Archiv der Kategorie: Review

Reinas

Die allermenschlichsten der Probleme

Familie, und um nichts anderes geht es in diesem wunderschön, verhalten beobachtend erzählten Film von Klaudia Reynicke, die mit Diego Vega Vidal auch das Drehbuch zu dieser schweizerisch-peruanischen Koproduktion geschrieben hat.

Familie, heutzutage allerorten auf der Welt ein zerbrechlich Ding, ein gefährdet Ding, auch in Lima, selbst in der besseren Mittelklasse und nicht nur heute, auch schon in den frühen 90ern.

„1990 war Peru ein tief zerrissenes, vom Terror dominiertes Land. Diese Welle der Gewalt ging vor allem vom „Leuchtenden Pfad“ aus..“. Die Inflation ist hoch. Die Wirtschaft liegt darnieder. Das ist der Hintergrund, vor dem Elena (Jimena Lindo) einen Job in Minnesota angenommen hat. Sie lebt getrennt von ihrem Halloderi von Ehemann Carlos (Gonzalo Molina), den der Zuschauer beim freien Erfinden einer Biographie erlebt, als Taxifahrer, der behauptet Schauspieler zu sein, der aber nur wenig drehe, dafür aber seien drei von vier Filmen, die er gemacht habe, mit Roger Corman. Damit legt der Film ein künstlerisches Bekenntnis ab, das ihn schon mal in ein attraktives Licht setzt.

Carlos ist ein Dampfplauderer sondergleichen, aber von der sympathischen Art mit einer Schlagseite in Richtung Schwerenöter, er kriegt halt vor lauter Emotionalität nichts gebacken, ist aber fest davon überzeugt, dass sich das ändern wird. Er verehrt seine zwei Töchterchen als Königinnen, die titelgebenden Reinas, Lucía (Abril Gjurinovic), die haargenau beobachtende Kleine und Petze, und Aurora (Luana Vega), die am Strand sich von einem gleichaltrigen Filou schwängern lässt.

Die dramaturgische Sprungfeder für den Film ist eine lächerliche Unterschrift von Carlos, die für die Ausreiseerlaubnis der Kinder nötig ist, da weder die Scheidung noch das Sorgerecht der Eltern geklärt sind. Diese Spannung nutzt der Film, um in aller Ruhe dieses Familienleben zu schildern, die Ausflüge, die der Vater mit den Töchterchen zum Strand unternimmt, den Umzug der Mutter schon mal zur Oma (Susi Sánchez), für Familienfeiern, für einen Blick auf die Arbeit der Mutter in einem Reisebüro. Es gibt Nachrichten am TV, nächtliche Ausgangsgesperren, News von einem Attentat und immer wieder die Lügengeschichten von Carlos und die ungläubigen Augen der Töchterchen. Und so ganz kann der Papa mit seinem lottrigen Lada nicht vertuschen, dass er als Taxifahrer versucht, über die Runden zu kommen. Die Schweiz hat den Film zur Oscar-Auswahl eingericht, ganz chancenlos dürfte er nicht sein.

Abendland

Nach dem Ende der Zivilistion?
Oder nach dem Ende der Kanzlerschaft?

Eine wilde Horde von verkleideten Aktivisten stürmt einen Rodungseinsatz im Wald. Die Waldarbeiter fliehen. Ein Rodungsfahrzeug geht in Flammen auf. Die Aktivisten pennen auf dem Waldboden. Die Polizei kommt. Eine Aktivistin mit Merkel-Maske, die den Sturm auf die Waldarbeiter mit Handy gefilmt hat, kann entkommen. Sie verletzt sich auf der Flucht vor der Polizei. Sie kämpft sich durchs Unterholz, einem Fluss entlang. Als Gehhilfe benutzt sie einen Holzstock. Sie begegnet einem ausgestopften Rehbock. Sie gerät in absurde Inkommoditäten, stellt sich selbst als Angela vor.

Der Wald wird zu einem märchenhaften Irrgarten, in dem Angela dem Maskenaffenmenschen Aladdin begegnet, der ihr Frikadellen hinlegt und mit dem sie monologisiert. Er ist ein Leergutsammler und lebt in einer Höhle.

