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The King of Devil’s Island

Eindrückliches cinéma directe aus Norwegen; wobei ich den Begriff “cinéma directe“ verstehen würde als ein Kino, was den Zuschauer hautnah an der Geschichte, die sich hier auf eine wahre Begebenheit beruft, ungefiltert wie es vorgibt, teilnehmen lässt. Ein Kino, was den Zuschauer sicher berühren will, was ihn mit den Konflikten der Hauptfigur konfrontieren will. Das gelingt Marius Holst vortrefflich.

Denn das Buch von Dennis Magnusson nach einer Vorlage von Lars Saabye Christensen und Mette Marit Bolstad konzentriert sich von Anfang an auf die Hauptfigur. Das ist Benjamin Helsted als Erling, resp. als Insasse C 19 auf der Jugend-Gefängnisinsel Bastoy. Der Film spielt auf dieser Insel in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Erling wird gleich als schwieriger Charakter vorgestellt, da wird nicht drum herumgeheimnisst, dass es mit ihm in diesem Jugendgefängis nicht leicht werden würde, denn dort gelten Zucht und Ordnung und die Regeln müssen eingehalten werden. Wenn nicht, ist man ein Team, das heißt, das ganze Team muss büssen, wenn einer sich nicht an die Regeln hält. Man könnte auch von Sippenhaft sprechen. Tun die „Erzieher“ natürlich nicht.

Erling wird mit einer traurigen Geschichte in Voic-Over vorgestellt während der Überstellung per Schiff auf diese Insel (er soll einen Totschlag verübt haben).

Sein wiederkehrender Traum, seine Geschichte ist die von einem Walfisch, der bereits von drei Harpunen getroffen ist – er wird im Bild gezeigt, die drei seidendünnen Leinen der Harpunen tun weh, als ob sie an einem Zahn befestigt wären, der gleich gezogen werden soll. Der Wal kämpft aber weiter und weiter und schwimmt und schwimmt, einen ganzen Tag lang. Die Geschichte von einem traurigen Kampf, einem endlos traurigen Kampf leitet diesen Film ein, der ein Drama erzählt.

Das Drama einer Jugend in einem Gefängnis auf einer Insel. Bei den Begriffen Jugend, Insel, Norwegen kommt automatisch die Erinnerung an das rechtsradikale Attentat eines gewissen Breivik von letztem Jahr. Der Film wurde aber schon ein Jahr früher gedreht. Im Film ist es vor allem kalt. Meist Winter, man sieht den Atem, Schnee, Frost – auch die Atmosphäre in der Anstalt und die Zöglinge sind immer viel zu dünn angezogen und ihre Bettdecken sind alles andre als Daunendecken.

Warum mir der Film auch prima gefallen hat, ist auch dem Buch zu verdanken, das sich vor allem für die Handlungen der Figuren interessiert, nicht so sehr für das Ausmalen von Verfehlungen (zum Beispiel von Heimleiter Brathen, gespielt von Kristoffer Joner, der sich in der Waschküche ständig an Ivar, der im Heim C-5 hieß und von Magnus Langlete gespielt wird, vergeht) oder von Befindlichkeiten. Einmal sieht man am Nacken von C-5 einen mächtigen Knutschfleck.

Aber in einem solchen Gefängnis darf nichts zur Sprache gebracht werden. Die richtige Antwort lautet immer „Ja, Herr Heimleiter“, „Danke, Herr Heimleiter“. Es wird viel unterdrückt und das sucht sich seine Wege, Fluchtwege. Gescheiterte Fluchtversuchte werden besonder brutal geahndet. Was aber unseren Protagonisten nicht bricht. Wie sein Wal bleibt er in Bewegung und sinnt auf Auswege. Erling ist der Wal, dem wir bei seinem Überlebenskampf zuschauen. Was schnell mal zu einem Kampf um Leben oder Tod werden kann.

Was Erling auch zur spannenden Figur macht, ist, dass er Analphabet ist, er kann also weder seine Geschichte selber aufschreiben, noch kann er die Briefe von Frauenhand lesen, die er bekommt. Leicht auszudenken, was mit so einem angestellt wird. Aber er kämpft. Und rudert. Und sinnt.

Charakteristisch für die Atmosphäre auf der Insel ist, dass die Jungs die Latrine als ihr „Amerika“ bezeichnen, weil das der einzige Ort ist, wo die Oberern wegen des Gestankes nicht hinkommen. Freiheit in der Latrine. Thema Freiheit und Unterdrückung und wie vorgehen dagegen.

Genau da kommt der Punkt, wo ich den Film, der in Norwegen ein riesiger Erfolg gewesen sein muss, doch wieder eher ins Museum stellen würde: die Freiheitsversuche der Jungs passieren primär physisch – auch wenn Erling gleich bei der ersten Hygienemusterung durch Brathen dessen Schnapsatem anspricht. Aber sonst bleibt die Auseinandersetzung physisch mit Elementen von Sägen, Schlösser aufbringen, mit giftigen Pilzen und dem Erbrechen darnach, um den Aufenthalt im Sanitätszimmer zu erzwingen, um weitere Fluchtvorbereitungen unternehmen zu können, was durch die Zuspitzung der Ereignisse bis an die Grenze der Lynchjustiz führt. Mit nachfolgendem Militäreinsatz. Insofern bleibt es eine Geschichte aus einer fernen Zeit, die aber prima inszeniert und stimmungsvoll erzählt wird.

Das bessere Leben

Bei aller polnischen Gefühligkeit, in die dieser Film getaucht ist, was will uns Malgorzata Szumowska, die polnische Regisseurin, die mit Tyne Byrkel auch das Buch geschrieben hat, mit diesem Film zeigen?

Dass Männer sich nach Liebe, Sex und Erotik sehnen – und Frauen auch? Wir sind Malgorzata dankbar für diesen Hinweis. Da wären wir nie darauf gekommen. Sie will uns zeigen, dass dort wo die Liebe, der Sex und die Erotik formal zu Hause sind, in der Ehe nämlich, Polen ist sehr katholisch, diese nur allzu gerne verdorren, wie bei Anne und Patrick. Sie haben zwei Kinder: Stéphane (noch Bub) und Florent (schon in der Phase der Pubertät, dass er über größere Zeiträume von zuhause abhaut). Die Filmemacherin will uns zeigen, dass Anschauungsunterricht über Sex und Erotik die Fantasie beflügeln und zum guten Ende auch in erotische Taten umschlagen können, denn Juliette Binoche spielt Anne. Sie ist Journalistin, lebt in einer eingeschlafenen, vertrockneten Ehe und recherchiert gerade über Studentinnen, die sich als Escort-Service ein Geld zum Studium verdienen, denn im Schnellimbiss zu jobben verzehrt deutlich mehr Zeit und bringt deutlich weniger Geld. Durch die Beschäftigung mit der professionell verkauften Liebe, gedeihen auch bei der Journalistin wieder Sehnsüchte und sie möchte mit ihrem Mann wieder was erleben.

Der Zuschauer bekommt viele Bilder von dieser käuflichen Liebe auf die Leinwand serviert, jene Bilder, die die Journalistin nur erzählt bekommt. Vielleicht tut sich darum in ihrem Kopf mehr als in dem des Zuschauers. Der eine Freier pinkelt auf den prallen Busen der Dame, der andere lässt sich einen blasen, der Dritte möchte die Frau von hinten nehmen. Das übliche Programm, immer ganz schön fotografiert. Der Spielfilm auf der Kippe zum Pornofilm. Die Anzüglichkeit aufs Kulturformat geschrumpft.

Ferner „zeigt“ uns die Regisseurin, dass Juliette Binoche auf einer engen Toilette nicht weiß wohin mit der großen Tasche, sie zeigt sie auch so mal beim Pinkeln, später auch beim Onanieren, beim Einfüllen der Wäschetrommel, beim Gurkenschneiden – und da schneidet sie sich auch in den Finger.

Die Regisseurin verspricht sich viel Erhellung vom Bild, wie Juliette Binoche den blutenden Finger unter einen Wasserstrahl hält. Juliette Binoche wirft ihren Männern, außer dem kleinen Buben vor, sie hätten alle Pornos auf ihren Rechnern. Die Regisseurin zeigt Binoche am Computer beim Kämpfen mit dem Schreiben und den Cigaretten. Sie zeigt einen Coq au vin. Sie zeigt Binoche beim Knacken von Austern, sinnlich natürlich, symbolisch. Dazu spielt sie auf der Tonspur „Gloria in excelsis“ ein.

Die Regisseurin zeigt uns den Tiefglanz vom Hochglanz. Sie bebildert ihre Message mit Sujets und Interieurs und Menschen, wie sie in ein Hochglanz-Life-Style-Magazin passen und will uns den Tiefglanz des alltäglichen Lebens davon vermitteln. Sie erzeugt durchaus eine Atmosphäre der Hingabe an ihre Message (dass Männer wie Frauen sich nach Sinnlichkeit, Erotik, und Sex sehnen, für die, die das vergessen haben).

