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Kraven the Hunter

Raus aus dem Gulag!

Das ist spektakulär und traurig-aktuell, dieses wegen der Ereignisse in Syrien und dem Öffnen der Foltergefängnisse, jenes wegen der Aktionen des Protagonisten Kraven, Sergei Kravinoff (Aaron Taylor-Johns).

In einem Transport wird Kraven mit anderen Gefangenen in eine Strafkolonie im tiefsten Sibirien gefahren. Bei einer Pinkelpause wird Nummer 864, die er ist, angegangen, er solle sich hüten abhauen zu wollen.

Wie Kraven sich im Straflager nullkommanichts Respekt verschafft, das ist denkwürdig, vor allem, wie er sich mit dem großen Boss der Gefangenen anlegt. Das wird temporeich und gerade noch am Rande des Stuntglaubwürdigen erzählt. Ihm gelangt die Flucht. Er ist bereits als ein Superheld charakterisiert, ein Marvelheld, auf den in der Eiswüste Sibiriens hinter einer Wolkenwand ein Flugzeug wartet.

Der Film von J. Ch. Chandor nach dem Drehbuch von Richard Wenk, Art Marcum und Matt Holloway schneidet 16 Jahre zurück in ein britisches Internat. Das ist jetzt ein leichter Schock, nach den Bildern von Kraven, gerade auch mit seinem gut herausgestellten und mutmaßlich filmisch nachbearbeiteten, makellosen Körper und seinem abenteuerlich-verwegenen Gesicht. Er (jetzt Levi Miller) und sein Bruder Dimitri (Billy Barratt) sind reine Milchbuben dagegen, schön, fein, zierlich, sogar harmlos im Vergleich zum verwöhnten Iwan aus Anora. Vater Nikolai (Russell Crowe – so richtig klar wird nicht, warum er diesen recht austauschbaren Typen von superreichem Russenkriminellen spielt) will seinen Söhnen das Jagen beibringen.

Der Film wechselt nach Tansania zur Großwildjagd, macht dort einen Zwischenstopp bei einer einheimischen Wunderheilerin und nimmt einen Schluck Zaubertrank zu sich. Dadurch wird er unwirklicher, fantasiehafter, vielleicht auch betrunkener.

Ein Zaubertrank von Calypso (Ariana De Bose) rettet Sergei nach einem Jagdunfall jedenfalls das Leben und scheint ihm die für einen Marvelfilm nötigen Zauberkräfte zu verleihen; eine Erkläraktion. Er flieht vor seinem Vater ins Land seiner Herkunft, ins fernöstliche Russland und bildet sich im dortigen mythischen Wald als Coming-of-Age selbst zum Hunter aus, zum Menschenjäger.

In der weiteren Erzählung schleicht sich durchaus Betuliches in den Film rein, die Dialoge wirken oft gestelzt, weil sie sehr gesetzt vorgetragen werden und lieber Erklär- statt Charakterisierdialoge sind.

Kraven findet in London Calypso wieder, die jetzt Anwältin mit nicht allzu lupenreiner Kundschaft ist, trifft dort aber auch auf Gegner, die mit ähnlichen Zauberkräften ausgestattet sind, das ist Big Rhino (Chi Lewis-Parry) und der listige Foreigner (Christopher Abbott).

So ist der Film ausgerüstet für eine ganze Menge von ordentlichen Action-Standardsituationen, mal mehr, mal weniger mit Nachhilfe des Computers. Und immer ist einer der Gegner dem anderen einen Schritt voraus. Die Brüder werden sich wieder begegnen, Dimitri hat sich der Kunst zugewandt als Pianist und Sänger. Letztlich geht es auch im Actionfilm immer um die Familie. Teil einer russischen Familie zu sein, und dazu noch eines so vermögenden und verfilzten Oligarchen, ist nicht leicht, das zeigt auch dieser Film.

Wicked

Zur Toleranz erziehen?