Manchmal flüstert Angela etwas und ist dann schwer zu verstehen. Sie stößt auf Baumhäuser, in denen Maskenfantasiefiguren wohnen, darunter eine andere Angiemaske. Von einer Kolonie ist die Rede. Die Angst vorm Virus ist bis hierher gedrungen. Das Virus spielt eine Rolle im einleitend gesprochenen Text des Filmes von Omer Fast.

In der Kolonie wird Angie ins Vogelhaus gehievt. In der idealistischen Aussteigerkolonie ist der Verbleib von Angela umstritten. Andererseits soll niemand von der Kolonie erfahren. Sie will einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Die Leute von der Kolonie sehen sich als Separatisten und nicht als Aktivisten. Der Traum vom nichtaktivistischen Separatismus. Ein Traum von der Veränderung der Gesellschaft. Die Veränderung der Gesellschaft geht von Träumereien und Spintisierereien aus. Oder wie sagt man bei der Brainstorming-Methode: man soll keine Idee verwerfen, auch wenn sie noch so abwegig, abstrus oder versponnen erscheint.

In der Finalstrecke gönnt sich der Film eine Identitätsdiskussion zwischen Masken-Angie und Masken-Angie; das ist ungefähr so ergiebig wie das eben erschienene Buch der Bundeskanzlerin a.D.

Engel mit beschränkter Haftung (ARD, Mittwoch, 4. Dezember, 20.15 Uhr)

Engel nach Rezept,

nach Drehbuchrezept. Man nehme zwei Figuren, die nicht zusammenpassen, man stelle Aufgaben, die sie nach menschlichem Ermessen nicht bewältigen können, füge den Faktor Engel im Sinne der Unendlichkeit und Unsichtbarkeit bei, der jeder Anforderung an Logik (warum können Engel Autofahren, dürfen aber nicht in einen Lift einsteigen? Sie können Autotüren öffnen und im Auto Platz nehmen und die Fahrer merken nichts) den Stinkefinger zeigt, man ziere die Dialoge mit ein paar Wien- und etwas Zeitgeistpointen und schon sind 90 Fernsehminuten gefüllt und jegliche Inkompatibilität kann als gelungen Rundes verkauft werden.

Der zauselige Harald Krassnitzer heißt als Engel Oskar Manker, der hat ein Buch geschrieben (‚Schützt die Welt, nicht das Geld‘) und vielleicht ist der Name auch eine Hommage an den berühmt-berüchtigten Theaterregisseur Paulus Manker. Vielleicht ist ja Harald Krassnitzer selber einer von vielen Mankergeschädigten und deswegen schon im Himmel.

Hier soll Manker einen neuen Engel, Mira Aichner (Maresi Riegner), einlernen. Sie wandeln nicht als Zombies, aber als für den Zuschauer sichtbare, für die Mitspieler unsichtbare Engel durch Wien und müssen Leben retten.

Die Engel haben ihren Tod bereits hinter sich.

Manker wohnt in einer physisch-realistischen Wohnung mit Möbeln und Schubladen. Zeitgeist-Dialoge meint, es kommen Begriffe vor wie Vintage, Pager sind was Altertümliches, die Frage, wie man drauf sei – Rezepte aus dem Drehbuch-Schnellkochtopf.

Mit dem Drogenmilieu hat man bei den Öffentlich-Rechtlichen immer gute Karten, erst recht, wenn man den Dealern Engel auf die Bude schickt.

Mira ist ein Ex-Junkie und will wissen wie Manker gestorben ist, aber das gehe sie nichts an. Gefälliges aus dem TV-Drehbuch-Schnellbedienkasten mit ein paar ernsten Brosamen über das Leben und den Tod dazwischengestreut plus zwei Löffel Vater-Töchter-Rührgeschichten, ein Dezi Leukämie, eine Prise Schuldgefühle.

Schutzengel dürfen sich nicht mit dem Ermittlergen infizieren lassen, haben aber ein öffentlich-rechtliches Gewissen. Und als abgeschliffen dramaturgisches Schwert droht über dem Film, dass Manker den Fall nicht wieder vermasseln darf, denn sonst… Was denn sonst? Interessiert das irgendwen?

Über all den moralinsauren Irrationalimus wird eine Musik gelegt, die penetrant hämmert, wie lustig und lüpfig das alles doch sei, und wie man die Humorweisheit mit dem Löffel gefressen habe. Untertext: solchene 90 Fernsehminuten rocken wir mit Routine aus dem Handgelenk ohne einen Finger krumm zu machen.

