Archiv der Kategorie: Review

Friedfeld, Folgen 1 – 5 (ARD, Freitag, 22. März 2024, 09.00 Uhr)

Weichgespülte Simpsons

Die Simpsons, das scheint die Ambition der ARD-Redakteure Patricius Mayer (BR), Claudia Simionescu (BR) und Simon Riedl (SWR) gewesen zu sein. Da sie öffentlich-rechtlich und also weisungsgebunden sind, darf es keine Ecken und Kanten geben, keinen richtigen Biss.

Herausgekommen sind also nach Drehbuch und Regie von Alfonso Maestro und Tillmann Orion Brehmer deutsche Simpsons auf Sparflamme, die Friedefelder, eine Gruppe von Comic-Figuren mit wenig Charakter und ohne geistige Schärfe, die vor allem Reproduzenten alberner Pennälerwitzchen sind.

Es muss alles, was sich nach Zeitgeist anhört, wenig originell durch den Kako gezogen werden mit einem Schlagwortfragmentensalat aus allen möglichen Trendbereichen wie Gesundheit, Öko, Klimaveränderung, Welthandel, Feminismus, Konsumwelt, Werbewelt, Mondo Hygienico, Sport und Autos, Karrierismus, Social Media, Hochzeit, Polyamorie, Tourismus und Pilgertourismus.

Weichgespült wirken die Comics auch durch die wenig gepflegte deutsche Synchro. Die Einfachheit der Zeichnungen wird nicht mit spitzer Prägnanz kompensiert.

Mich als Zwangsgebührenzahler ärgert es, dass ich sowas mitfinanzieren muss. Wenn die Comics richtig gut wären, so dürften sie ohne weiteres kommerziell rentieren und bräuchten nicht die Gunst von öffentlich-rechtlichen Fernsehredakteuren. Wobei dieses Fernsehen doch sowieso sparen sollte. Auf solche Ausgaben kann es problemlos verzichten.

Ein Beispiel für den Humor: die T-Shirt-Inschrift „My Pen is huge“ … dem Typen setzen wir ein ARD-Krönchen auf – oder er erhält einen ARD-Spartanga.

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers!

Ghostbusters: Frozen Empire

Für Fans –
ungewöhnliche, paranormale Aktivitäten

Zur Münchner Pressevorfühung waren extra Fans der Ghostbuster-Reihe eingeladen worden. Sie kamen in den Arbeitsklamotten der Geisterjägerfamilie Spengler angereist. Und einer fand nachher, es sei ein sehr guter Film. Da möchte man dann auch gar nicht diskutieren.

Es ist ja auch eine köstliche Erfindung, diese Familie, bestehend aus dem nicht leiblichen Vater Gary Grooberson (Paul Rudd), der Mutter Callie (Carrie Coon), dem 18-jährigen noch sehr milchbubhaften Trevor (Finn Wolfhard) und der 15-jährigen gespensteraffinen Phoebe (Mckenna Grace), die sich in New York als Gespensterjäger engagieren.

Die Arbeitsklamotten der Spenglers sind diese braunen Arbeitsanzüge, wie die Fans sie trugen. Ihr Arbeitsvehikel ist ein aus der Zeit gefallenes Auto mit diversen Ausstattungen und Eigenschaften, mit dem die Familie im hellen Wahn durch New York drischt, wenn es ein Gespenst aus dem paranormalen Raum zu jagen gilt. So weit so abnormal normal und unterhaltsam.

Aber in so einer Serie braucht es einen speziellen Einzelfall. Den hat Regisseur Gil Kenan mit Jason und Ivan Reitman auch im Drehbuch entworfen und festgehalten. Und da scheint mir das Schielen nach Erfolgsrezepten doch etwas allzu auffälig.

Im vorliegenden Sequel bringt eine komische Figur, Nadeem (Kumail Nanjiani), ein höchst gefährliches und sehr altes Gespenst ins Spiel, den in einer magischen Kugel eingschlossenen Garrake. Dessen Idee scheint bei Die Eiskönigin – völlig unverfroren abgekupfert. Wo Garraka hinkommt, gefriert alles zu Eis und aus dem Boden wachsen Eisspitzen.