Es kommt ein Kühlschrank vor, der spinnt. Von einer Bohrmaschine ist die Rede.
Die Wandlung von Frau Binoche ist die, dass sie wieder Liebeshunger nach ihrem Mann verspürt, das ist die Entwicklung, die ihre Recherche bei den Escort-Mädchen auslöst. Bei einer Essenseinladung, die die beiden in ihrer großzügigen Wohnung Freunden geben, sieht Frau Binoche statt der anwesenden Gäste die Freier, von denen ihr das Escort-Mädchen erzählt und die der Zuschauer leibhaftig gesehen hat – sie passen alle übrigens hervorragend in die Runde der Eingeladenen. Dann verschwindet Juliette, um sich schick zu machen für ihren Mann. Das ist ihre Entwicklung in dem Film. Das soll andere ermutigen. Ein Ermutigungsfilm zu Liebe und Sex und Erotik nämlich da, wo sie hingehören: in die Ehe. Denn so katholisch sind die Polen nun mal.

Die deutsche Synchronisation genügt der Stereotypie und ist kein Erotik-Anreiz.

Die Frau in Schwarz

Britisches Postkarten-Puppenstuben-Horror-Movie mit einem einsamen, bleich geschminkten und stets im Nirgendwo die Augen fixierenden Daniel Radcliffe in der Protagonistenrolle des Arthur Kipps, eines jungen Anwaltes, der von seinem Chef in undurchsichtiger Testament-Mission in einen abgelegenes Kaff an rauher englischer Küste gesandt wird.

Radcliffe lässt seinen Sohn zurück, verspricht diesem aber bis Freitag abend wieder zurück zu sein, denn der Sohn leidet unter dem Verlust der Mutter. Ob Radcliffe darunter leidet, wird nicht ganz so klar, er ist vor allem auf einen ruhigen, fast statischen Gang konzentiert und darauf, diesen gewissen, fast starren Blick zu produzieren, auch so, als ob die Augäpfel bald rauskullern würden, was sich für einen Horrorfilm offenbar ausgezeichnet eignet, das hat er schon mal bewiesen und ist damit berühmt geworden, gell Harry Potter!

Puppenstuben- oder Postkarten Film. Erstens weil der Film themenhinweisend mit einer Puppenstubenszene anfängt, in die niedlichen Tassen wird getan also ob Tee eingeschenkt wird, dann halten Kinderhände die Puppenstubentassen den Puppen an den Mund und die Puppen trinken den nicht vorhandenen Tee. Die Tassen scheinen aus ecchtem Porzellan zu sein, eine Kostbarkeit. Dieses „als ob Teetrinken“ wird mich den Rest des Filmes nicht loslassen: tun hier der Regisseur James Watkins und die Drehbuchautorin Jane Goldman bloss so, als ob sie uns eine Horrorgeschichte auftischen wollten?

Faktisch zu besichtigen ist hier jedenfalls eine in gleichmäßigem Rhyhtmus abwechselnde Reihenfolge postkartenschöner Bilder, die eine Geschichte von Susan Hill illustrieren unter gänzlichem Verzicht auf eine kinonötige und kinoverträgliche Spannungsdramaturgie. Durch diese Bilder geht immer wieder Radcliffe mit seinem hochkonzentrierten Gesichtsausdruck.

Postkartenschön sind die Bilder, einerseits die prunkvoll und offenbar sehr genau und exquisit ausgestatteten Interieurs. Die Engländer können es sich also doch leisten, sich von den Europäern und ihrem Euro zu distanzieren, bei dem gewaltigen Reichtum an Möbeln und Spieluhren und ausgestopften Affen, die allein in einem eher schäbigen Haus in einem verlotterten grauen englischen Küstenort sich ansammeln, geschweige denn die Schätze, die sich in der Hauptlocation des Filmes, einem Gespenster-Haus auf einer dem Festland vorgelagerten Halbinsel bei Ebbe und bei Flut eine Insel, vorfinden. Auch Autos oder Kutschen die über den schmalen Ebbe-Fahrweg sich der Insel nähern, geben fantastische Bilder.

Die Insel erinnert auf den ersten Blick entfernt an Böcklins Toteninsel aber dann überwiegt doch wieder die Postkartenschönheit. Bei dem exquisiten Mobiliar und der übrigen Ausstattung dürfte so manchem Antiquitätenliebhaber der Speichel aus den Mundwinkeln tropfen.

Ein Thema ist bei der ganzen Bilderschau auch auszumachen: es geht um eine Versöhnung der Geister von Verstorbenen, einer Mutter und ihres Kindes, die dem von ihnen ehedem bewohnten Anwesen keinen Frieden schenken und die Menschen daran hindern, es weiter zu beleben oder gar zu bewohnen. Das Problem einer generationenübergreifenden Perpetuierung von Problematiken, die Verstorbene offenbar nicht zu lösen vermochten; an sich eine spannende Sache, die Weitergabe ungelöster Probleme von einer Generation an die nächste. Das Missing Link findet sich in einem schwarzen, zähen, Kutschen und Autos und Menschen verschlingenden Sumpf am Fuße eines Kreuzes im Ebbe-Flut-Niemands-Gelände zwischen Insel und Festland.

Nachtrag zur Einführung des Filmes: die mit den Puppen Tee-Trinken spielenden drei Mädels, die selbst wie die kostbarsten Puppen hergerichtet sind, werden durch den Horror aus dem Spiel gerissen, draußen muss was sein, sie treten zu dritt über zwei Stufen an das dreiteilige Fenster.

Horrormobiliar: die Wand des Schweigens der Dorfbewohner, die Überseekiste von Nathanael Drablow, alte Limousinen.

Radcliffes Blick drückt immer aus, er weiß nicht wie ihm geschieht. 200 gefühlte Jahre Harry Potter im Gesicht. Sein Gesicht hat auch prima Filmproportionen. Blick ist Mischung aus intro-retro-extrospektiv.

Der Solicitor. Das Mittagessen bei ihm. Die Zwillinge (zwei Möpse); Thementabu: Kinder, weil Bub gestorben. Aber Elisabeth fängt directemang damit an und kriegt ihren Anfall, gegen den nur Chloroform an die Nase beruhigend wirkt.
In den besten Momenten, so im ersten Drittel, gefiel mir der Film, ich kam mir vor wie einer, der ein superbekanntes Bilderbuch, das er einfach gerne anschaut, mal wieder zur Hand nimmt.

Bösartig gesagt könnte ich mir vorstellen, dass der Film in Auftrag gegeben wurde von einem Auktionshaus, das eine Einlieferung alter Möbel und Einrichtungsgegenstände mit einer kleinen Rahmenhandlung publikumswirksam präsentieren will.

Am deutlichsten wird die Einsamkeit des Daniel Radcliffe am zweiten Tag, den er allein im Inselhaus verbringt. Da lassen die Macher ihn gefühlte zwei Stunden in dem Haus rumgehen, Geräusche hören, einnicken, Gespenster sehen, Bilderkollektion zum Auswählen. Hier schreit eine Einsamkeit unverhohlen von der Leinwand herunter.

Out of the Darkness – Der Weg ins Licht

Was wäre das Kino ohne das Sehen und manchmal lehrt uns das Kino sogar etwas über das Sehen.

In diesem von Kubny & Schnell Film aus Köln produzierten Dokumentarfilm von Stefan Levi, der mit Lisa Wagner auch das Drehbuch geschrieben hat, geht es um das Sehen mindestens in zweifacher Hinsicht. Zum einen geht es um die medizinisch-chirurgische Wiederherstellung der Sehfähigkeit durch Operation des Grauen Stars in entlegenen Gebieten Nepals, wo der sehr häufig und auch schon bei jüngeren Menschen auftritt, es ist nicht nur der normale Alterungsprozess, es sind auch Ernährungsmängel und die Ultraviolettstrahlung in der Höhe, die ihn überdurchschnittlich häufig auftreten lassen.

Der Protagonist dieses Filmes ist der Augenarzt Dr. Sanduk Ruit. Er ist selbst in einer der entlegensten Gegenden der Welt, in Siwa weit hinten in Nepal, aufgewachsen. Zur nächsten Straße sind es von dort aus heute noch 3 – 4 Tagesmärsche. Für einen erblindeten Menschen ein Ding der Unmöglichkeit, diesen Weg zu bewältigen und dann noch stundenlang mit dem Auto unterwegs zu sein bis zum nächsten Spital, wo ein Eingriff vorgenommen werden könnte.