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers!

Vaiana 2

Animationasroutine in der Südsee

Setting und Cast sind in Vaiana etabliert.
Die Südseeinseln Samoa und Tahiti. Hier hat Hauptfigur Vaiana ihr Coming of Age. Dieses ist verbunden mit der Geschichte ihres Stammes, die Oma erzählt. Das Seefahrergen ist verschüttet. Vaiana wird es wiederbeleben, dabei wilde Abenteuer erleben und das Herz zur Rettung des Stammes zurückbringen.

Das war anrührend, aufregend und offenbar kommerziell ein Erfolg, so dass Disney glaubte, nachlegen zu müssen. Aber die Drehubuchautoren Jared Bush, Dana Ledoux Miller und Bek Smith scheinen diesmal ideell am Hungertuch zu nagen, greifen auf abgestandene Plotelemente zurück, die sie für den Südseestamm aus einer Kiste mit ausgeleiertem Versatzstücken hervorzerren.

Die Meervölker sollen verbunden werden, kein Mensch weiß warum; es ist bei den Südseeinsulanern kein besonderes Problem ersichtlich, nicht mal das Steigen des Meeresspiegels wird thematisiert, das wäre doch ein Ansatz, aber das haben die wunderbaren Autoren offenbar verpennt; insofern ein Film neben dem Bewusstsein der Zeit.

Um dieses unerfindliche Ziel zu erreichen, muss auf einer fernen Insel ein Zauber gebrochen werden. Für dieses Unternehmen wählen die Insulaner Vaiana zur Führerin.

Jetzt machen sich die Gag- und Trickanimateure wild ans Werk, grad die Süßabteilung hat viel zu tun mit niedlichen Figürchen wie dem Schweinchen, dem Hähnchen, einem kecken kleinen Mädchen, Müschelchen und bösen Kokosnüssen.

Es folgt unermesslicher Animationsfleiss ohne kreativen Storyinput. So will denn dieser Südseezauber trotz Musicaleinlagen, dem Beiziehen biblischer Elemente wie dem Stern von Bethlehem oder dem Meer, das sich teilt, und der tristen Jahreszeit bei uns nicht so recht zünden; erinnert an die leere Betriebsamkeit in vorweihnachtlichen Spielzeugschaufenstern von Warenhäusern.

Togoland Projektionen

Musterkolonie

Das wissen die in Togo, dass sie einst deutsche Musterkolonie waren und sie feiern den Volkstrauertag der Deutschen heute noch mit. Es gibt deutsche Soldatenfriedhöfe in Togo und die werden zu diesem Anlass feierlich besucht. Von den wegen dem Kolonialismus getöteten Togolesen ist nicht die Rede; auch nicht von Verbrechen der Deutschen wie in Namibia. Von Krieg schon. Trotzdem galt und gilt sie als Musterkolonie.

Hans Schomburgk hat diese deutsche Musterkolonie 1913 besucht und auf einer Reise durch das Land auch gefilmt. Nicht nur dokumentarisch, auch Afrikaspielfilme (‚Tropenschmonzetten‘) hat er gedreht.

Aus diesem Material hat Jürgen Ellinghaus welches selber mit nach Togo genommen, ist der Route von Schomburgks Reise gefolgt und hat an verschiedenen Orten die Filme gezeigt. Daraus wiederum hat er diesen Dokumentarfilm gemacht, der nicht nur reichlich Originalaufnahmen von Schmburgk aus dem Leben in der Deutschen Kolonie zeigt, sondern auch die Reaktionen der Zuschauer bei den Filmvorführungen dokumentiert und ihre Kommentare oder Erklärungen zu den Filmen, einmal auch den Versuch, in einer Gehörlosenschule einen im Stummfilm gesprochenen Text anhand der Mundbewegungen zu entziffern.

Der Film begibt sich an Stätten, an denen vor über 100 Jahren gefilmt worden ist. Es gibt Kommentare der Schauspielerin Meg Gehrts, die Schmoburgk auf seiner Reise begleitet hat und die in seinen Spielfilmen die Hauptrolle spielte, zum Beispiel in ‚Eine Weiße unter Kannibalen“.

