterer Burder, während einer vorübergehenden Abwesenheit der Eltern veranstalten und weil die Wiederherstellung der Wohnung in den alten Zustand nicht mehr spurlos zu bewältigen ist, hilft am Ende dem Familienglück zuliebe nur noch Lügen. Greg wurde nämlich dank seiner Raffinesse selbst zum Komplizen der Veranstaltung. Man will vom älteren Bruder lernen und teilhaben. Das erzieherisch Wertvolle am Lügenverbot entpuppt sich als wertvoll gerade durch die Lüge, gerade durch die Lüge werden die beiden Brüder, von denen die Eltern sich nichts sehnlicher wünschen, als dass sie guten Kontakt zueinander haben, dickste Freunde. Das ist schon ein verrücktes Ding mit der Erziehung, um welche Ecken sie sich dann doch schliesslich gegen alle gut gemeinten Absichten durchsetzt.

Weitere Streiche, die auf dem Wege zum erzogenen Menschen unabdingbar sind: der Streich mit dem vorgeblichen Liebesbrief der Angebeteten, der ein Racheakt des nicht beachteten indischen Freundes ist; wie der ältere Bruder Greg für die Party in den Keller lockt und dort einsperrt; wie Greg sich mithilfe eines Erpresserargumentes und eines Telefons wieder befreit; wie einige gezielt gestreute Brösel am Boden vom wahren Ausmaß des Chaos ablenken sollen; oder wie Greg mit seinem dicken Kumpel Horrorfilme schaut; dann die Szene im Altenheim, wo Greg in Unterhosen seinem Tagebuch nachrennt, aber auch Streiche wie der mit der falschen Kotze auf Autos vorm Supermarkt, was sich halt so gehört für eine gesunde Jugend.

Was den Genuß noch erhöht, dass unabhängig ihres Alters die Darsteller alle ihre Probleme ernst nehmen und sie nie verkindet in Szene gesetzt sind.

Wir sind was wir sind – Somos lo que hay

Hm, interessant, pflegen höfliche Menschen zu sagen, wenn ihnen ein Gericht völlig unbekannter Provenienz und Zusammensetzung gereicht wird und dann würden sie vielleicht versuchen, bekannte Zutaten herauszulesen oder auf Ähnliches sich zu beziehen. In etwa so ergeht es mir mit diesem Film.

Hm, interessant, was da so alles drin steckt.

Die Story ist eine simple: einer Kannibalenfamilie in Mexico-City stirbt der Vater, der für die Besorgung der Fleischspeisen zuständig war. (Die Opfer wurden jeweils in einem „Ritual“ ausgenommen). Die Restfamilie aus Mutter, den erwachsenen Söhnen Alfredo und Julian und der erwachsenen Tochter Sabina steht nun vor dem Problem, wie an die Menschen kommen, die für das „Ritual“ benötigt werden. Das könnte den Stoff abgeben für einen kracherten Genre-Streifen mit viel Lärm und Schreien und Close-Ups von Eingeweiden und viel, viel Ketchup oder Blutersatz.

Nicht so bei Jorge Michael Grau. Er liefert, was ungewöhnlich ist, einen ausserordentlich dezenten Streifen. Wenns richtig blutig wird, zieht die Kamera es vor, sich über eine Tischkante zurückzuziehen oder sich hinter einem Plastikvorhang, der die Vorgänge dahinter nur schemenhaft erscheinen lässt, in eine distanzierte Position zu begeben.

Wenn andere Filme mit donnernder, greller Musik die Tonspur überspülten, dann lässt er nobel Jazzer mit einem Schuss Ironie improvisieren.

Überhaupt ist der Film sehr leise, ein klingelndes Handy im Kino kann sehr störend wirken.

Die Farben sind verhalten, knalliges Uni kommt nicht vor, ein Filter dürfte die grellen Grundfarben rausgenommen haben, trotzdem kommt kein Nazigrau zustande.

Überhaupt liebt Grau die diskreten Aufnahmewinkel. So führt er die bald schon tote Hauptfigur, den Vater in einem modernen Einkaufszentrum ein, die Kamera hat sich unauffällig hinter durchsichtigen Abdeckungen einer Rolltreppe positioniert und sieht nun den tapsenden Alten, der auf eine Schaufensterscheibe mit Schaufensterpuppen zuschrittelt, die Hände voran, als wolle er sie begrabschen, aber das Glas ist dazwischen und bald schon ein Mitarbeiter des Geschäftes. Der Alte macht sich davon, es geht ihm nicht gut, er verliert Blut, bald schon geht er auf allen Vieren, bricht zusammen.