Das Problem hat Dr. Ruit gesehen. Das ist die zweite Geschichte über das Sehen: mit dem Augenlicht auch Dinge zu sehen. Ihn haben seine Eltern, das waren Händler zwischen Tibet und Nepal, früh nach Darjeeling in ein Internat gesteckt, damit er eine gute Bildung bekommtt. In den sieben Internats-Jahren ist er ein einziges Mal in den Ferien nach Hause gegangen. Sonst musste er immer dort bleiben. Das habe ihn hart und willensstark gemacht, sagt er heute.

Er ist Augenarzt geworden und wollte gerade jenen Menschen helfen, die keinen Zugang zu professioneller medizinischer Versorgung haben. Er hat gesehen, dass der Graue Star eine der häufigsten Erkrankungen ist, gerade in armen und entlegenen Gebieten und das Leben der Betroffenen und der Familienmitglieder unsäglich schwer macht. Und er hat gesehen, dass die bis dahin übliche Operation des Grauen Stars 1000 bis 4000 Dollar kostete, dass der Patient nachher noch eine Woche lang total ruhig liegen musste. So hat er zu forschen angefangen und eine Linse und eine Operationsmethode entwickelt, die deutlich billiger waren. Die Linsen werden in Nepal hergestellt und kosten nur noch 20 – 40 Euro. Die Patienten können sofort nach dem Eingriff aufstehen, müssen allerdings einen Tag lang noch die Augen unter einem Verband schützen.

Der Film begleitet eine der Reisen von Dr. Ruit nach Siwa. Die Vorbereitungen im Tal. Das Herstellen und Verpacken der Linsen. Die ersten Wegstrecken auf wackeligen, motorisierten Gefährten. Behandlungsaufenthalte. Schließlich der Aufbruch zu Fuß nach Siwa. Dafür werden eine ganze Menge Träger engagiert, denn die mobile Operationsstation muss in Teile zerlegt und verteilt auf Körbe in langen Fußmärschen nach Siwa getragen werden. Dr. Ruit selbst bekommt beim Aufstieg Probleme mit dem Knie, aber wichtiger ist ihm, dass die Hände funktionieren für die diffizilen Operationen im improvisierten OP.

Der Film ist mehreres in einem. Am Anfang ein Infofilm über den Grauen Star, seine Verbreitung, seine Behandlung. Dann Abenteur- und Extrem-Touristikfilm zugleich, der lange Weg nach Siwa mit grandiosen Landschaftsaufnahmen. Stefano Levi hat immer ein Auge dafür, was sich am Rande des Weges abspielt, gibt uns so nebenbei auch einen eindrücklichen Einblick in das Leben in diesen kargen Tälern, in denen prächtige Rhododendren blühen; die Erde ist hart und steinig, das Pflügen kostet ein mehrfaches an Kraft als woanders. Teppiche und Reis werden auf Lasttieren zu Tal gebracht. Diese sind mit kleinen Schellen versehen, das hört sich an, wie unser vertrautes Herdengeläut aus den Alpen.

Bei der Ankunft in Siwa wird Dr. Ruit einen Augenblick lang sentimental, wenn er daran denkt, dass er von hier kommt; was sie als Buben für Schlingeleien angestellt haben, wie er nach dem Bruch eines Armes mit simplen Bambusrohren und Tuch geschient worden ist.

Der Film ist auch ein Stück Biopic über das Leben dieses Arztes, der sich in einem kleinen Segment der Verbesserung der Situation der Menschen verschrieben hat, der unkonventionelle Lösungen sucht und beharrlich auch findet, die nicht unbedingt im Interesse der großen Konzerne liegen. Zuletzt erhält der Film sogar eine heilsgeschichtliche Dimension; denn einen Tag nach der Operation, werden den Patienten die Verbände von den Augen genommen. Manche sehen nach Jahren das erste Mal wieder. Das sind Momente direkt ins Gefühlszentrum.

Einer der inzwischen eher seltenen Dokumentarfilme, die man unbedingt im Kino anschauen sollte; wegen der geschickten Vermischung der verschiedenen Genres, wegen den einmaligen Bildern aus Nepal und weil diesem Reisebericht von Stefano Levi etwas Persönliches anhaftet, Engagement und Offenheit, was die große Leinwand durchaus verträgt und füllt.

Russendisko

Hier bescheren uns deutsche Drehbuch-, Kamera-, Inszenierungs- und Castingkunst ein Schmankerl der russischen Art, das in keiner Weise russisch schmeckt sondern ganz und gar nach ordentlich-regulärer deutscher Filmsubventionskunst.

Das Werk möchte basierend auf dem Kultbuch von Wladimir Kaminer Berliner Szenestimmung evozieren, wie sie zur Zeit der Wende geherrscht haben soll.

Lang, lang ists her, die Zeit macht die Konturen unscharf und der hier vorliegende Film bringt auch kein zusätzliches Licht in die Angelegenheit. Er glaubt vielleicht, wenn er überwiegend eine Art tiefliegende Froschperspektive für die Filmaufnahmen verwendet, er schaffe Nähe oder Übergröße der Figuren, Zeit- und Szenennähe suggerierend, dabei verfremdet er und gibt so ganz gewöhnlichen Szenen immerhin einen visuell ungewöhnlichen Touch. Vergangenheitsschönung, Vergangenheitsaufmotzung? Die Szenen selbst erinnern gelegentlich an eine Schauspielschule, jetzt spielen wir eine Dialogszene, jetzt spielen wir eine Liebesszene; das fällt mir bei den gecasteten Frauen mehr noch auf als bei den Männern.

Die beiden Protagonisten sind ein an sich erfolgsverwöhntes Paar, denn Friedrich Mücke und Matthias Schweighöfer haben mit „Frienship!“ einen Kinoüberraschungshit gelandet. Das Buch dazu hatte Oliver Ziegenbalg geschrieben, der hier nicht nur den Kaminer-Text zum Drehbuch umzumodeln versucht hat, sondern gleich auch noch die Regie übernommen hat.

Vielleicht etwas viel aufs Mal. Jedenfalls lässt er es zu oder fordert es sogar heraus, dass Matthias Schweighöfer, der den Wladimir Kaminer geben soll, sich als total extrovertierter, überdrehter Kasperl, als reiner Faxenpeter aufführt, so als müsse er in jeder Szene extrem viel Nachdruck darauf legen, so aufzufallen, damit er ja auch wahrgenommen werde, als warte er nur darauf, bis ihm jemand auf die Schultern klopft und sagt, „hast Du gut gemacht, Junge!“, soviel Anerkennungsheischungsactivity hat selten ein Schauspieler in so wenig Figur gelegt.

Die Grundsituation im Buch ist die, dass drei junge Russen aus Moskau nach der Wende nach Berlin ziehen. Wobei der zweite im Bunde, der zurückhaltend agierende Mücke, der meiner Ansicht nach schon die entscheidende Portion Glaubwürdigkeit zum Erfolg von „Friendship!“ beigetragen hat, hier eine gewisse Anlaufzeit braucht um dann jugendfreizeithaft schön auf der Klampfe russische Songs zu begleiten, die er selber singt. Hier kann er aber nicht viel zum Erfolg beitragen, denn die Figuren sind alle weniger durchdacht, es geht um die Schilderung einer Gesamtsituation, wie sich die drei Russen in Berlin einrichten und zurechtbuddeln.

Also der Mücke, der hier Mischa heißt, hat das Problem, dass er keinen einzigen jüdischen Vorfahren aufweisen kann, im Gegensatz zu seinen beiden Kumpels, und dadurch nur ein Visum für drei Monate Berlin erhalten kann und dann wieder zurück nach Moskau muss. Das gibt Anlass zu einer kurzen Judentums-Initiation und zu einem Gespräch mit einem Rabbi.

Der dritte im Bunde ist ein nicht weiter definiertes Mittelstück zwischen den beiden, der die zusammenhalten soll, das ist nun nicht schön ausgedrückt, aber es scheint, als dürfe dieser dritte im Bunde durch keine Eigenschaft besonders auffallen, was er denn auch tut.

Es scheint leichter zu sein, ein Drehbuch für ein Roadmovie für Zwei zu schreiben wie bei „Friendship!“, denn der Weg hat ein Ziel und der Weg ist das Ziel. Während hier die Anfahrt nach Berlin kurz und das Sein in Berlin lang ist. Es gibt wenig Handlung. Film ist nicht Literatur. Hier dient die Literatur dazu, Szenen zu bebildern, Film als Lieteraturbebilderungsanstalt, das muss wie hier bewiesen wird, nicht immer spannend sein. Anskizzierkino nach Literaturvorlage.

Erlebnisse in der Literatur beschrieben sind eines und daraus Geschichten fürs Kino herauszuarbeiten, das wäre ein anderes. Wer das Buch kennt, der wird wie immer in solchen Fällen sicher viele Szenen und Situationen oder Texte wiedererkennen. Im Film sind sicherlich viele Stellen aus dem Buch identifizierbar, davon gehe ich aus.