Es gibt wilde Kriegsszenen mit der Kavallerie zu sehen oder Eisenerzabbau von damals oder wie ein Flusspferd gefangen wird oder Baumwolle gepflückt. Und es gibt die Reste einer ambitionierten Funkstation zu besichtigen, die die Deutschen gebaut haben.

Es wäre sicher spannend, einmal ein Konzentrat aus den Dokumentarfilmen von Schomburgk zu sehen.

Immerhin gibt es in letzter Zeit immer wieder Filme, die sich mit dem deutschen Kolonialismus beschäftigen: Das leere Grab, Der vermessene Mensch und sogar der Versuch mit einem Horrorfilm: Home Sweet Home – wo das Böse wohnt.

Emilia Perez

Traurig-süßes Mexiko-Poem

Der Film von Jacques Audiard (The Sisters Brothers, Ein Prophet, Der Geschmack von Rost und Knochen, Dämonen und Wunder, der mit Thomas Bidegain und Nicolas Livecchi auch das Drehbuch geschrieben hat, findet Menschlichkeit und Gefühl im von Drogen und Drogenkriegen verunstalteten Mexiko.

Zusammen mit den Protagonisten verwandelt sich das Ensemble immer wieder in einen Chor, einen Operchor oder man kann darin auch den griechischen Tragödienchor sehen, der Grundbefindlichkeiten, Grundbedürfnisse des Menschen musikalisch, rhythmisch-tänzerischen Ausdruck verleiht. Das unterstreicht das Lyrische an dieser ganz spezifischen Geschichte aus dem Drogenmilieu.

Der brutale Drogenboss Gabriel Mendoza (Karla Sofía Gascón) möchte seit seiner Kindheit eine Frau werden und zwar lieber gestern als heute – ein kleines Problem, wenn man ein gesuchter Krimineller ist. Dazu braucht er Diskretion und eine clevere Anwältin, die ihm diese garantiert. Er findet sie in einem Prozess, den Jacques Audiard auf hohem internationalem Niveau als spannendes Filmentrée inszeniert.

Es geht um die Frage Mord oder Selbstmord in einem Beziehungsdelikt. Anwältin Rita (Zoe Saldana) ist das Hirn dieses Prozesses, die Lorbeeren heimst ihr Vorgesetzter ein. Mit solchen Menschen, denen ihre Fähigkeiten im Beruf aberkannt werden, ja für welche andere kassieren, ist ins Geschäft zu kommen. Und wer könnte der Verlockung einer limitlosen Kreditkarte widerstehen, einer Kreditkarte, deren Deckung durch unsaubere Drogengeschäft längst nicht mehr anzusehen ist?

Da Rita auf diese Weise wirtschaftlich abgesichert ist, wendet der Film sein Interesse mehr dem bald schon vom israelischen Doktor Wasserman (Mark Ivanir) in Emilia Perez umgewandelten Gabriel Mendoza zu; dieser wird ganz offiziell sterben müssen.

Jetzt ist der Film eine Hauptlast los, muss sich aber um andere Probleme kümmern, lösbarere; dazu verwandelt er sich selbst in seinem Genre, passt sich mehr der traditionell lateinamerikanischen Telenovela-Erzählweise an; wird langsamer und weniger kompliziert in der Machart.

Dafür umso herzlicher. Denn es muss sich um die Frau Jessi (Selena Gomez) des Verschiedenen gekümmert werden. Eine Unterkunft am Genfer See ist machbar. Aber irgendwann sehnt sich der ehemalige Papa doch nach seinen Kids. Er lässt, sich als Tante ausgebend, seine Frau mit seinem Nachwuchs nach Mexiko bringen.

Emilia wird mit den Folgen seiner Verbrechen konfrontiert. Jetzt macht sie eine Wandlung zur Wohltäterin durch, gründet die NGO Lalaceita, die sich um die ungeklärten Verbrechen der Drogengangs, des Sinoa-Kartells, kümmert.

Hier gibt es einen Berührungspunkt zum Film Was geschah mit Bus 670.

Einen dramatischen Input erhält die Handlung, wie Jessi einen Gustavo (Edgar Ramírez) kennenlernt und mit ihm und den Kindern wegziehen will. Das Fiese an diesem Film ist, dass man die ganze Zeit weiß, aus welch dreckigen Geschäften das Leben der an sich sympathischen Protagonistin kommt und auch dasjenige der Anwältin. Aber man ist ganz auf ihrer Seite. Immerhin machen sie ja eine Wandlung durch. Die Anwältin auch? Nun ja, für sie gilt: es hören, bedeutet ins Geschäft kommen.