Vielleicht will dieser Film, der die Hollywood-Fundi an Kostümen, Requisiten, Haarteilen, Ausstattung offenbar nach der Maßgabe einer Parade des maximal Geschmacklosen geplündert zu haben scheint, mit pausenlosem Märchen- Musical- und Tanzklamauk zur Toleranz erziehen.

Denn ausgerechnet die Figur, die anfangs als getötet bejubelt wird, Elphaba (Cynthia Erivo), die Figur, die von Geburt an und von Haut aus grün ist, die soll unsere Sympathie gewinnen. Ein moralisch gewagtes Unternehmen.

Die sie als Hexe denunziert, Galina (Arian Grande), ist ein Hollywood-Püppchen wie aus dem Kitschlehrbuch. Wer andere als teuflisch bezeichnet, steht moralisch erst mal einwandfrei da – und auf dessen Seite sind wir normalerweise. Nichts ist leichter als darin recht zu haben, andere als böse zu beschreiben.

Elphaba ist die einzige, die sich einsetzt für den Professor, der als Ziege an der Glizz-Uni lehrt. Sie zeigt Zivilcourage. Sie zeigt Mitgefühl. Und solches soll der Zuschauer an ihr tun. Sie ist die extreme Außenseiterin, die Tochter eines Gouverneurs. Ihre Schwester ist farblich weiß, aber sitzt behindert in einem Rollstuhl.

Das Verhältnis der Denunziantin Gelinda zu Elphaba wird in einer den Film füllenden Rückblende erzählt. Der Film soll mit seinem knapp drei Stunden Laufzeit erst der erste Teil sein soll. Nachdem Gelinda den Tod der Hexe verkündet hat, gibt es Q & A mit den Studenten, die wissen wollen, ob sie die Verfemte gekannt hatte. Erst will sie nicht so richtig mit der Wahrheit rausrücken, dann aber legt der Film los mit ihrer Geschichte, wie die beiden sich im Internat der Uni ein Zimmer teilen mussten und sich so kennenlernten.

Die Regie führt Jon M. Chu. Der ist mit dem Film Crazy Rich Asians aufgefallen, mit dem er sein Potential offenbar bereits ausgeschöpft zu haben scheint (Drehbuch: Winnie Holzman, Dana Fox und Gregory Maguire). Er führt den Chor miserabel, der den Eindruck vermittelt, ein jeder solle so exaltiert spielen wie möglich. Der Chor wirkt affig. Die abgestandenen Tanz-Choreographien kommen vor lauter Bühnenhaftigkeit wie in Holzschuhen daher.

Der Sound und die Songs könnten aus irgendwelchen Reservekanistern besorgt worden sein.

Ein Märchenprinz wird eingeführt (Jonathan Bailey); die Love-Story zwischen den rivalisierenden Frauen Elphaba und Galinda bleibt rudimentär. Die deutsche Synchro ist eine voll deodorierte Sterilsynchro. Das Zauberbuch heißt Grimmerich – Hinweis auf die Verhunzung Grimmscher Märchensubstanz?

Here

Wann ist hier?

Robert Zemeckis, der mit Eric Roth auch das Drehbuch nach der Graphic Novel von Richard McGuire geschrieben hat, ist allein schon mit The Walk unauslöschlich in Erinnerung geblieben: nicht nur das Unternehmen, das er dort schildert, ist waghalsig, auch die Sicht des Filmers darauf macht sie erinnerungswürdig.

Diesmal geht Zemeckis es noch verzwickter an, wobei die Geschichte normaler ist, die konventionell erzählt niemanden hinterm Ofen hervorlockte: ein amerikanisches Familienleben in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts.

Als besondere Erzählraffinesse verwendet Zemeckis überwiegend eine einzige Kameraposition für diese Familiengeschichte. Diese Kamera ist fix auf den Wohnraum gerichtet. Rechts das Kamin und – je nach Entwicklungsstand – ein Fernseher oder Radio im Blick, Möbel, die sich neben dem Kamin befinden. Links davon, mittig im Raum, eine Möbelgruppe mit Protagonistenpräsenz, dahinter eine erkerhafte Ausbuchtung mit Fenster gegen die Straße, die aus lauter solchen amerikanischen Einfamilienhäusern besteht, gebaut wurde um 1900 herum.