Diese umgetunte Eiskönigin scheint hier eine Erfindung um der Erfindung willen. Es fehlt der urmenschliche Zusammenhang einer Schwesterbeziehung und eines Urschwesternzwistes. Insofern steht das Modell der Vereisung etwas einsam und verloren im Raum; denn auch zum zentralen Ghostbuster-Thema der paranormalen Erscheinungen trägt dieser Gag grad gar nichts bei. Steht also doppelt einsam im Serienraum.

Das wird auch nicht glücklicher dadurch, dass Nadeem, der sich dieser Fähigkeit gar nicht bewusst ist, auch noch der Oberjäger sein muss. Das wird eine ungelenke Nummer, etwas naiv, auch das steht so für sich im Raum als Erfindung ohne prickelnde Bezugspunkte zum zwischenmenschlichen Geschehen. Solokomiker. Ganz nett.

Zur Genealogie von Garraka gibt es langatmige Erkärungen, so spannend wie mancher Geschichtsunterricht in der Schule.

Umberto Eco – Eine Bibliothek der Welt

Der Schwindel und die Bücher

Die Möglichkeit, dass Texte nicht unbedingt die Wahrheit sagen, hat Umberto Eco vielleicht am meisten interessiert an den Büchern. Deshalb habe ihn das Werk von Athanasius Kircher so besonders fasziniert. Der war ein jesuitischer Gelehrter mit einem enormen Wissensdurst, Wissenshunger, Wissensdrang, der alles verschlang, was er greifen konnte, besonders auch Erzählungen und Informationen aus erster oder zweiter Hand über andere Länder. Er sei imstande gewesen daraus wissenschaftlich wirkende Werke zu schreiben, die voller Fehler waren. So lässt Davide Ferrario in seiner Hommage an den berühmten italienischen Schriftsteller und Büchermenschen es erzählen.

Alles dreht sich um Bücher in diesem Leben. Eco hinterlässt eine enorme Bibliothek. Auch hier sind besonders auffällig Sammlungen über Randgebiete, Ungewöhnliches, Fragwürdiges, Erfundenes, Exzentrisches, Gefaktes, Fantastisches, Spekulatives, Abseitiges.

Sicher, Bücher sind auch die Erinnerung, sie bilden das Bewusstsein des Menschen, das Gedächtnis, die Identität. Bücher machen die Geschichte des Menschen aus.

Um einen Rundgang durch die Bibliothek des Schriftstellers gruppiert der Dokumentarist das Undokumentierbare, den Geist des Dichters. Flankierend gibt es immer wieder Blicke durch andere Bibliotheken, Bücher, Bücher.

Die Witwe und Kinder und Kindeskinder des berühmten Schriftstellers kommen zu Wort. Der Autor selber auch. Es gibt Ausschnitte aus Interviews, in denen er sich über sein Verhältnis zu Büchern äußert und sein Verhältnis zum Internet und der mobilen Telefonie. Das kann mitunter sehr unterhaltsam werden, wenn er gefragt wird, ob er sein Handy dabei habe. Ja. Ob er es an habe. Nein. Er möchte so nicht erreichbar sein. Er brauche es lediglich wegen der Notizfunktion.

Ein Schauspieler erzählt als Zitat die Geschichte von einem Studenten und einem Menschen an der Theaterkasse. Der ein konnte nie die Enden der Stücke sehen, weil die Studenten zeitig ins Internat zurück mussten und der andere konnte nie den Beginn der Stücke sehen, weil er bis zum zweiten Akt noch an der Kasse zu sitzen hatte. Es kommt nicht auf die Vollständigkeit an, auf die Perfektion, auch nicht auf die Anzahl der Bücher, das könnte man daraus schließen, es kommt darauf an, sich ernsthaft mit den Texten auseinanderzusetzen.

Das allerdings setzt Eco im Hinblick auf das Message-Unwesen im Internet in Frage. Während er wiederum Interesse bekundet an Texten, die nicht über das etablierte Verlagswesen zustande kommen, die im Selbstverlag herausgegeben werden. Erwähnt wird auch der Fake-Autor Milo Temesvar.