Der Vierer

Gegen Beziehungsverdruss

Wenn die Kinder aus dem Haus sind, sind die Eltern wieder sich selbst ausgeliefert. Da kann beim einen oder anderen Paar eine gewisse Leere, eine Routine, ja direkt so etwas wie totgelaufene Liebe festgestellt werden. Das ist ein Problem. Das kann zur Trennung führen.

In so einer Krisensituation befinden sich Sophie (Julia Koschitz) und Paul (Florian David Fitz). Ihr Teen Denis (Diyar Ilhan) ist ausgezogen und die Eltern fragen sich, wo ihre Liebe von einst abgeblieben ist. Sie wollen es mit einem Vierer-Experiment probieren, sie haben sich mit Mia (Lucía Barrado), einer Spanierin, und Lukas (Friedrich Mücke) verabredet.

Der Film von Iván Sáinz Pardo, der mit Florian David Fitz und Torben Struck auch das Drehbuch nach dem spanischen Film „Amor en Polo“ von 2019 geschrieben hat, setzt bei Paul und Sophie in der Wohnung ein, bei den Vorbereitungen auf diesen Viererabend. Paul hat sogar extra ein spanisches Buffet hergerichtet. Zuerst wollen sich die Paare in einer Bar treffen.

Der Film ragt aus dem Gros der deutschen, subventionierten Beziehungskomödien heraus, weil er realen und möglichen Beziehungskonflikten radikal und unerbittlich auf den Grund geht. Es ist also kein typisch deutscher Themenfilm, für welchen zu einem fernsehredaktionell korrekten Thema Pappfiguren erfunden werden, die die themenillustrierenden Sätze ablassen müssen, es ist aber auch nicht die typisch deutsche Erfolgskomödie, die sich aus Geschlechterwitzchen und Zoten nährt.

Es gibt noch Schnittmengen mit den erwähnten typisch deutschen Filmen: die Musik wäre gar nicht nötig, die wirkt wie draufgelegt, weil es sich halt gehört. Die Ausstattung ist oft viel zu gut belichtet, interessant ist, was die Figuren miteinander anstellen. Der Schnitt ist oft hektisch, als ob er und die Kamera der Substanz des Drehbuches nicht trauten. Auch dieses hat möglicherweise Schäden erlitten durch ein Drehbuchbearbeitung durch zwei Frauennamen, die im Abspann zu schnell vorbeiliefen und bei IMDb nicht eruierbar sind. Die Vorlage für das Drehbuch lieferte der spanische Film Amor en Polvo von 2019.

Der Film ist ein happiges „den Dingen auf den Grund gehen“. Dafür sind Iván Sáinz Pardo nur die besten deutschen – oder bei Mia spanischen – Schauspieler gut genug. Sie lassen sich ein nicht nur auf schonungslosen Seelenstrip, sich trauen sich auch körperlich.

Der spanische Input zum Genre der deutschen Beziehungskomödie erweist sich als Gewinn, auch wenn dabei manch Haushaltgegenstand in die Brüche geht oder es auch mal zu einem blauen Auge führt. Dann wird aber auch wieder ruhig und ernsthaft darüber diskutiert, was denn Liebe sei, was Beziehung wertvoll mache oder über die harte Währung Vertrauen; über Lustangst und das Risiko, sich zu öffnen, und es wird auch, was als besondere Kunst in der Schauspielerei gilt, sich zugehört.

Baldiga – Entsichertes Herz

Nix da mit heimlich schwul

So hätten es die Eltern von Jürgen Baldiga wohl gern gehabt, Bergmannsleut aus Essen, dann hätten sie erzählen können, er habe halt keine Frau gefunden oder kein Glück gehabt und wäre weiter nicht aufgefallen. So erzählt es die Schwester.

Aber so waren Jürgen nicht. Er war freie Schnauze, gerade heraus, die Dinge auf den Punkt bringen. Er ging mit 15 in Essen am Bahnhof auf den Strich. Das fiel nicht weiter auf, mit dem Freier ins Auto, er bläst ihm einen, bekommt 50 Mark dafür und ab nach Hause, wo Mama und Papa vor dem Fernseher hocken und rein gar nichts mitbekommen.