Er liegt tot auf dem Seziertisch, ein Bestatter ist dabei die Lippen zusammenzunähen, er schminkt das Gesicht, ist stolz darauf, wie lebensnah er den Typen wieder hingekriegt hat, aber der Zivilbeamte neben ihm nimmt die Freude, der Typ werde nämlich verbrannt. Enttäuschung beim begeisterten Bestatter.

Die beiden Söhne des Toten, Alfredo und Julian verkaufen auf einem Markt Trödel, alte Uhren, ein Kunde möchte seine reparierte Golduhr zurück, der Marktbesitzer mahnt die ausstehende Miete an, der Vater würde bald bezahlen, der sei halt gerade nicht da; sie werden vom Markt gejagt.

Ihr Zuhause ist eine Mischung aus Wohnzimmer, Küche, Uhrreparaturwerkstatt, Lagerräumen und –Fluren vollgestellt mit Kartons und Behältnissen, einer Art Seziertisch zum Ausweiden der Menschenopfer und einem Plastikvorhang drum herum, also man kriegt da keinen Grundriss mit, die Wohnung wird nach und nach und je nach Bedarf durch die Geschichte aufgedröselt.

Die beiden Jungs kommen erfolglos nach Hause. Mutter scheisst sie zusammen. Eine ganz eigene Figur, diese Mutter, nur darauf aus, die Familie am Funktionieren zu halten, wie ein Besen nur darauf aus ist, den Boden sauber zu halten. Ihr gelten die alten Machtstrukturen, da ist kein Platz zum Atmen, kein Platz für Glück, kein Platz für Erholung, kein Platz für Beeindruckung, für Empfindung. Die alte Machthierarchie muss erhalten bleiben. Sie ist strikt dagegen, dass Alfredo jetzt die Position des Familienoberhauptes einnimmt. Das ist aber wichtig für das „Ritual“. Sie traut den Buben nicht zu, Opfer zu beschaffen.

Erst muss jedoch die Todesnachricht die Familie erreichen. Die kommt von Sabina, die es gehört hat vom Leichenschauhaus und dass einer dort, wo die Puppen ausgestellt seien, wo ihr Vater immer war, zusammengebrochen und gestorben sei.
(Info aus dem Leichenschauhaus: der Typ ist an Vergiftung gestorben, er hatte einen ganzen menschlichen Finger im Magen, das ist ungewöhnlich; für die schlichten Kripobeamten wäre es die Chance, den Menschenfressern auf die Spur zu kommen).

Wie die Nachricht die Familie erreicht, ganz ruhig, wie nebensächlich in den Streit zwischen Mutter und den Söhnen, gibt es einen langen inneren Monolog der Beteiligten, keiner weiss so recht was machen.

Die Mutter beschreibt die Fähigkeiten von Alfredo, dem Älteren, dem Einfühlsameren, dem Fähigeren, der sei für das Ritual geeignet; das Ritual erfordert Fähigkeiten, doch der Jüngere, der ist ungeschickt und gewalttätig. Schöne Differenzierungen innerhalb von Menschenfressers, schöne Bebilderung zum Satz vom Menschen, der dem Menschen ein Wolf sei.
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Die Jungs schauen immer ernst, schuldbewusst, besonders wie sie das erste Opfer suchen, es soll eine Nutte sein. Und wirklich ist der Jüngere ungeschickt darin, sie niederzuhauen und dann ins Auto zu zerren und vorm Chor der Nutten, die wie ein Opernchor arrangiert sind, nimmt er Reißaus.
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Die Mutter flippt aus; die Jungs bringen die vestümmelte Nutte wieder zurück.

Alfredo sitzt im Bus, es gibt eine opernhafte Überblendung von einer schönen Frauenstimme, die ein Lied singt, ein bekanntes, welches von gebrochenen Seelen handelt, dann geht die Stimme über in die einer Sängerin in der U-Bahn, Alfredo hat den Bus inzwischen verlassen und diese Sängerin drückt ihm einen Zettel in die Hand, estas vivo steht drauf, das elektrisiert ihn und er rennt zurück in die Disco, in der er vorher war.

Alfredo versucht dann einen Schwulen zu ködern und ihn als Opfer nach Hause zu bringen. Dazu wird ausführlich die Undergroundwelt dieses Schwulenlokals geschildert. – Er bringt einen Typen mit nach Hause. Aber die Familie, die will doch keine Schwuchteln essen. Alfredo aber besteht darauf, dass gegessen werde, was auf den Tisch kommt.

Im Krimistrang der Geschichte rückt die Polizei der Menschenfresserfamilie immer näher auf den Pelz, dazu beigetragen hatte die „Schwuchtel“, die entkommen konnte. Aber ein Opfer findet sich dann doch noch, so dass auch der Film die Möglichkeit erhält, ein „Ritual“ zu zeigen, was dann auch wunderbar diskret und küsntlerisch und richtig schön mit Kerzen rundherum gezeigt wird. Ob das was für europäische Gourmets ist?