Es gibt in diesem beschwingten, zum Denken anregenden Gang durch das Bücher-Universum des Umberto Eco auch einen Ausschnitt aus einer dadistischen Lesung des Autors, in der er literarische Titel aneinanderreiht als Endlossuada.

The Kill Room

Art and Crime,

das reimt sich, nein, reimt sich nicht, geht aber in diesem New-York-Film von Nicol Paone nach dem Drehbuch von Jonathan Jacobson eine amüsante Symbiose ein.

Da ist einerseits der Bäcker und Geldwäscher Gordon (Samuel L. Jackson mit aufgeklebtem Bart) und andererseits die Galeristin von der „Program Galerie“, Patrice (Uma Thurman, die auch als Mitproduzentin des Filmes fungiert).

Beide krabbeln von einem finanziellen Problem zum nächsten, sie hat zu wenig, er hat zu viel, aber unsauberes Geld. Bis die gloriose Idee aufkommt, mit hochpreisiger Kunst lasse sich Geld waschen. Damit wäre allen geholfen.

Gordon beauftragt seinen Bagman, das sind im kriminellen Milieu die Geldabholer, nebst der Botentätigkeit zusätzlich als Maler zu fungieren. Bei Reggie (Joe Manganiello) ist der Begriff des Bagman zusätzlich durch den Vorgang belastet, dass er die Plastiktüten seinen Opfern über den Kopf zieht.

Reggie ist eine wunderbar männliche Figur einerseits, finster und dumpf andererseits als ob er aus dem tiefsten Walde käme. Reggie, so der Plan, soll ein abstraktes Ölbild malen, die Galerie nimmt es an Zahlung, kommt so aus der finanziellen Klemme und Gordon bekommt sauberes Geld. Sollte man sich vielleicht merken.

Der Plan entwickelt allerdings Eigendynamik, wie Sammler sich plötzlich für dieses Werk interessieren und bereit sind, dreistellige Summen dafür hinzulegen. Schnell muss ein Künstlername gefunden werden: Bagman ist naheliegend.

Der Film macht sich jetzt – nebst der herrlich satirischen Schilderung der New Yorker Kunstszene – einen Heidenspaß draus, vom Hype zu erzählen, den Bagman in der Kunstwelt entwickelt. Alle wollen plötzlich einen „Bagman“.

Die wichtige Kunstkritikerin „The Kimono“ (Debi Mazar) schreibt Lobeshymnen über die zu den Gemälden hinzugekommenen Objekte, gebrauchte Plastiktüten, ha, ha; der Zuschauer weiß mehr über die Zusammenhänge.

Das Medieninteresse steigt und damit die Konflikte im Gangstermilieu, denn auch dort wird Bagman weiter gebraucht und Publizität kann man grad gar nicht gebrauchen. Gleichzeitig muss er für die Kunstszene liefern.

Die Entwicklungen steigern sich bis zu einem ultimativen Kunstakt, nach welchem Bagman abdanken will – und der einen tiefen Einblick in mögliche Geheimnisse berüchtigter Zollfreilager gibt.

Sowas von super!

Die Sache mit den Superhelden

In dem kleinen norwegischen Dorf auf einer Hocheben irgendwo eingebettet zwischen Felsen an einem Fjord hängt der Segen keineswegs schief. Wenn etwas passiert, so taucht aus dem Nichts der Stadtheld, der Superlöwe auf und regelt es.

Beispielhafte Aktion dafür ist ein Kinderwagen, der wie einst auf der berühmten Treppe von Odessa ohne Begleitperson nach unten saust. Noch schneller saust Superheld und rettet das Kind mit einer wahnwitzigen Aktion.

Klein Hedwig, eine zwar begeisterte Gamerin, aber generell in allem, was sie tut, nicht sonderlich begabt, erkennt im Superlöwen ihren Vater. Durch einen unglücklichen Zufall schrumpft dessen Kostüm in der Wäsche. Auch dieser Vorgang zeigt schön Witz und Frechheit der Inszenierung von Rasmus A. Sivertsen nach dem Drehbuch von Kamilla Krogsveen auf.