Für so einen Jungen, der eine Kochlehre macht und künstlerische Ambitionen hat, ist Essen nichts. Berlin zieht ihn magisch an. Es ist 1979. Hier kann er sich kleiden wie er will, kann als Koch jobben, kann auf den Strich gehen und vor allem kann er sich seinen künstlerischen Ambitionen hingeben, sich selbst ausdrücken, malen, fotografieren und unverblümt Tagebuch führen; Kunst und Ficken sind die Erfüllung im Hier und im Jetzt.

Das Tagebuch ist eine der Quellen, aus denen sich das Drehbuch von Ringo Rösener für den Film von Markus Stein nährt. Diese verfügen auch über Fotos, Kontaktbögen und Super-8-Aufnahmen von Jürgen Baldiga. Es gibt nachgestellte Szenen mit Schauspielern (Franziskus Claus als Baldiga) und es gibt Talking Heads mit Leuten, die den Künstler gut kannten, eine Schwester, ein Lover, Ärzte, Aktivisten.

In Berlin kann Baldiga seine Schwulität voll ausleben bis zum Aufkommen von AIDS, die die ganze Sorglosigkeit der Lust zunichte machte. Er selbst wird infiziert, sein Freund Eros auch. Er macht das öffentlich, pflegt einen offensiven Umgang damit. Gleichzeitig bringt er Fotobücher heraus.

Ihn interessieren und faszinieren „Menschen am Rande der Gesellschaft, die ihre Mitte gefunden haben“. Eines der Bücher, die hier samt ihren Modellen breiteren Raum einnehmen, ist „Tunten“. Und wie er das Leben vorurteilsfrei betrachtet und gelebt hat, so hält er es mit dem plötzlich schweren Verlauf seiner Krankheit. Als Suspens vor dem Ende gibt es noch eine Reihe mit Fotos von einer Reise mit seinem letzten Freund nach New York. Auch dieser kommt zu Wort.

Jeff Koons: A Private Portrait

Kein leidender Künstler,

Geschäftssinn, Dekor, kindische Verspieltheit und Familiensinn, das scheint die Kunst des Jeff Koons auszuzeichnen.

Familiensinn, weil Koons durch und durch ein Familienmensch ist, mit Unmengen von Kindern, mit denen er auf der Familienfarm in Pennsylvania lebt.

Geschäftssinn hat er zuhause gelernt. Sein Vater war ein Geschäftsmann; und als Geschäftsmann, als Makler, hat Jeff Koons in seinen Anfängen Geld verdient, um seine teuren Objekte herstellen zu können. Dies zeigt nebenbei, dass er kein opportunistischer Künstler ist, sondern die Dinge macht, die ihm wichtig scheinen, auf die er Lust hat.

Das Dekor-Element hat er auch von zuhause gelernt. Nicht nur, dass der Vater einen Betrieb für Innenausstattung hatte, auch die Mutter zeigt viel Geschmack im Dekorieren von Wohnung und Weihnachtsbaum. Diese Dekor-Kunst wurde auch vom Vater mit dem wohl an den Sohn übertragenen Perfektionsimus gepflegt. Und spiegelt sich in vielen seiner Kunstwerke wieder, in klassischer Kunst, die er mit Christbaumkugeln versehen hat.

Die kindische Verspieltheit mag die tiefere Ursache für seine Kunst sein, die in seiner hierarchischen Position in der Familie begründet ist. Der Bub hat eine drei Jahre ältere Schwester, die ihm immer in allem überlegen war. Dann zeigte es sich: nicht im Künstlerischen. Das ist wohl eine natürlich menschliche Neigung, sich auf so eine Stärke – und in diesem Fall sicher auch mit extraordinärer Begabung ausgestattet – zu konzentrieren.

Diese Kunst wird eine Reflexion der Verhältnisse seiner Mittelklasseherkunft und deren Liebe zur Innenausstattung und zum Dekor. In der großen Kunst selbstverständlich massiv überhöht oder wie Fachleute sagen: neu gesehen; aber auch: Verbindung unter den Menschen, unter den Betrachtern schaffend; denn jeder sieht darin etwas Bekanntes, aber in neuem Zusammenhang und neuer Umgebung, im Museum of Modern Arts oder in futuristischer Gebäudewelt in Doha.