Zu den drei russischen Jungs müssen selbstverständlich drei Frauen her. Aber viele bunte Lichtquellen und viele altkluge Frauen ab Camera-Acting-Workshop (so der Eindruck) garantieren noch nicht für lupenreines Kino. Genauso wenig wie die meist tiefe Kameraperspektive, die besonders verwahrloste Ecken von Berlin gewaltig und imposant ins Bild rückt. Oder das Stück Mauer, an dem gehämmert wird, um Souvenir-Stücke rauszuhauen. Vielleicht ein schönes Bild für diese Art der Literaturverfilmung: die Mauer als das Stück Literatur, aus der der Film, resp. der Drehbuchautor, versucht einige Stücke herauszuhämmern und einen Film daraus zu machen.

Sams im Glück

Was ist Sams? Das ist physisch ein geschlechtsneutrales Kind mit dickem Bauch, nicht allzu elegant geformt und mit roten Haaren und kommt aus der Samswelt, in der das Übersams mit einem Buch voller Geheimnisse regiert und sowas wie eine Hexe ist. Es ist aber auch Ausdruck für überbordende Fantasie, Anarchie, Frechheit, außer Rand und Band Geratens, kindlichen Protestes gegen die Erwachsenenwelt. Wehe also, wenn das Sams einen Erwachsenen überkommt. Darum geht es hier nämlich, dass das Sams nicht nur bei Taschenbiers ein und ausgeht, nein, auch Herr Taschenbier wird ab und an und immer öfter von samsigen Anfällen heimgesucht. Dabei zeigen sich dann von Mal zu Mal mehr rote Haarbüschel vor allem auf seinem Hinterkopf. In der Sams-Variante scheint er nicht mehr ganz Herr seiner Sinne, seiner Bewegungen, seiner Gedanken und Handlungen zu sein. Wobei, was rothaarig kulturell so alles bedeutet, noch ein weiteres Thema wäre, man denke an Nestroys Talisman.

Ein Problem mit der Rolle Taschenbier fängt hier allerdings schon mit dem Buch an. Herr Taschenbier ist nämlich Erfinder und Tüftler. Er hat eben eine Maschine erfunden, da werden oben die Zutaten reingegeben und unten kommen fertige Regenschirme für Kinder heraus. Solche Tüftler und Erfinder sind in unserer Fantasie und nach unserer Kinoerfahrung meist schon leicht verrückte, verschrobene Figuren. Insofern gibt schon das Buch dem Darsteller der Rolle ein gewisses Problem. Denn wenn die Figur schon im Normalzustand nicht vollkommen normal, sagen wir „buchhalternormal“ ist, wie soll dann der exzessive Sams-Zustand noch definiert werden?

Aber vermutlich hat es gar keine Findungskommission für die Rolle Taschenbier gegeben, die sich genau die Problematik einer solchen Rolle bewusst gemacht und sich gezielt auf die Suche nach der stimmigen Besetzung gemacht hätte, die in diesem Film die tragende Hauptrolle spielt und die zu einem wesentlichen Teil für den Erfolg des Filmes gradezustehen hat. Vermutlich hat sich gar niemand gefragt, wo finden wir einen Schauspieler, der einerseits eine gepflegte Bürgerlichkeit glaubwürdig darstellen kann, der aber andererseits eine vollkommen ausgeflippte Figur bieten kann, die genau diese Bürgerlichkeit unverschämt und frech konterkariert, dieser Spontaneität und Unkonventionalität bewusst entgegensetzt, ihr sozusagen vollkommen glaubwürdig die Zunge rausstrecken kann, sich einen Deut um sie kümmert, sich über sie lustig macht. Vom Resultat her betrachtet müsste das Verfahren zur Besetzung dieser Hauptrolle vermutlich als vollkommen dilettantisch bezeichnet werden.

Jedenfalls wurde – vermutlich ohne jedes konkurrierende Casting und ohne weiteres Einschalten eines Darstellerradars – die Rolle Ulrich Noethen anvertraut. Wenn das nicht mal eine geschäftlich etwas leichtsinnige Entscheidung war, die den Erfolg des Filmes genau dort deckeln wird, wo er mit Kinderfilmen generell eh schon zu erwarten ist in Deutschland, bei jenem Stammpublikum für Kinderfilme, was es hier gibt wie für das gute alte Weihnachtsmärchen im Stadttheater. Außerdem ist das Sams eine bekannte Figur. So besehen ist die Besetzung so ziemlich wurst, mag sich der kurzfristig denkende Produzent gedacht haben.

Welche verschiedenen Behauptungen stellt nun Ulrich Noethen zu seiner Rolle Taschenbier und Taschenbier im Sams-Zustand auf? Zu Taschenbier bleibt er zu Recht im Rahmen der Erwartungshaltung an eine Noethen-Rolle: bürgerlich, anständig gesprochen, eine gewisse Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit ausdrückend, ja er hat sogar am Anfang und dann gegen Ende nochmal kurze Momente, wo einem das Herz juchzen möchte, wo er einem punktgenau besetzt vorkommt, wo man denkt, das ist durch und durch dieser doch irgendwie Spießer, haargenau getroffen – was ja sonst eine Konstante bei seinen Besetzungen ist, dass sie nie punktgenau sind, also tauglich und seriös ihre Zwecke erfüllen, nie aber ein Übermaß an Interesse erwecken, beamtenschauspielerisch der Sache dienend funktionieren. Und dann kommen plötzlich so hoffnungsvolle Momente, die zum Hingucken zwingen. Da steht er kurzfristig völlig unangestrengt, gelöst und ernsthaft da, so dass er dem Zuschauer Platz lässt, Erwartungen in die Figur zu setzen, Emotionen zur Figur aufzubauen, dass man kurzfristig vor Glück schier platzen möchte, endlich mal eine punktgenaue Besetzung für Noethen. Zu früh gefreut.

Gut, das ist die eine Seite. Jetzt aber die Frage, welche Behauptungen er zur Sams-Seite seiner Figur aufstellt.
Im Film gibt’s verschiedene Ansätze zur Interpretation des Sams. Die kürzeste, keckeste und für mich einleuchtendste bietet Eva Mattes in der gar nicht besonders dankbaren Rolle als Gattin von Armin Rohde; sie streckt einmal bei einem Abgang einfach keck die Zunge raus. Klarer kann man eine Haltung zu einer Sache, eine Haltung die natürlich nicht bürgerlich korrekt ist, nicht ausdrücken. Samsig par excellence.
Vom Buch her sind es ferner da se lustige Aktionen wie die: Taschenbier bestellt für zwei Leute zwei Dutzend Pizzen oder rast mit dem blauen Bus, dem „Bamberger Pfeil“, riskant auf zwei Rädern durch Bamberg. Samsig gleich Nonsense, gleich Grenzüberschreitung.
Und nun die Sams-Angebote von Herrn Noethen: ein ungelenker wie unkontrollierter Bewegungsablauf, der vielleicht Befreiung suggerieren soll, akustisch-stimmliche Ausraster, eine Art irres Lachen, was keine dezidierte Haltung gegen die Bürgerlichkeit ausdrückt. Wie hysterisches Lachen. Tut das hysterische Lachen nicht viel eher einen Ich-Kommentar abgeben, dass man sich selber nicht für ganz für voll nimmt statt sich einer Sache gegenüber zu distanzieren, statt eine Haltung zu artikulieren, statt ein prononciertes Verhältnis zum Sachverhalt der Bürgerlichkeit herzustellen? Ist das wirklich samsig? Sind das den Alltagstrott verstörende Reaktionen? Oder ist Sams wirklich sowas wie besoffen, wie von Sinnen? Fällt mir schwer, dieser Interpretation was abzugewinnen. In der Sams-Variante nun schreit und plärrt Noethen, versucht sich auffällig zu gebärden und zu benehmen, strengt sich deutlich zu etwas an, was ihm nicht gegeben scheint, hat eine raue, rausgedrückte Lache wie ein besoffener Räuber oder ein Bösewicht, der einen dummen Streich gespielt hat, gänzlich uncharmant und bemüht und den Kommentar zur Samsigkeit gleich hineingespielt, insofern distanziert er sich in der Samsigkeit schon wieder von derselben. Bierzeltgrölfantasie. Je länger der Film dauert, desto mehr wirkt dies als Schmierentheater und überlappt sich zusehends auch mit der brav-bürgerlichen Variante der Figur.

Noethen bleibt auch im Sams-Exzess steif und brav, als ob er mit einem Schuhspanner versuche, die Gesichtsmuskeln in Richtung Sams zu verziehen. Er scheint innerlich das Sams nicht gefunden zu haben. Was er bietet, ist letztlich gequälte Beamtenschauspielerei. Ihm fehlt die Magie und kreative Phantasie der Bewegung. Noethen verkindertheatert und verdummt damit seine Figur unnötig. Seine fast hysterische Lache beim Rückwärtsfahren durch Bamberg.