Wir haben es also mit einer Hollywood-Guckkastenbühne zu tun, wie sie früh im Film im Studio gerne verwendet wurde, als die Kameras noch nicht so beweglich waren. Die Schauspieler treten immer auf wie auf der Bühne, haben Auftritte und Abgänge. Auch das könnte sehr langweilig werden gerade im Hinblick auf unsere heutigen Sehgewohnheiten. Aber dem kommt Zmeckis listig zuvor. Er arbeitet mit einer Art Stream-of-Local-Consciousness, der im Hinterkopf hat, was im selben Raum früher mal passiert ist. Das geht zurück bis zu den Dinosauriern, Indianerland, Siedler. Aber auch das wird nicht in irgendwie reingeschummelten Rückblenden erzählt.

Zemeckis benutzt eine Rahmenmethode. Bildauschnitte sind plötzlich als eigene Bilder gerahmt und dann folgt der Übergang in die nächste Zeit. Das ist anfänglich verwirrend und gewöhnungsbedürftig und es dauert bis man die Familiengeschichte von Richard (Tom Hanks) und Rose (Kelly Reilly) mit ihrer Tochter Margaret (Robin Wright) mit ihrem Al (Paul Bettany) und Tochter Vanessa (Michelle Dockery) auf die Reihe kriegt und von ihr richtiggehend berührt wird.

Nein, in dem Haus haben ja auch andere Leute gewohnt. Und ja, mit zeitgenössischer Ausstattung sowohl, was Mobiliar betrifft als auch technische Geräte.

Eine eigene Episode, die in den 40ern spielt, hat als zentrales Requisit einen verstellbaren Sessel; später kommt der berühmte Super-8-Urlaubsfilm-Abend. Auf die Zeithinweise im TV greift Zemeckis nicht auf die in jedem Film, der das Mittel einsetzt, wie Mondflug oder Kennedy-Mord zurück, ihm sind die Beatles lieber.

Es läuft in diesem Film ein richtiges Stück amerikanischer Kulturgeschichte ab – man könnte dies auch als ein Stück amerikanischen Identity-Buildings begreifen -, das in eine konventionelle Familiengeschichte mündet; in der wiederum ein Stück Kunst- oder Künstlersehnsucht steckt.

Die geschützten Männer

Krankheitsbild Feminismus

Es gibt einen französischen Roman desselben Titels wie der Film, Les Hommes protégés von Robert Merle von 1974.

1976 erschien der Roman auf Deutsch in der Übersetzung von Anna Mudry. 2024 kommt die deutsche Verfilmung von Irene von Alberti (Der lange Sommer der Theorie) ins Kino. Sie hat das Drehbuch geschrieben. Im Abspann gibt es noch zwei Positionen einer Drehbuchberatung oder -mitarbeit, bei IMDb stehen als Script-Berater Petra Lüschow und Sabine Steyer-Violet. Außerdem im Abspann: drei Fernsehredakteure. Also jede Menge Leute, die da wohl am Drehbuch mitgefuhrwerkt haben. Das sieht man dem Resultat an.

Ist es das Krankheitsbild eines beleidigten Feminismus oder die Dokumentation eines leidenden Feminismus?

Dabei bekommt der Film durch die politischen Entwicklungen in Berlin ungeahnte Aktualität, denn der Film spielt kurz vor Bundestagswahlen. Ein merkwürdiges Virus macht sich im Land breit, das befällt nur Männer und unter ihnen vor allem welche in führenden Positionen. Sie werden richtig rallig, es wachsen ihnen urplötzlich überall Haare, sie begrapschen schamlos Frauen, bekommen Krämpfe und fallen tot um.

Das Phänomen kommt der herrschenden Politik ungelegen. Sie möchte es vor der Öffentlichkeit verschweigen. Die Pharmaindustrie arbeitet fieberhaft an der Entwicklung eines Impfstoffes. Den Kanzler ereilt das Virus und dessen Schicksal.