Peppi Corsicato hält mit seiner Dokumentation, was er im Titel verspricht. Es ist ein privates Porträt mit einer ganz schönen Schnittmenge Gemeinsamkeit mit der Klatschspaltenabteilung. Und mit den üblichen Talking Heads, Family, Friends und Fachleute. Die werden allerdings ungewöhnlich ins Bild gesetzt: als seien sie von Koons gesehene und gemochte Objekte.

Der Film lässt Koons persönlich erzählen, verfügt über privates Super-8-Material bis in die geborgene Kindheit zurück und vergisst nicht ärgerliche Geschichten wie den Sorgerechtsstreit um den einen Sohn oder die Sache mit Ilona Staller, ohne en detail darauf einzugehen; oder die sich mit der Volljährigkeit glücklich entwickelnde Geschichte zur direkt nach der Geburt zur Adoption freigegebenen Tochter. An Koons grundsätzlichem Optimismus und seiner Menschenfreundlichkeit, seiner Objektverspieltheit scheint sich dadurch nichts geändert zu haben.

City of Darkness

The walled City,

die ummauerte, die eingezäunte, die abgeschirmte Stadt, ist der Schandfleck von Hongkong in den 80ern. Hier tobt das Verbrechen, der Schmutz, die Ausbeutung, die Angst.

Die graphische Darstellung dieses Nichtortes erreicht eine eigene Virtuosität in diesem an handwerklicher Brillanz besonders im Actionbereich nicht armen Filmes von Soi Cheang nach dem Drehbuch von Kin-Yee Au, Tai-Lee Chan und Li Jun.

Vielleicht etwas zu deutlich computeranimiert wirkt die Unwirtlichkeit dieses massiven Blocks an Behausungen, engen Gassen und Treppenhäusern, Vordächern, einem Verhau von Leitungen, einem Gewirr an Stangen – ideal um Menschen, die sich verfolgen durchtreiben zu lassen, Stockwerke in die Tiefe zu sausen, um sie dann auf irgend einem Vorsprung oder in einem Geflecht aus Drähten liegen oder hängen zu lassen. Hierbei wird keine Möglichkeit verschenkt.

Es gibt gegnügend Anlässe für Verfolgungsjagden und schlagkräftig-blutige Auseinandersetzungen. Denn diese verfemte City ist in den Händen des Günstlings Tornado (Luis Koo) einer Triade. Hierhin flüchtet sich der Protagonist Chan Lok-kwan (Raymond Lam). Der ist ein Flüchtling, hat keine Papiere und das ist das einzige, was er möchte, um ausreisen zu können. Da Mr. Big (Sammo Kam-Bo Hung) ihn reinlegt, schlägert er sich aus dessen Entourage heraus, nimmt einen Sack voller Kokain-Päckchen mit und will die jetzt in der Walled City verscherbeln. Schon sitzt er in der Patsche, sitzt inmitten der Interessenbereiche der Triaden. Die Keilereien können beginnen.

Die Action wird virtuos und es gibt ein paar gute Helden, die auf Seite des Protagonisten stehen. Die Darsteller schonen sich nicht, die Regie schont sie auch nicht; die Abteilung, die Blessuren schminken muss, bekommt satt zu tun.

Bei aller Meisterlichkeit des Actiongewerbes frage ich mich aber, warum mich der Film so unbeteiligt lässt. Ob das an Einführung und Charakterisierung der Figur Lok liegt, der erst mal keine Vergangenheit, keine Familie, kein erkennbares persönliches Need hat, außer, dass er Papiere will?

Warum hat mich der Film Weekend in Taipei von Beginn an so viel mehr gefesselt? Oder auch die Filme von John Woo?

Am Ende heißt es, dass die Walled City 1993 dem Erdboden gleichgemacht worden sei und eine Folge von Clips zeigt Menschen in Frieden und Freude, die ihrem Handwerk nachgehen, die Welt ist ordentlich geworden, heil, glücklich, die Regale in den Geschäften sind gut gefüllt, Familien schauen fern und der Schuster ist bei seinen Leisten geblieben. Und selbst wer im Kopf hat, dass Hongkong erst 1997 an Festlandchina übergegangen ist, der versteht: dieses neue China sorgt für Frieden, Wohlstand und Glück.