Die Waschmaschine dreht schier durch, es blinken die Anzeigen wild durcheinander und die Maschine dreht so temperamentvoll, dass sie zu wandern anfängt, gefährlich sich dem Treppenabsatz nähert. Den Rest kann sich der Zuschauer denken; denn unten im Salon sitzen Papa, Hedwig, der Onkel von Hedwig mit Frau und Söhnchen Adrian beim feinen Essen. Bis das Superlöwen-Kostüm mitten im Gesicht des Onkels landet. So dürfen Geheimnisse nicht ausgeplaudert werden. Zu Strafe schmeißt Papa die Gäste raus.

Was tun mit einem geschrumpften Superlöwen-Kostüm? Es kommen Adrian und Hedwig in Frage. Situationen, die die Superlöwenhilfe brauchen entstehen am laufenden Band.

Der Film wird jetzt fröhlich kreativ evaluieren, wer von beiden zum Superlöwen ausersehen ist. In diese Zusammenhang wird auch eine Talentshow der Schüler ein Rolle spielen. Und es wird die Negativpower, die das Supermantum entwickeln kann, aufgezeigt.

Als Quintessenz dieses Prozesses stellt der Film die Grundfrage nach dem Wesen des Supermantums, ob die Menschen, deren Ortschaft von einem Superlöwen geschützt wird, nicht besser daran täten, selber mehr Verantwortung zu übernehmen. Und ohne eine verrückte, mit dem Auto wie wild rasende Oma, wäre der Spaß wohl nur halb so wild.

Slow

Weibchenverhalten im Kinolabor

Für Filmemacherin Marija Kavtaradze scheint das Kino ein Labor zur Untersuchung der Liebe zu sein, des Weibchenverhaltens ihrer Protagonistin Elena (Greta Grineviciute), einer stämmigen Person, die ihr Leben dem Modern Dance widmet. Dies gegen den Willen ihrer strengen Mutter.

Elena sucht die Liebe, vielleicht letztlich die Bindung, die Beziehung, die Heirat. Eine Heirat kommt im Film vor, die ist aber eher illustrativ oder flankierend. Es ist der Bruder von Dovydas (Kestutis Cicenas), der heiratet. Dovydas lernt Elena in einem Tanzkurs für Gehörlose kennen. Er arbeitet als Gebärdendolmetscher.

Elena hat keine Hemmung vor der Liebe, vor Männern. Aber wenn einer, den sie nicht kennt, nur einen Steifen bekommen kann, wenn sie ihm sagt, sie liebe ihn, so fällt ihr das zumindest schwer.

Es gibt einen Vilius (Pijus Ganusauskas), ein Geplänkel. Aber Dovydas passt auch nicht ins Klischee, ins Idealbild. Er behauptet asexuell zu sein, mag sein, als Schutz vor Bindung. Das reizt Elena erst recht, aus ihm den Normalmann rauszulocken.

Elena charmiert viel mit den Männern, es gibt ja noch Kollegen in ihrer Tanzgruppe. Und was ist Tanz mehr als inszeniertes Paarungsverhalten.

Die Filmemacherin gibt aber auch andere Varianten zu bedenken. Freundin Viktorija (Laima Akstinaite), hat als Nonne das Gelübde abgelegt und ist froh darüber. Und an Dovydas irritert Elena, dass er unter der Dusche wohl wichst. Das sei nicht asexuell, gibt sie zu bedenken. Noch mehr irritiert ihr Weltbild, dass er von „open relationship“ spricht.

Ach, die Liebe ist ein kompliziert Ding. Den Titel „slow“ bezieht der Film aus einer Eigenschaft von Dovydas, der kommt nach einer Woche wieder auf eine Frage von Elena zu sprechen. Womit er sich für sie als langsam zu erkennen gibt. Wie weit wiederum ist Paarungsverhalten eine Frage des Tempos?

Radical – Eine Klasse für sich

Das mit der wahren Geschichte

ist so eine Sache. Oder ein Film „nach einer wahren Geschichte“.