Somit wird es öffentlich. Da Frauen nicht gefährdet sind, übernimmt die feministische Partei kurzerhand die Regierung, empfiehlt den Männern die Ablation des Geschlechtsteils.

Sarah Bedford (Marvie Hörbier) ist Kanzlerin, Anita Martinelli (Britta Hammelstein) ihr Vize oder was auch immer. Schade ist, dass Irene von Alberti nicht im Ansatz irgend eine Glaubwürdigkeit herzustellen versucht, so entzieht sie der Parodie oder der Satire den Boden. So wirkt die Chose bierernst, verkrampft, ressentimenthaft.

Der Eindruck eines gestörten Feminismus wird noch unterstrichen durch den männlichen Cast, bei dem offenbar konsequent auf Waschlappenhaftigkeit geachtet wurde. Während in der Darstellung der Frauen kein Wert auf glaubwürdige Darstellung von Politikerinnen gelegt worden ist, vielmehr allenfalls auf Frisuren, die beim Abgleich mit lebenden Mustern mindestens eine große Ähnlichkeit haben mögen, sonst aber scheint es nur um modischen Schick und Schnieck, um das Modepüppchenhafte zu gehen.

Beim Nacherzählen fällt einem auf, dass die Ideen des Orignalbuches doch recht originell sein dürften. Das überträgt sich aber so nicht beim Schauen des Filmes. Hier vermittelt sich das Gefühl eines jammrigen, sich hilflos gebenden Feminismus, der zu verstehen gibt, dass er unterm Frausein leidet und ihm sowohl die Distanz dazu fehlt als auch die Mittel, diesem Leiden zu begegnen. Vielleicht hat sich dieser Feminismus erhofft, mit diesem Buch ein Heilmittel gefunden zu haben.

Kompensatorisch scheint der Film enorm viel Wert auf das Kostüm, auf die Schlagwörter auf den T-Shirts, auf elegante Innenräume gelegt zu haben. In dieser Hinsicht dürfte der Konsument wiederum bessser aufgehoben sein bei einer Frauenzeitschrift. Fast möchte man von einem gekränkten Feminismus sprechen, der sich hier im Film ständig sich verhaspelnd präsentiert.

Der Herr der Ringe: Die Schlacht der Rohirrim

Alles nur eine Frage der Liebe?

Von Natur aus wären sie wohl für die Liebe bestimmt, die Tochter von König Helm und der Sohn von dessen Vasall Wulf, Freca. Als Kinder spielten sie miteinander, einträchtig, kämpften miteinander. Aber es hat nicht sollen sein. Sie will ihn nicht und sein Vater probt den Aufstand gegen ihren Vater. Die Kacke ist am Dampfen, der Krieg bahnt sich an.

Es wird ein furchtbarer Krieg, der in einen Belagerungskrieg ausartet und der von Verrätern angeheizt wird. Dabei stellt sich die Frage der ökonomischen Sinnigkeit von solchen Kriegen und man denkt an den Krieg, den Russland gegen die Ukraine schlecht vorbereitet begonnen hat und dessen wirtschaftlichen Folgen im Angreiferland immer spürbarer werden, der Rubel im freien Fall.

Der Animationsfilm von Kenji Kamiyama nach dem Drehbuch von Jeffrey Adiss, Will Matthews und Phoebe Gittins erfindet eine Vorgeschichte zur Gundolf-Story. Diese wird voice-over erzählt und auch gut nachvollziehbar vorgetragen.

Allerdings habe ich mich lange schwer getan, mich für die Animation zu erwärmen, so ordentlich sie erzählt ist; in der Herstellung der Bilder scheint mir zuviel KI eingesetzt worden zu sein, die eine gewisse Sterilität gerade in der Perfektion und der Kontinuität bewirkt, so dass oft ein sehr statischer Eindruck entsteht und dieses Flirrend-Schwirrende händischer Produktion entfällt, in der der Atem des Zeichners zu spüren ist.