Die Sams-Figur aber ist der zentrale Qualitätspunkt in diesem Film. Was uns Noethen jedoch mit seiner Gestaltung der Figur erzählen will, bleibt mir unergründlich.

Aber auch der filmtechnische Verwandlungstrick zum Samszustand macht es Noethen nicht leicht. Diese Verwandlung wird mit einem endlos lang dauernden technischen Trick, mit vielen Sternchen vor seinem Gesicht und Gesichtszuckungen in Kinosprache übersetzt, eine schwer lesbare Bildsprache wie eine Zangengeburt in diesem Fall, die zu entziffern dauert und dauert, der Wirkung eines Geistesblitzes konträr entgegengesetzt. Der Spontaneität, die bestimmt ein wesentliches Sams-Merkmal ist. Und wenn eine spontan sein sollende Sache schon so anfängt. Und vor allem, da es ständig wieder vorkommt und jedes Mal diese ganze aufwändige Verwandlungsnummer, so ermüdet das schnell, wirkt kontraproduktiv zur Idee des Sams als Symbol für Geistesblitz und dessen Freiheit und Unvoreingenommenheit, wird so gleichsam schon ins Gipsbett gelegt; so aber wirkt der Übergang verschmiert, schmiert sich rein in die Sams-Variante.

Auf weitere Schmerzpunkte im Film weist das Drehbuch von Paul Mar und Ulrich Limmer selber hin. Denn die Geschichte spielt in Bamberg und das ist so schön immer wieder ins Bild gerückt, dass einem unwillkürlich E.T.A. Hoffmann in den Sinn kommt, davon ist nun aber in diesem Film nicht ein Hauch, nicht ein Atem, wobei der doch zum Sams, was eine Fantasiefigur ist, mindestens eine Verwandtschaft aufweisen müsste. Und dann die Schokoladenfabrik. Irgendwann im Sams-Zustand verirren sich das Sams und der Herr Taschenbier in eine Schokoladenfabrik. „Charlie und die Schokoladenfabrik“ von Tim Burton wird da unweigerlich im Geiste assoziiert, ein Produkt großartiger Fantasie und macht einem bewusst, in welch Gefilden bescheidenen subventionierten Kinoanspruches man sich hier doch verirrt hat.

Auch die Titel machen skeptisch: die Namen von Stab und Darstellern, mit denen das Sams anfangs spielt, kommen allzu fett daher. Diese Wichtigkeit, die hier den Darstellernamen verliehen wird, die lösen sie leider im Verlauf des Filmes in keiner Weise ein.

Die einzige Figur in diesem Film, die für mich die richtige, oder sagen wir: die ideale Mischung aus Stilisierung, Realismus und Kinderfilmfigur gefunden hat, ist Heio von Stetten als Arzt. Bei ihm blinkt plötzlich kurzfristig etwas von der Listigkeit eines möglichen Erzählers der Geschichte auf, ihr Verhältnis zu den Dingen und den Geschichten und zur Fantasie und zur realen Welt. Der Arzt, der hat Pli, der hat Stil, und er kann spielen auf dieser Klaviatur.

Die Musik dagegen drückt voll das Misstrauen gegen die Inszenierung aus, kann aber mit Übertönen auch nichts helfen oder bietet eine Interpretation der Samsität, die sich mir nicht erschließt

Die Regie führte Peter Gersina.

Die Tribute von Panem – Tödliche Spiele

In einem postapokalyptischen Amerika gibt es 12 Distrikte, in denen die Menschen leben und dazu verpflichtet sind, die Hauptstadt mit Rohstoffen zu versorgen. Die Distrikte dürfen nicht verlassen werden, hinter den Elektrozäunen erobert sich die Natur ihre Vorherrschaft zurück.

Hauptperson der Geschichte ist Katniss Everdeen aus Distrikt 12, der für die Lieferung von Kohle verantwortlich ist. Sie verlor den Vater bei einem Grubenunglück, die Mutter verließ daraufhin jeglicher Antrieb und so geht die junge Katniss mit selbstgemachtem Pfeil und Bogen in der Wildnis jenseits des (defekten) Elektrozaunes geschickt auf die Jagd, um sich, ihre Mutter und ihre kleine Schwester Primrose versorgen zu können.

Zusätzlich zu den Abgaben an die Hauptstadt „The Capitol“ muss jeder Distrikt einmal im Jahr zwei sogenannte Tribute stellen, und zwar einen Jungen und ein Mädchen im Teenageralter, die für diesen Distrikt an den Hungerspielen, den Hunger Games, teilnehmen. Offiziell sind die Hungerspiele eine Ehrerbietung für die Opfer der schlimmen Kriegsjahre (die schon über 70 Jahre zurückliegen), aber in Wirklichkeit handelt es sich einfach nur um ein widerliches TV-Spektakel zur Belustigung der Massen in der Hauptstadt. Die Hungerspiele sind einfach: Die 24 Kandidaten werden in einer weiten Naturlandschaft ausgesetzt und sollen sich gegenseitig umbringen. Wer zuletzt übrig ist, ist der Gewinner und darf wieder nach Hause – oder kann eine Karriere in der Hauptstadt aufbauen, wie er möchte.

Als Primrose ausgelost wird, meldet sich Katniss an ihrer statt freiwillig, denn die 12-jährige Primrose hätte keine Chance gegen die bis zu 18 Jahre alten anderen Kandidaten. Es folgt eine Reise in die dekadente, vor Luxus überquellende Stadt voller Vergnügungssüchtiger, eine Fernsehshow vor den Hungerspielen, und die Ausbildung in Nahkampftechniken für alle Teilnehmer. Schließlich gehen die Spiele los, und vor laufender Kamera metzeln sich die zuvor noch völlig friedlich zueinander stehenden Kinder nun im Laufe einiger Tage zu Ehren einer ihnen weitgehend unbekannten Sache gegenseitig nieder.

Es gibt einige kleine Twists und so weiter, aber die sind unwichtig. Dass Katniss gewinnt, ist von vorneherein klar, sonst hätte der Film eine andere Hauptperson (und man wüsste nicht, dass die Geschichte noch zwei Bücher lang weitergeht) und dann ist der Film aus.

Ich bin relativ gelassen in den Film gegangen, weil ich an eine weitere Teenager-Befriedigungs-Sülze nach der Art von Twilight dachte. Nach dem Film war ich jedoch fix und fertig, so gut hatte er mir gefallen.

Doch moment: Nicht die Geschichte ist so faszinierend, auch nicht die Inszenierung, die Tricks oder die Musik, sondern das Setting. Das Setting ist völlig abgefahren:

  1. Man stelle sich also die Situation vor. Es gibt eine Hauptstadt, deren Bewohner technologisch auf dem allerneuesten Stand sind. Sie haben Waffen, Luftfahrt, die Möglichkeit, Lebewesen im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden zu synthetisieren (sozusagen wie Beamen, nur ohne „Absender“ oder „Kopiervorlage“), können nach Belieben genetisch manipulieren. Zu deutsch, sie sind allmächtig. Aber sie sind abhängig von den Rohstoffen der Distrikte.
  2. Dann gibt es da die 12 Distrikte, in denen ebenfalls Menschen leben. Die gleichen Menschen wie in der Stadt, nur anderswo geboren und aufgewachsen, keine andere Lebensform also. Diese Distrikte befinden sich technologisch zwar nicht im Mittelalter, aber doch weit hinter der Hauptstadt zurück. Sagen wir, 1900 ist der Stand der Entwicklung in den Distrikten. Die Leute leben im Dreck, leiden unter Armut, arbeiten fast nur für die große Stadt und haben so gut wie keine Chance, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Sie sind technologisch völlig unterlegen und zudem rechtlos und können daher nicht effektiv streiken, und sie sind ebenfalls nicht in der Lage, sich sozusagen freizukaufen.
  3. Die 12 Distrikte werden voneinander getrennt gehalten und stehen während der Spiele in Konkurrenz zueinander. Wenn das Tribut aus Distrikt 8 ein Tribut aus Distrikt 10 tötet, sind die Leute von Distrikt 10 natürlich auf die jubelnden Leute aus Distrikt 8 nicht besonders gut zu sprechen – auch, wenn die Distrikte tausende von Meilen auseinander liegen und sich deren Bewohner nie persönlich treffen werden. Auch können die Distrikte untereinander nicht kommunizieren, zumindest geht das aus dem Film nicht hervor.
  4. Die Tribute (und Distrikte) akzeptieren die völlig willkürlichen Spielregeln ohne jegliches Hinterfragen. Mit dem Anpfiff für die Spiele werden aus Freunden Todfeinde, und das nur wegen der vagen Hoffnung auf den Sieg, den ja nur 1/24 der Antretenden davontragen kann. Das heißt, 23 von 24 Leuten müssen auf jeden Fall sterben, damit einer gewinnen kann, eine Chance von über 95,83%.