Die Hintergrundgeschichte hinter diesem Spielfilm von Christopher Zalla, der mit Joshua Davis auch das Drehbuch geschrieben hat, ist diejenige der Grundschule „José Urbania Lopez“ in Matamoros in Mexiko im Jahre 2011/12.

Aus dieser Schule kommen die schlechtesten Resultate bei den Prüfungen in ganz Mexiko. Schuld sind Armut, Gangstertum und Korruption in der Schulverwaltung. Ein Computerraum wurde zwar mal gespendet. Er hat aber seit Jahren keine Ausstattung mehr. Kinder von dieser Schule haben wenig bürgerliche und Karriereperspektiven im Leben außer bei den Gangs.

Die Schicksale im Zentrum der Story sind diejenigen von Lehrer Sergio (Eugenio Derbez), Paloma (Jennifer Trejo) und Nico (Danilo Guardiola). Sergio hat sich nach einer Lebenskrise extra an diese Schule der Vernachlässigten versetzen lassen und will es besser wissen. Paloma lebt mit ihrem kranken Vater (Gilberto Barraza) auf einem Müllberg. Sie träumt davon, Astronautin zu werden. Mit einem aus Müllresten selbst gebastelten Fernrohr kann sie auf die geplante Abschussrampe für Raketen schauen. Paloma ist hochintelligent und hat sich eine kleine Bibliothek aus dem Müll angesammelt, die sie hinterm Bett vor ihrem Vater versteckt.

Nico, der hübsche Bub, der bereits den Stimmbruch hat, kommt ebenfalls aus ärmlichen Verhältnissen. Sein älterer Bruder Chepe (Victor Estrada) ist bereits ins Kriminellenmilieu abgedriftet. Den jüngeren Bruder benutzen sie als Drogenkurier. Auch Nico ist für die Gangsterkarriere ausersehen.

Dann gibt es noch Lupe (Mia Fernanda Solis). Sie interessiert sich für Philosophie. Aber auch darüber gibt es in der kaum benutzten Schulbibliothek etwas.

Chucho (Daniel Haddad) hat sich als Direktor der Schule mit den aussichtslosen Missständen abgefunden, zieht selbst seinen Profit daraus. Er warnt den Neuankömmling Sergio davor, in ein Wespennest zu stechen, denn schnell wird klar, dass dieser mit unkonventionellen Methoden, die Schüler aus ihrer Lernapathie rausholen möchte. Er will sie bei ihren Interessen abholen.

Das schildert Christopher Zalla in seinem Film ganz prima. Auch, wie Schießereien zur Selbstverständlichkeit des Alltags in Matamoros gehören, wie keiner sich kümmert, wenn es Tote gibt, genau so wie die desolaten Zustände an der Schule; wobei die Kinder immerhin in tadellos hübschen Schuluniformen erscheinen.

Vom anfangs eher realistischen Duktus wirkt der Film aber im Fortlauf der Geschichte zusehends getrimmt auf sozialromantische Schnulze in der Art eines Groschenromans mit melodramatischem Ende und der pädagogischem Message, dass es heute ein jeder schaffen kann, dass sich heute – wenn er denn einen Zugang zu Bibliotheke und Internet hat – ein jeder sehr vieles selber beibringen kann. Das behauptet Sergio auch von seinen Erziehungsmethoden.

Oh la la – Wer ahnt denn sowas?

Vom Unbekannten in Dir

Oder: woraus besteht Deine Identität? Weil Du zum Beispiel felsenfest überzeugt bist, Deutscher zu sein, verhältst Du Dich auch so. Oder Franzose. Und entsprechend gibt es die Vorurteile gegen die anderen, aus denen sich diese vermeintliche Identität zu stärken scheint. Aus diesen imaginierten Identitäten und ihren Differenzen können sich blutigste Konflikte entwickeln (falls diese nicht von wirtschaftlichen Interessen vorgeschoben sind) der eine ist Israeli, der andere Palästinenser.