Erst mit dem Eintreten des Spukhaften, des Gespenstischen, des Fantasievollen gegen das Depressive des Königs, hat mich die Geschichte dann bis zum Schluss gepackt. Eine ordentliche Heldengeschichte und wenn Hera im weiß Brautgewand auf der Brücke kämpft, so ist das eine eindrückliche Show.

Black Dog – Weggefährten

Die Wüste als große Bühne

China 2008 kurz vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking, von denen sich China Propaganda und weltweite Anerkennung verspricht.

Doch die Show spielt nicht in Peking, die Show spielt in diesem Film von Guan Hu, der mit Rui Ge auch das Drehbuch geschrieben hat, in der Wüste Gobi beim heruntergekommenen Provinzort Chixia. Das tut sich Außerordentliches.

Ein Bus fährt über die Piste. Ein Horde wilder Hunde überrennt ihn. Drama um den umgekippten Bus, immer mehr Menschen kriechen aus ihm heraus. Einer schreit, er sei bestohlen worden. Die Polizei kommt. Sie stellt fest, dass Passagier Lang (Eddie Peng) ein vorzeitig entlassener Gefangener ist. Der hält sich abseits der aufgeregten Menschen. Ihm wird dieser Film, der entfernt an den italienischen Neorealismo erinnert, folgen.

Lang kehrt zurück in seinen Ort. Er ist teils bekannt, teils berüchtigt. Er war in einen Mordfall verwickelt. Sein Vater ist sehr krank.

Der Regisseur widmet den Film seinem Vater.

Was macht ein entlassener Strafgefangener in Chixia, das dahinzuserbeln scheint und unter einer Hundeplage leidet? Er versucht sich nützlich zu machen. Ein schwarzer Windhund gilt als besonders gefährlich, weil der die Tollwut habe. Auf seine Ergreifung ist eine Belohnung ausgesetzt. So kommen Hund und Außenseiter-Mann zusammen.

Das wird eine Geschichte, die momentweise an Lassie erinnert, zumindest in der Szene, in der der Hund seinem in einen Kampf verwickelten Herrchen zu Hilfe eilt, oder auch wenn Hund und Herrchen auf Motorrad mit Beiwagen durch die Wüste brausen.

In Chixia ist nicht viel. Ein leerstehendes Theater, eine Verwaltung, ein Schlachter, der auf Schlangenzucht umgestellt hat, ein verlotternder Zoo mit keinem Wolf mehr, aber der Tiger ist noch da.

Es gibt Angriffe auf den Rückkehrer, aber er versucht auch, sich zu integrieren, die Hundejagd mitzumachen. Denn die umherstreifenden Hunde sollen eingefangen werden, damit die Stadt attraktiv für Investoren wird. Bewohner sollen umgesiedelt werden, ihre Häuser eingerissen und moderne Industrien angesiedelt.

Lang ist kein begeisterter Hundefänger, er schenkt einem Mädchen seinen eingefangenen Hund wieder. Mit dem Schwarzen Hund freundet er sich trotz Bisses an. Die Tollwut verschwindet. Ein Zirkus gastiert im Ort. Warum tut sich Lang so schwer mit der Reintegration, woher stammt seine Wut? Er war mal bekannt als Rockstar und Motorrad-Stuntmen. Er ist der Typ in sich gekehrter Held, er ist nicht der Rebell, kann sich aber nicht immer beherrschen, er ist auch ein Easy Rider durch die Wüste. Er ist ein Filmheld ohne Heldentaten. Er ist ein Mensch, der sich am ehesten in einem Hund wiedersieht.

Blind Date unterm Weihnachtsbaum (BR, Sonntag, 8. Dezember, 23.30 Uhr)

Einfältige Themenstellung –
Topf gesucht für passenden Deckel,
absolut lieblose Synchro
hackelige Erzählweise, als ob man die Story bald hinter sich bringen möchte.