Denkt man über diese Kopfgeburt der Autorin nach, die sich diese wilde Dystopie-Ausgangsbasis aus den Fingern gesaugt hat, und auf ihr eine Teenagerstory aufgebaut hat, muss man unweigerlich an Running Man, The Truman Show, Mad Max oder Battle Royale denken.

Doch ich musste nicht nur an diese genannten Filme denken, sondern fand eine ganz andere Parallele. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Vergleichen wir die oben genannten Punkte mit der Wirklichkeit:

  1. Nehmen wir einmal an, die „Hauptstadt“ entspricht den reichen Industrienationen. Die Übergänge sind in der realen Welt natürlich nicht so krass, aber die Parallelen sind sehr wohl erkennbar. Eine US-Streitmacht, die ein kleines Land in der Dritten Welt „befriedet“, ist diesem technologisch ähnlich überlegen wie die Hauptstadt den Distrikten. Doch es muss gar nicht mal um militärische Überlegenheit gehen. Unser fließend Wasser, Krankenhäuser, eine U-Bahn und die zuverlässige Stromversorgung den ganzen Tag über erscheinen dem durchschnittlichen Afrikaner, Inder oder Chinesen sicher ähnlich magisch (*) wie die Hauptstadt den Tributen aus den 12 Distrikten. Die Parallele: Wir reiche Industrienationen sind dem Rest der Welt technologisch weit überlegen. (Im Gegensatz zur Geschichte hindert niemand die anderen Nationen aktiv und direkt daran, aufzuholen – indirekt aber sehr wohl, wie jede Menge Embargos, von Atomtechnologie bis zu Generika für die Aids-Bekämpfung, oder auch Zugzwänge, wie zuletzt Pflicht-Kredite für Griechenland, deutlich zeigen.) Fazit: Wir halten die anderen klein, so gut wir nur können. Und wir sind abhängig von deren Rohstoffen und Arbeitskraft. Und wir finden das nicht nur okay so, sondern meinen auch noch mehrheitlich, das müsse so sein, damit wir unserem erreichten Lebensstandard nichts mehr abgeben müssen.
  2. Die Billiglöhner weltweit, seien dies entweder praktisch die gesamte Bevölkerung eines Landes mit gewaltigem Lohngefälle zu uns (u.a. Bangladesh, Indien, China), oder auch die unteren Schichten im eigenen Land (Hartz IV-Empfänger, 1-Euro-Jobber, Angestellte in prekären Arbeitsverhältnissen) repräsentieren die Bewohner der Distrikte. Man könnte diesen Vergleich sogar noch weiter fassen und die Occupy-Bewegung (99% vs. 1%) heranziehen, der Vergleich würde immer noch nicht hinken. Der größte Teil von uns 99% lebt in absoluter Abhängigkeit, und ist de facto nicht in der Lage, sich jemals aus dieser Situation zu befreien. Selbst der gutbezahlte Ingenieur in unserer Wirtschaft, der ja auch zu den 99% gehört, lebt in Abhängigkeit. Es geht ihm sicher gut, weil er gut bezahlt wird, aber sollte er aus irgendeinem Grund von heute auf morgen obsolet werden, ist er genauso am Arsch wie alle, denen es heute schon schlecht geht. Siehe die gutbezahlten Broker bei Lehman Brothers oder die Leute bei Nokia-Siemens-Networks, die gerade in München um ihre Jobs bangen. Wirklich frei sind nur die „Bewohner der Hauptstadt“, also das 1%. Und das sind Leute vom Schlage eines Steve Jobs, eines Josef Ackermann, eines Carlos Slim – stets nur die oberste Lage der jeweiligen Platzhirsch-Organisation.
  3. Die Distrikte unserer Welt werden auch in Konkurrenz gehalten. Ist das Handyzusammenschrauben im ehemaligen Ostblock billiger als in den neuen Bundesländern, zieht Nokia eben weiter. Wir alle haben die Krokodilstränen im Fernsehen gesehen, dabei war das nur ein ganz normaler Schachzug im freien Kapitalismus. Oder sollte ich besser sagen, im völlig ungezähmten, galoppierenden Heuschrecken- und Raubtierkapitalismus? Sämtliche Zulieferer für alles stehen unter massivem Konkurrenzdruck, sei es Indien mit China um die Herstellung von Gütern oder sei es die Putzfrau A mit der Putzfrau B um den Job bei Hausfrau C gleich nebenan – Geiz ist geil. Dass Konkurrenz das Geschäft belebt, ist zwar richtig, aber leider bedeutet es auch, dass es für jeden Gewinner mindestens einen Verlierer geben muss, wenn nicht mehr. Derzeit stehen wir bei 99 Verlierern pro Gewinner, was wahre Unabhängigkeit angeht. Googelt man nach globaler Armut, kann man mit Fug und Recht sagen, dass 25 Gewinnern 75 Verlierer gegenüberstehen, das Verhältnis heutzutage also drei Verlierer pro Gewinner ist. Und wir Gewinner schaufeln kräftig weiter, was unseren Haufen vergrößert, schafft bei anderen zwangsweise eine Mulde.
  4. Dass die Kinder im Film ihr Schicksal akzeptieren und sich einfach gegenseitig umbringen, hat mich am meisten irritiert. Wenn ich schon willkürlich zum sinnlosen Sterben für ein Publikum ausgewählt wäre, dann würde ich doch das meiste daraus machen. Ich würde entweder schon in der Fernsehshow den Starmoderator ermorden, oder den Präsidenten beim großen Empfang, oder ausreißen und die Stadt niederbrennen oder so, ich hätte ja nichts zu verlieren (außer meine 4,17%-Chance auf den Sieg, für’n Arsch); oder ich würde mich auf dem Spielfeld mit den anderen Opfern solidarisieren und Frieden schließen und Gemüse anbauen. Oder wenigstens aufrührerische Reden in die Kameras halten. Ich erwarte ja nicht, dass die Kinder im Film aus dem Stand auf das Konzept des passiven Widerstands kommen, aber mehr als sofortiges Gemetzel hätte ihnen ja schon einfallen können. Oder nicht?
    Dann ist mir aufgefallen, dass sie es eben nicht können, und dass darin die Perfidie dieses kompletten Settings im Film, aber auch der Situation in der Wirklichkeit liegt. Das Konkurrenzdenken ist derart festverdrahtet in den Gehirnen der Menschen, dass es keine Möglichkeit zum Umdenken gibt. Zum einen müssen sie in ihrer harten Welt in den Distrikten Härte zeigen, kennen das Leben also schonmal gar nicht anders und können es sich auch nicht anders vorstellen, zum anderen sind die, die ganz oben sind, auch nur durch gnadenlose Härte dorthingekommen, hier wie dort. Wie zum Beispiel im Film die von Woody Harrelson verkörperte Figur des Gewinners früherer Hungerspiele, aber auch die Funktionäre in den Reihen der Organisatoren der Spiele. Ganz wie in der wirklichen Welt.
    Fazit: Wir verrohen. Nahezu jeder sagt mir, wenn ich mal wieder ein Thema anschneide, das man nur mit Weltverbesserung oder Weltschmerz umschrieben werden kann, „ja, so ist das eben in dieser Welt. Da musst Du jetzt halt durch und [nach den Regeln spielen]“. Doch ich sehe nicht ein, wieso ich Regeln befolgen sollte, die ich weder mit aufgestellt noch je akzeptiert habe. Dass man niemanden ermorden sollte, ist ein leicht nachzuvollziehender Konsens. Doch wieso sollte ich, wenn ich ein aktuelles Extrembeispiel heranziehen darf, bereit sein, mein Facebook-Passwort auszuhändigen (*), damit ich im Rennen um einen Job eine bessere Chance habe? Wer hat diese Regel gemacht? Ich kenne keinen einzigen Menschen, der so eine Spielregel gemacht hat. Aber wir alle spielen ganz selbstverständlich danach. Jeder scheint darauf zu spechten, der eine zu sein, der es bis ganz an die Spitze schafft. Dass dies hirnrissig ist, will niemand zugeben, alle wurschteln sie weiter an ihrem persönlichen Masterplan zur Erringung der Weltherrschaft, der zum Scheitern verurteilt ist (das aber möglicherweise auf hohem Niveau, dann merken sie nichtmal, dass es im Grunde ein Scheitern war und geben sich zufrieden). Das ist doch absoluter Blödsinn! Das muss doch hinterfragt werden! Jede einzelne dieser Regeln hat keine Bedeutung, selbst Gesetze kann man ändern, wenn man es schafft, einen sehr langen, steilen und steinigen Weg zu gehen (der mindestens eine Bevölkerungsmehrheit beinhaltet).
    Und an dieser Stelle war mir im Film klar, dass auch die Parallele des sich widerstandslos in sein vermeintliches Schicksal fügenden Tributs absolut richtig gewählt ist.