Insofern ist es nicht schlecht, wie Julien Hervé die Vermeintlichkeit solch nationaler Identitäten mit bestem französischem Komödienkönnen und damit unterhaltsam löchert.

In einem Autoladen lässt er die Vorurteile erstmals aufblitzen. Gérard Martin (Didier Bourdon) ist Urfranzose, stolz darauf, dass er französische Autos verkauft; deutsche Zuschauer könnten pikiert auf seine Meinung über deutsche Limousinen reagieren.

Festklopfen von nationalen Vorurteilen als Sprungbrett für eine Komödie. Deren Mechanik verlangt nach Kontern. Diese finden sich in den künftigen Schwiegereltern von Gérard und Nicoles (Sylvie Testud) Sohn Francois (Julien Pestel).

Die Eltern der Braut Alice (Chloé Coulloud) bewohnen ein Schloss mitten in weiten Weinbergen. Hierher fahren die Martins in ihrem Peugeot über den unendlich langen Weg vom Tor bis zum Wohnsitz der Bouvier Sauvages (Christian Clavier und Marianne Denicourt), einer französischen Adelsfamilie, um sich bekannt zu machen als die Eltern des Bräutigams.

Vor dem Schloss sind lauter deutsche Edelmarken geparkt. Frédéric, der Brautvater, gibt Didier, dem Peugeot-Händler und ehemaligen Automechaniker, schnell zu verstehen, das so eine Heirat nicht standesgemäß sei.

Wird bei dieser ersten Begegnung der beiden Familien so schon großartig gebolzt mit einem Feuerwerk an nationalistischen Pointen, so geht es richtig los mit der Überraschung, die die beiden Kinder in Erwartung der Probleme bereit halten. Sie haben nämlich von ihren Elternteilen heimlich Gentests, die über die Genealogie Auskunft geben, erstellen lassen.

Hier folgt im Film Überraschungsei auf Überraschungsei, was jedes eine weitere Salve an nationalistischen Vorurteilen explodieren lässt.

Aber da es sich um eine Komödie handelt, sind die Problem lösbar und auch die Freunde des Hochzeitsfilmes werden auf ihre Kosten kommen. Es ist ein Spiel auf hohem Niveau mit Vorurteilen und mit vorhersehbarer Systematik wie die Filme um Monsieur Claude, der auch von Christian Clavier gespielt worden ist.

Dream Scenario

Reizpunkt in der zwischenmenschlichen Bewusstseinswelt

Kristoffer Borgli kitzelt nach Sick of Myself wieder heftig einen Reizpunkt intermenschlicher Wahrnehmungswelten mit einem eindrücklichen, bärtigen Nicolas Cage als Professor Paul Matthews.

Matthews doziert selber darüber, wie es ist, innerhalb einer Gruppe auffällig zu sein oder unauffällig und was jeweils die Vorteile davon sein können. Er hat wohl ein Standardwerk zum Thema verfasst; auch das Thema der Ant-Intelligenz, also der Antelligenz spielt bei ihm eine Rolle.

Grade doziert Matthews an der Osloer-Akademie über die Sinnhaftigkeit der Streifen beim Zebra. Er ist glücklich verheiratet mit Janet (Julianne Nicholson). Die beiden haben zwei fast schon erwachsene Töchter. Diese sind der Nexus zur Social Media Welt, die im Kontext des Filmes eine wichtige Rolle spielen wird.

In den geregelten bürgerlichen Alltag dieser Akademikerfamilie hinein passiert Ungewöhnliches. Es fängt mit dem einen Töchterchen an, das einen Traum hatte, wie ihr Vater unbeweglich im Garten steht, unbeteiligt und dann sogar in die Höhe fliegt. Das mag noch angehen.

Bei einem Theaterbesuch mit seiner Frau spricht ihn eine Ex an; sie hatte auch so einen Traum von ihm. Diese Art von Rückmeldungen häufen sich; sie gehen an ihn direkt, an seine Frau seine Töchter.

Es wird von einer Traumepidemie die Rede sein. Durch diese Träume rückt der Dozent, der doch seine Ruhe haben möchte, immer mehr ins öffentliche Bewusstsein. Unerwünschte Starwerdung dank Traumepidemie.