Ein Film so romantisch wie früher ein Aldibesuch. Man geht zu den Regalen und sucht, ob man eine Frau für den Papa Michel (Florent Peyre) findet. Da keinerlei Charakterisierung vom Papa bekannt ist, stellt sich null Spannung ein. Vom Papa ist nur ersichtlich, dass er ein Schauspieler ist, der einen Papa darstellt, der im Luxusunternehmen „Palais d’Or“ in der Schockoladenbranche arbeitet und dort eine Werbekampagne kurz vor Weihnachten von einer Kollegin übernehmen soll, die gekündigt hat.

Die Kinder wollen die Eltern über die Plattform Love in Sight mit manipulierten Texten verkuppeln. Aber der Film schafft es nicht mal, eine witzige Veräppelung des Internet-Dating-Wesens herzustellen.

Der Film beweist, dass nicht alles, was aus Frankreich kommt, Charme haben muss; wobei die deutsche Horrorsynchro diesem Film von Gilles Paquet-Brenner noch den Todesstoß verleihen würde.

Auswahlkriterien: blond, brünett, sportlich? Auf welchen Typ Frau stehst Du? Dann die Kleinmädchenfragerunde. Einen Pullover kann man umtauschen. Einen Freund auch. Freundinnen, die über Männer reden, wie über Konsumartikel. Alles nervt mich. Du hast ein Problem mit Weihnachten. Und die Liebe? Die billige Grundidee: Männer besorgt man sich wie Geschenke. Dieses TV-Produkt erweckt nicht den Eindruck, eine Kritik an dieser Art Geschlechter-Sprech und Geschlechter-Umgang zu üben.

Und wenn sie nicht weiterwissen, gehen sie duschen.

Schäbig abgewandelt das Prinzip der gefälschten Liebesbriefe.
Hier Tochter Line (Lior Chabbat) des Papas und Sohn Jules (Aliocha Delmotte) von Mama Chloé (Hélène de Fougerolles), der vertrockneten Chefin des Papas.

Aber eines ist sicher, Du hast mich geweckt. Die Frau, die in der Lage ist, mich aufzuwecken, die will ich kennenlernen. Liebe so ganz ohne Liebe. Weil das Drehbuch es so will. Drum: küssen, innig. Sieht so aus, als könnten wir gleich zu Abend essen.

Na ja, dann gibt es noch katalysatorische Sidekicks, den Kumpel und Restaurantier Harold (Lannick Gautry) und Freundin Elene (Marie-Elisabeth Robert) von Chloé.

Es wird auch immer klarer, dass Chats und Internet-Kurznachrichten und derlei Zeugs im Film – erst recht wenn der ins Fernsehen kommt – wenig hilfreich sind. Im klassischen Theater gab es noch die Briefe und die ließen meist aufhorchen, brachten dramatische Änderungen in die Dramaturgie.

Dazu eine sterile Musik wie aus lauter Konservierungsstoffen.

Man könnte gut und gern von einem runtergelotterten, runtergenudelten Film sprechen.

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers!

Toni und Helene

Roadmovie als Hommage an Christine Ostermayer

Die Paarung ist gut, gegensätzlich, nahrhaft: Christine Ostermayer als Helene, die eine berühmte Schauspielerin war, und Margarethe Tiesel als Toni Leitner, die eine Krankenpflegerin ist.

Zwei Frauen, die vom Typ her gegensätzlicher nicht sein könnten. Helene eine feine Dame, mit Geld gut ausgestattet und mit einem Hang zum Perfektionismus. Sie will keine Chemo mehr und hat sich für den freiwilligen Exitus in der Schweiz entschieden. Ihr Hindernis dafür, dass niemand sie hinfährt. Sie lebt in einer vornehmen Seniorenresidenz mit Pflegepersonal nahe Wien.

Toni, die burschikose, lebenspraktische, die raucht und – wie im Bauerntheater gängig – auch mal sagt „ich brauch jetzt einen Schnaps“; Lebensmotto: die Dinge nehmen, wie sie kommen. Sie hat kein glückliches Schicksal hinter sich, alleinerziehend, geht am Stock, während Helene im Rollstuhl sitzt, was aber auch etwas geschummelt ist.