Willkommen in der Wirklichkeit.

Wir spielen hier jeden einzelnen Tag die Hungerspiele, und 99% von uns sind die Tribute. Die Leute verrecken wie die Fliegen, überall.

Entweder verenden sie tatsächlich, wie Millionen von Hungernden und Dürstenden in der Dritten Welt.

Oder sie werden kurzerhand für die Interessen einer Mehrheit beiseite geschafft, wie die Brasilianischen Ureinwohner, wo der Belo Monte-Staudamm zur Energiegewinnung für die völlig unnötige Schwerindustrie gebaut werden soll, wie aber auch die Arbeitslosen, die mit vergleichsweise mickrigen Summen für einen völlig frei erfundenen Minimalbedarf abgespeist werden und sich dafür noch als in „spätrömischer Dekadenz“ lebende beschimpfen lassen müssen, während sie von der Arbeitsagentur schikaniert werden und sich in ganz eigenen Gladiatorenspielen Stellen suchen sollen, die es nicht gibt (und nie geben wird).

Oder sie sterben innerlich, indem man ihnen das Leben aussaugt (*), so dass sie irgendeinen völlig belanglosen Bürojob oder Arbeiterjob machen können, einen Job ohne echten Sinn, ohne nennenswerte Aufstiegschancen, ohne Aussicht auf ein echtes, würdevolles Leben mit deutlich mehr Selbst- als Fremdbestimmung, auf weitgehende Unabhängigkeit und absolut felsenfeste Wahrung aller Grundrechte in jeder Sekunde ihres irdischen Daseins durch den Staat (Stichwort „Hartz IV“, es reicht aber auch „Kindergartenplatz“ oder „Doppelzimmer im Altenheim“), sei es als niedriger Arbeiter, Angestellter, als „normaler“ Angestellter bzw. Selbständiger mit Reihenhaus und einer schönen Fernreise pro Jahr, oder auch als stiefelleckender Karriereist, der sich an Porsche und Rolex aufgeilt, aber (gerade deswegen) genausowenig frei ist wie die anderen, die unter ihm stehen. Wir alle sind die Tribute in diesen Hungerspielen, und wir rammen anderen gnadenlos das Messer in den Rücken, um selbst voranzukommen. Das bringt man uns schon früh im Leben bei. Fantastisch, nicht?

Die Tribute von Panem ist ein mutiger Film, dessen Botschaft sehr versteckt ist. Die Botschaft selbst ist relativ plump, aber dafür umso treffender auf den Punkt gebracht. Ich werde die Bücher lesen und herausfinden, ob dort mehr Gesellschaftskritik zu sehen ist, als im Film rüberkommt.

Das Haus der Krokodile

Louise, Cora und Viktor sind drei Geschwister mit Eltern, die wir im Film nur kurz sehen und die deshalb nicht allzu charakterisierbar sind. Denn sie fahren gerade in den Urlaub. Sonst gäb es nämlich keine spannende Geschichte zu erzählen.

Viktor ist der jüngste, ein Bub an der Schwelle zur Pubertät, wo eine irre intuitive Neugier auf erahnte Geheimnisse die Kids in schwierige Situationen bringen kann. Die beiden älteren Schwestern sind schon in einer deutlich abgeklärter sich gebenden Lebensphase.

Die Familie konnte eben in eine Wohnung in einem schlossartigen Wohnhaus mit verwinkelten Türmchen und Dachvorsprüngen und Anbauten und einem riesigen runden Treppenhaus am Rande eines Waldes, der ohne jeden Dialekthinweis das Lokalkolorit eines Spukwaldes in der Nähe von Frankfurt am Main ausstrahlt, ziehen. Denn der Onkel, der hier wohnte, ist sehr alt und nicht mehr richtig handlungsfähig, konnte seinen Haushalt nicht mehr bewältigen. Seine Wohnung ist überladen mit alten Möbeln und ausgstopften Tieren. Für Viktor ein Paradies. Obwohl er sich immer gerne in eine Art Schachtelhaus aus ausrangierten Umzugskartons verzieht und schon mal eine mentale Vorleistung für seine Spukgeschichten erbringt.

Der Übergang von der fiebrigen Kinderphantasie zur Realität lässt nicht lange auf sich warten, denn Viktor entdeckt einen Dieb im Haus, der aber spurlos wieder verschwindet. Da muss nachgeforscht werden. Viktor stösst auf ein Malbuch von einem Mädchen namens Cäcilia. Er findet heraus, dass dieses schon vor vierzig Jahren gestorben ist (1971). Er findet merkwüdige Zeichnungen, die er ohne langes Nachdenken als Hinweis auf ein Geheimnis wertet. Das setzt eine bubenfreundliche und bubenlustige Abenteuergeschichte in Gang mit merkwürdigen Krokodilzeichnungen allerorten, mit nicht ganz schalldichten Lüftungsschächten, mit waghalsigen Kletterpartien über ein regennasses schlüpfriges Dach, mit einer großen Gartenparty zum 80. des Onkels im Rollstuhl, der kaum ansprechbar ist, aber angesichts von Cäcilias Zeichnungsbuch einen Zusammenbruch erlebt, mit einer Frau Debisch im Haus, die selber schon fast wie ein Gespenst aussieht, mit einem Mitbewohner im Haus, der Herr Strichninsky heißt, was desto weniger vertrauenserweckend ist, als er eine Pistole trägt, die keiner sehen soll, mit ausgestopften Tieren aus Afrika mit Glasaugen, mit einem Herrn Opitz, der mal in Afrika war und mit einem Dachboden, in dem nicht nur die Spinnweben herrschen, mit einem Einbrecher, der eine Strumpfmaske trägt und nie Schlößer aufbricht.

Die beiden Autoren und Regisseure Cyril Boss und Philipp Stennert beweisen mit ihrem Film, dass am Rande von Frankfurt die allertollsten Spukgeschichten gedeihen können, dass Frankfurt ganz andere Dinge zu bieten hat als nur Bankenhochhäuser und Äppelwoi.

Gone

Handwerklich prima gemachter, wenn auch vollkommen überraschungsfreier Horrorstandard aus Portland Oregon mit einem kruden B-Cast.

Junge Frau, Jill, die behauptete entführt worden zu sein, der aber niemand geglaubt hatte und die in psychiatrischer Behandlung ist, ist überzeugt, dass ihre Schwester, mit der sie zusammenlebt, jetzt ebenfalls entführt worden ist.

Die junge, geblondet-langhaarige Jill lernen wir kennen, wie sie dabei ist, den Forest Park nach dem Ort ihres schlimmen Erlebnisses abzusuchen. Die Entführung blitzt in Erinnerungsbildern immer wieder auf. Sie hat eine sehr genaue Landkarte dabei und darauf den Wald in Suchfelder unterteilt.

Ihre Schwester ist eines Abends nicht zu Hause, obwohl sie doch Prüfungen vor sich hat, und bei ihrem Freund ist sie auch nicht. So schrillen bei Jill die Alarmglocken, aber die Polizei glaubt ihr nicht. Also macht sie sich selber auf die Suche.

Um diese Hauptdarstellerin herum wurde der Film gebaut. Sie sieht in jeder Szene so aus, als hätte sie vorher noch kurz geguckt, ob die Haare und Schminke perfekt sind. Sie hat die Augen immer weit offen. Sie hat ein Gesicht, nun ja, da hat vermutlich jemand an den Zügen rumgebastelt, die Lippen sind sehr schwülstig und offenbar so schwer, dass Jill den Mund meist halb geöffnet hat und die Nase entbehrt jeglicher Individualität. Ein Gesicht so verändert, dass es sich super eignet für diese Art von Horror-Picture. Es schmerzt direkt, da zuzuschauen. Der wahre Horror. Dieser wird noch unterstützt durch die Horrorfarbfiltrierung, alles ist grau-blau-stichig.

Spielort ist Portland-Oregon, von wo man nicht allzu oft Bilder im Kino sieht. Immerhin das.

Regie hat Heitor Dhalia geführt. Das Buch hat Allison Burnett geschrieben.

Ruhm

Mit dem Ruhm ist es so eine Sache, ihn zu erlangen, das mag noch angehen, ihn aber auszuhalten, ihn zu erhalten und damit zu leben, scheint schon bedeutend schwieriger zu sein. Vielleicht war das der Grund, warum Daniel Kehlmann, ein junger Erfolgsautor, ein Buch mit dem Titel „Ruhm“ geschrieben hat. Noch schwieriger allerdings, so erweckt Isabel Kleefeld mit ihrem Film den Eindruck, scheint es, so einen Roman zu einem Drehbuch umzuarbeiten und dieses dann zu einem Kinofilm zu inszenieren und zu montieren. Jedenfalls hat sich mir der Reiz dieses Filmes nicht so ganz erschlossen.