Einen inspirierenden Inpuls zu Betrachtung und Verständnis dieses Filmes könnte vielleicht ein Seitenblick auf die mexikanischen Murales, die Wandmalereien an öffentlichen Gebäuden, zum Beispiel der Universität in Mexiko City geben.

Source Code

Ich hatte Phasen im Leben mit wiederkehrenden Träumen mit wiederkehrenden Problemen, die ich nicht lösen konnte. Und die waren so intensiv und so bilderreich, dass es mir nie gelang, sie genau und in aller Ausführlichkeit zu beschreiben, das war mir zu komplex. Ben Ripley ist meiner Ansicht nach so etwas gelungen.

Der Protagonist erlebt mehrfach und in immer quälenderen Varianten eine Fahrt in einem Pendlerzug nach Chicago. Die Anfahrt geht über eine leere Ebene mit einem einsamen Bahnhof mit nichts als einem Parkplatz drumherum, die Skyline der Wolkenkratzer von Chicago im Hintergrund; das ist so surreal, wie ein solches Setting in einem Albtraum nur sein kann. Noch vor Chicago wird ein grauenhaftes Zugsunglück passieren, im Moment wo der Pendlerzug einen entgegenkommenden Güterzug mit Gefahrengut passieren wird, wird im Zug eine Bombe losgehen. Das weiss unser Protagonist längst und versucht jedes Mal, diese zu finden und zu entschärfen.

Diese Sequenz wird stets unterschnitten von einem todesnahen Erlebnis des Protagonisten, der sich in einer Art Pilotenuniform auf dem Boden eines Flugzeuges befindet und dort von der Pilotenkanzel aus offenbar manipuliert, kontrolliert und beobachtet wird. Es gibt von dort eine Kommunikation einer Dame und gelegentlich eines Herrn mit dem Protagonisten. Und immer wieder schicken sie ihn in diese Bedrohungslage mit dem Zug, der ab Anfang Experiment in genau acht Minuten explodieren wird. In manchen Momenten erinnert mich die Situation des Protagonisten auf diesem Flugzeugboden an jene des Protagonisten in BURIED. Versuch der Bebilderung eines existentiellen Albtraumes.

Der Film ist mir genau so sympathisch wie der Vorgängerfilm MOON desselben Regisseurs, Duncan Jones. Mir gefällt seine Haltung zum Kino, die viel von einer Liebhaberhaltung hat, die mir immer auch erzählt, welchen Spass ihm das Medium macht, mit welchem er diese Bilder aus seiner Fantasiewelt anderen Menschen zu kommunizieren versucht.

Transnationalmannschaft

Diesem Film würde ich doch eher regionale Bedeutung attestieren wollen: für Mannheim und seine Umgebung, auch wenn er sich im einen Erzählstrang, ich nenne das jetzt so, obwohl es sich um eine Dokumentation handelt, an die letzte Fussball-WM in Deutschland anhängt. Das ist nun leider der allerallgemeinplätzigste, nimmt viel zu viel Raum ein und erzählt grad gar nichts Neues.

Der zweite Erzählstrang, der kein langes Leben hat, wird am Anfang als ob er das Hauptaugenmerk des Filmes werden wolle, in Gang gesetzt mit Jugendlichen aus aller Herren Länder, die in der Jugendfussballmannschaft aus dem Stadtteil Jungbusch bei Mannheim spielen, um so, wie ihr Betreuer sagt, wenigstens aus dem Stadtteil rauszukommen. Aber diesen Erzählstrang verliert der Dokumentarist sehr schnell aus den Augen, vor lauter WM und dem dritten Erzählstrang.

Mit diesem wird der Versuch gestartet, ein Portrait des besagten Mannheimer Stadtteils zu bieten, eines Problemviertels wegen des grossen Ausländeranteils, der inzwischen auch von Künstlern, Studenten und Intellektuellen entdeckt wird. Dieser Portraitier-Versuch begnügt sich damit, die Art von Interviews zu bringen, die der schnellen, gerne auch oberflächlichen Strassenbefragung von TV-Schwatzsendungen entsprechen mögen, die aber auf der Kinoleinwand hauptsächlich und schonungslos als Blabla rüberkommen. Die Fragen sind leider genau in diese Richtung gestellt: Was stellen Sie sich unter einer Transnationalmannschaft vor? Was ist Freiheit? Oder dann lässt er ausländische Gesprächspartner den Text der deutschen Nationalhymne von einem Blatt Papier ablesen. Wobei Philipp Kohl, so heisst der Filmemacher, sowieso nur Gutmenschen vor die Kamera holt, Konflikten somit aus dem Wege geht.