Das Faible fürs Schummeln verbindet die beiden Damen. Sie lernen sich als Balkonnachbarinnen in der Seniorenresidenz in Wien kennen. Den einwöchigen Aufenthalt hat Toni sich erlistet. Sie kommen ins Gespräch. Sie brechen aus und auf in der eleganten Limousine von Helene in Richtung Schweiz. Dort wollen sie vor Helenes Exitus noch eine ihrer ehemaligen Schülerinnen treffen (Julia Koschitz), die gerade am Schauspielhaus engagiert ist.

Die Komödie, das Roadmovie, die Hommage an Christine Ostermayer von Gerhard Erl und Sabine Hiebler hat alle Zutaten zur Unterhaltsamkeit. Sie kommt vielleicht etwas zu behäbig daher, um im Kino zu elektrisieren. Sie greift auf bekannte Roadmovieelemente zurück und von Geschichten, wenn brave Menschen plötzlich ausreißen und gemeinsam „Pferde stehlen“.

Am Ende deklariert sich der Film explizit als Hommage-Film an eine große Darstellerin. Es gibt Filmausschnitte, eindrückliche, aus der Biographie der großen, so darf man sie sicher bezeichnen, Schauspielerin Christine Ostermayer. Damit dürfte aber auch die Reichweitenbegrenzung des Filmes im Kino definiert sein, im Grunde genommen für Feieranlässe mit dem österreichischen Star, der in München noch mit Ruth Drexel am ehemaligen Volkstheater in der Brienner Straße in „Späte Gegend“ Triumphe feierte.

The Visitor

Hübscher nackter Mann betört und verstört Britannia

Teorema von Pasolini lässt grüßen: junger erotischer Mann bringt großbürgerliches Familienleben durcheinander.

Explizit verweist Bruce LaBrue, der mit Alex Babboni und Victor Fraga auch das Drehbuch zu diesem plakativ-kunstinstallationshaften Pamphlet geschrieben hat, auf Bunuel, auf den diskreten Charme der Bourgoisie. Er kritisiert mit einem Voice-Over-Text die britische Immigrationspolitik, die illegale Immigranten in Lager nach Ruanda abschieben will.

Der titelgebende Gast ist Bishop Black, ein supergut aussehender junger Mann, der seinen Körper zu präsentieren versteht. Er wird, und hier erinnert der Film am meisten an eine Kunstperformance, in einem viel zu kleinen Rollkoffer in der Themse angeschwemmt. Im SplitscreenVerfahren und unter Einsatz von Farbtafeln wird mitgeteilt, dass überall in London solche Koffer angelandet worden sind. Den an der Themse findet ein Obdachloser (John Foley) neben seinem Zelt.

Dem Koffer entsteigt nackt wie ein griechischer Gott Black Bishop. Später wird er dem Obdachlosen abgewetzte Kleider aus dem Zelt klauen. Damit steht er vor der Tür des schlosshaften Anwesens der Protagonistenfamilie, spleenige, masslos reiche Briten mit Vater (Mackling Kowal), Mutter (Amy Kingsmill), bärtiger Tochter (Ray Filar) und Sohn (Kurtis Lincoln).

Außerdem gibt es eine Maid (Luca Federici) im Haus, die nach Abreise des Gastes wie bei Pasolini in die Religiosität abdriftet. Und der Sohn wird sich wie bei Pasolini der Malerei zuwenden.

Der Film ist ein Fortschreibung oder eine Aktualisierung von Teorema, proaktiver im Sex, richtig hardcore und plakativer in der Ästhetik.

Erst kleidet die dekadente Familie den Gast in Frauenunterwäsche ein, dann gibt er in der Küche Kot, Urin und Blut für das Familienmenü ab. Die Dinge dürften aphrodisiasierende Vorarbeit leisten für die Sexzesse die folgen, nicht immer nur zu zweit, auch zu dritt, gefesselt oder mit den Folgen einer Schwangerschaft und queer sowieso. Alles dreht sich um und sehnt sich nach dem Besucher, der keine Hemmungen kennt.