Wenn ich das richtig verstanden haben, dann bringt die Telekommunikation, wobei ich mich frage, wie weit hier ein Herr Mollvitt mittut, ständig falsche Verbindungen zustande, so dass Zeittgenossen die falschen Zeitgenossen anrufen oder Zeitgenossen von den falschen Zeitgenossen angerufen werden.

Zeitgenossen, das sind hier zwei erfolgreiche Künstler, die mit ihrem eigenen Ruhm beschäftigt sind, ein Autor und ein Schauspieler, dann solche, die das Ruhmproblem nicht haben, ein Elektroingenieur, eine Dame, die sterben möchte, ein Internetblogger und eine Krimiautorin, die am Anfang des Filmes noch unbekannt ist. Alles Menschen, die wenn nicht schon der Ruhm, dann doch die Telekommunikation in die Bredouille bringt. Menschen, die in Situationen gelangen, die man peinlich nennen könnte. So besehen ein Film voller Peinlichkeiten.

Der Film fängt mit einem simplen Handy-Verkaufsgespräch an, was nun mehr an ein Sachdienlichkeits- denn an ein kulturkritisches künstlerisches Kino denken lässt; was vor allem nicht eine Verankerung für einen Spannungsbogen bieten kann.

Der Literat hat Probleme mit seinem Ruhm. Stefan Kurt mimt ihn. Der ist auf Lesereise in Lateinamerika und soll in Zürich den Dürrenmatt-Preis erhalten, gleichzeitig hatte  er aber auch eine Einladung zu einer Reise nach Abchisistan . Viel Platz für Peinlichkeiten. Die Angestellte vom Goethe-Institut. Die ist als ziemlich depperte Trutsche aus dem bayerischen Lande charakterisiert. Immerhin zeigt sie Helligkeit, indem sie sehr schnell kapiert, dass die notorische Antwort des Autors auf die Frage, wie er auf seine Ideen komme „in der Badewanne“ lautet, und die nimmt sie ihm schon mal ab. Mitten während der Lesung, darf sie ganz laut schneuzen; ruhmkritisches Kino von Frau Kleefeld. Wobei die Kamera ihr auch keine große Hilfe bietet, so wenig aussagekräftig sie den wunderschönen Vortragssaal erzählungsarm ins Bild setzt.
Ein Schriftsteller wäre im Film kein Schriftsteller ohne Signierszenen, hier allerdings eher allgemeinplätzig, denn allgemeingültig oder gar literaturgeschäftskritisch aufgelöst.
Das Ego-Googlen des Autors hätte eine Portion schärfer gezeichnet werden können, wenn es mit der Grundeigenschaft Ruhmsucht des Autors in Verbindung gebracht worden wäre, die aber als solche auch unartikuliert blieb, als zwanghaft, hier passiert es naturalistisch, sozusagen ohne eine bestimmte Regiehaltung.
Ein Schriftsteller in Lateinamerika darf Pyramiden besteigen mit seiner Geliebten und dann sagen „Hier haben sie Menschen getötet als Opfergabe, mehrere Tausend.“
Wieder im Flugzeug sieht der Schriftsteller eine Passagierin das Buch der Krimiautorin lesen, die wegen einer anderen Geschichte in diesem Film in die Schlagzeilen gelangt ist und darf bemerken „Einmal in den Nachrichten und schon steigen die Verkaufszahlen“; auch hier verzichtet Isabel Kleefeld darauf, das mit Röntgenblick oder Schwarzhumorigkeit zu inszenieren. Vielleicht interessiert sie mehr die banale Alltäglichkeit des Ruhmes. Was leider cineastischer Brillianz entgegensteht.

Die unbekannte Krimiautorin. Weil der berühmte Autor wegen dem Dürrenmatt-Preis eine Reise nach Abchisistan absagt, nimmt eine unbekannte Krimiautorin seinen Platz ein. Frau Kleefeld wird uns mit der Inszenierung dieser Lesereise deutlich machen, wie barbarisch ihrer Meinung nach die Menschen im Osten doch geblieben sind. Die Autorin heißt im Film Maria Rubinstein.
In Abchisistan wird die Gruppe von einer uniformierten, östlichen Tourneeleiterin geführt, die so richtig brutal, barbarisch, plump wie eine Maschine, wie ein Relikt aus der Stalinzeit gezeichnet ist. Bei den Mitgliedern der Reisegruppe soll es sich um Reisejournalisten handeln.
Der Frau Rubinstein wurde also der Koffer geklaut, weshalb sie in die Schlagzeilen gekommen ist. Der Diebstahl ermöglicht Frau Kleefeld, ihre Auffassung über östliche Beamte zu verdeutlichen in krass klischeehafter Portraitierung „you have no visa, you are not here“. Und wie die Krimi-Autorin ein Zimmer sucht, bekommt sie zu hören „not possibel, we have lots of hotels in this biutiful country, we find room“.
Den Markt in Abchisistan benutzt Frau Kleefeld dazu, uns deutlich zu machen, wie wenig sie sich für die Komparsen interessiert, klar man muss Prioritäten setzen, aber die Standlmänner und Frauen im Hintergrund räumen ihre Stände alle so ungemein gleichzeitig und doch wieder so unkoordiniert ab, dass sie von der Handlung im Vordergrund ablenken, die aber eh weiter nicht von Belang ist.
Übrigens hat der Mann von unserer Krimiautorin eine Geliebte. Auch da funkt die Telekommunikation unangenehm bis peinlich dazwischen.

Frau Senta Berger sehnt sich nach dem Tod. Sie sucht Sterbehilfe in der Schweiz. Dazu spricht sie im Reisebüro vor. „Teurer als ein einfacher Flug ist nichts“, bekommt sie zu hören, wie ein Satz aus einem modellhaft geführten Reiseverkaufsgespräch. Dann noch die unvermutete Frage, um die Differenz zum Verkaufsschulungsfilm zu markieren: „Haben Sie sich noch nie gefragt, warum die Dinge sind, wie sie sind?“
Satz des Sterbehelfers in Zürich „Lassen sie sich soviel Zeit wie Sie brauchen, Sie sind heute unser einziger Gast.“
Der Sterbehelfer legt schwarzen Molton über den Monitor, der das Sterbezimmer überwacht, das ist pietätvoll und könnte, wenn es gut aufgenommen und inszeniert wäre, recht schwarzhumorig wirken. Hier wirkt es unentschieden skizziert.

Heino Ferch versucht einen Schauspieler darzustellen, der Tanner heißt und der vor lauter Ruhm und dessen negativen Nebenerscheinungen sein eigenes Double spielt. Als Idee doch ganz nett. Als Performance aber, was will es uns erzählen? Denn gerade ergiebig sind Sätz wie „Ich habe keine Autogrammkarten dabei“ nicht. In der Disco spielt uns Tanner einen Auftritt vor, der den Ruhm abwehren will. Probleme mit dem Ruhm oder was? Zu seinem Double darf er dann sagen: „Sorry, ich gebe keine Nachhilfe“. Und er darf feststellen „Das ist der Preis des Ruhms“. In Schulungsfilmmanier darf er später eine möblierte Wohnung besichtigen, die er anmieten will. Lehrszene für Vermietergespräche? Oder Infosendung am TV? Oder Drehbuchschreiben á la Frau Dörrie?
Ruhm wird, so will es uns Frau Kleefeld in ihrer Interpretation von Herrn Kehlmanns Buch verdeutlichen, am lästigsten, wenn ein Schauspieler in seiner Stammkneipe sitzt und draußen auf der Straße gaffen aufgekratzte Teenager durchs Fenster. Das hätten wir jetzt nicht gedacht.
Mit dem Double, das ist so eine Konstruktion, die durchaus zu komischen Situationen führen könnte. Wie er als sein Double, das wie ein eieiiger Zwilling des Originals daherkommt, das ist vielleicht das Problem dabei, nicht in seine eigene Villa hineingelassen wird, weil der Butler ihn abweist. Da hat wiederum die Kamera ein ganz großes Problem, zwar nicht mit dem Ruhm, aber mit den Rundungen im Gittertor, durch welche sie gegenschüssig aber nicht ganz schlüssig die beiden Figuren, die sich gegenüberstehen, einzufangen versucht.

Mag sein, es gibt ein Publikum, was diese alltäglichen Petitessen und Peinlichkeiten im Umschwung des Ruhms und verfehlter Telekommunikation anregend, köstlich, erhellend, geistreich oder bereichernd empfindet. Ich gehöre jedenfalls nicht dazu.