Bei der nächsten Vorlesung wird er von den Studenten mit Applaus begrüßt. Aber wie das so ist mit dem Ruhm. Er kann kippen. Jemand wird hochgejubelt und im nächsten Moment wird er fallengelassen. Dann setzen die Social Media den Shitstorm ein. Überall wird Paul plötzlich gemobbt.

Es ist dieses Spiel mit den Unwägbarkeiten der öffentlichen Meinung, der Mehrheitsmeinung, der Schwarmintelligenz, ihre Unberechenbarkeit, deren Launen, die Kristoffer Borgli interessieren. Es sind die Saiten der öffentlichen Erregbarkeit wie des öffentlichen Wohlwollens, auf denen dieser Film, manchmal etwas zu versonnen, spielt und wie solche Prozesse sich dynamisch verselbständigen, wenig manipulierbar von außen. Dabei darf ein Begriff wie „Cancel Culture“ nicht fehlen. Es ist ein Szenario, ein Sandkasten, ein Spielplatz für den verspielten Filmemacher.

Die Unschuld

Sind die Unschuldigen die Monster?

Hier findet Kore-eda Hirokazu (Shoplifters, Broker – Familie gesucht, Unsere kleine Schwester, Like Father – Like Son) zu filmerzählerischer Höchstform mit einem Triptichon, das ähnliche, gesellschaftlich-familiär-schulische Prozesse dreimal von verschiedenen Standpunkten aus erzählt.

Ausgangslage ist ein Hochhausbrand, der die Leute als Zuschauer zusammen- und zu Gedankenaustausch bringt. So auch die Witwe Saori (Sakura Ando), nach dem Tod ihres Mannes eine Helikopter-Mutter vom Halbwaisen Minato (Soya Kurokawa).

Dass Lehrer Hori (Eita Nagayama) Minato ein Monster mit Schweinehirn genannt und sogar tätlich angegangen habe, sorgt für nicht wenig Aufregung bei dessen Mutter, die der Schulleitung penetrant auf die Bude steigt, wobei die sprichwörtliche japanische Höflichkeit die Frechheit nicht leichter macht.

Allerdings ist Schulleiterin Fushimi (Yuko Tanaka) schlecht disponiert, weil eben ihr Enkel zu Tode gefahren worden ist, angeblich von ihrem Mann. Nebenbei kommt das Verhältnis zu Schulfreund Yori (Hinata Hiiragi) ins Spiel. Dieses wird erst im dritten Durchlauf der Geschichte stärker unter die Lupe genommen, samt dem gemeinsamen Lieblingsort.

Symbolstark spielt ein aufgelassener Eisenbahntunnel eine Rolle, der oft bei Regen, Wind, Sturm gezeigt wird, wohin sich Minato zurückzieht und schreit, er sei ein Monster. Mutter findet ihn dort.

Durch die verschiedenen Erzählperspektiven erhält der Zuschauer jedesmal neuen Einsichten zum anfangs doch recht einseitig geschilderten Sachverhalt. Es werden die Schicksale von Hori und der Schulleiterin stärker beleuchtet und stellen sich so auch wieder anders dar.

Es wird Momente geben, die an den Film Das Lehrerzimmer erinnern, und später solche, die an Close denken lassen; auch der Titel des Theaterstückes „Krankheit der Jugend“ drängt sich momentweise in den Assoziationsbereich, obwohl es dort um eine ältere Jugend geht.

Beeindruckend sind die Wohnverhältnisse von Minato und seiner Mutter: eine enge, vollgestopfte Wohnung, wie manche Schulräume mit Unterrrichtsutensilien.

Wunderbar ist die Erzählweise von Kore-eda Hirokazu, er stellt die Szenen nie aus, er mischt sich fast wie mit geheimer Kamera mitten hinein, was sich für den Zuschauer soghaft auswirkt und ihm große Aufmerksamkeit, die sich lohnt, abfordert; ist aber auch nicht so direkt subjektiv wie die Dardenne-Brüder, nicht so offensichtlich auf dokumentarisch gemacht.