Die deftigen Szenen, die primär unter dem Aspekt der Schönheit gedreht wurden, werden von knalligen Zwischentiteln unterbrochen wie A NEW SEXUAL VISION FOR THE UK / INVADE MY ASS / SEXUAL DEMOCRACY NOW / POSSESS THE POSSESSOR / COLONISE THE COLONISER / OPEN BORDERS – OPEN LEGS / SEX HAS NO BODERS / A QUEER LIBERATION / OVERRULE BRITANNIA.

Die Abreise des Gastes hinterlässt eine verstörte Familie, die glaubt, etwas von Freiheit gespürt zu haben, die diese aber offensichtlich nicht von Zügellosigkeit unterscheiden kann.

The Outrun

Ein Gefühl zu beschreiben versuchen
oder Gefühlsdusselei

Nora Fingscheidt hat mit ihrem Film Systemsprenger sich schon mit einem Menschen befasst, dessen Gefühlswelt nicht in Deckung zu bringen ist mit der offiziellen Gefühlswelt der Gesellschaft, mit der 9-jährigen Benni. Mit einem Menschen also, der aneckt.

Jetzt hat sich die Regisseurin, die mit Amy Liptrot und Daisy Lewis auch das Drehbuch geschrieben hat, eine etwas ältere Person vorgenommen: Rona (Saoirse Ronan). Sie ist schon weit im Studium, ist aber eine fahrige Person; sie ist 29 und arbeitslos. Sie kommt von einem Hof des schottischen Archipels Orkney.In London lernt sie Jubel, Trubel und den Alkohol kennen. Sie führt mit blau gefärbtem Haar ein ausschweifendes Leben; so zügellos und zugedröhnt, dass ihr Freund Aynin (Paapa Essiedu) sie verlässt.

Diese gefühlsmäßige Irritation ihrer Protagonistin spiegelt die Regisseurin in einer extrem fahrigen Erzählweise, in gänzlich unvorbereiteten Schnitten und unter Verzicht auf justiziable Info.

Einmal kommt eine dieser wunderschönen schottischen Inseln und unten am Bildrand erscheinen Zahlen von Tagen, bis 117. Der Zuschauer wird erst im Unklaren gelassen, was das soll. Später ergibt sich, dass es sich um die Tage des Entzuges handelt.

Den Film interessiert nicht die Chronologie, interessiert nicht die Messbarkeit des Heilungserfolges, interessiert nicht der Versuch der Reintegration, die Fortschritte im Entzug. Er hupft hin und her in Erinnerungen, in der Einsamkeit, im Sein der Hauptfigur bei ihrem Vater und Mutter, die Schaffarmer sind.

Der Film ergeht sich in Träumereien seiner Hauptfigur, in wunderbaren Naturaufnahmen, wo die Protagonistin glaubt, die Natur dirigieren zu können. Oder wie sich ihr Interesse dem Seetang zuneigt, ihre Philosophie über Seehunde, die dort vor der Küste heulen.

Seelenwanderungsgeschichten, was ist mit den Toten, sind die Seehunde, die sich nachts nochmal auf die Welt trauen? Es ist ein Träumerfilm, ein Film, der diffusen Gefühlen nachhängt, was ist der Mensch, wer ist Rona? Was will sie im Leben? Ist Liebe für sie möglich? Hält der Entzug? Schafft sie noch eine akademische Karriere? Nützt es, wenn die Mutter für sie betet?

Der Film selbst gibt sich irritiert, wofür soll er sich interressieren, wenn die Protagonistin im Zentrum des Interesses steht, mal nur für einen Ausschnitt ihrer Haut, ihres Gesichtes, muss das immer so scharf sein?

Der Film hat auch eine gemeinsame Schnittmenge mit dem traditionellen britischen Soziodram à la Ken Loach. Gleichzeitig konfrontiert er den Zuschauer mit diesem Gefühl, das er kennt, das möchte, dass die Menschen alle funktionieren, nur keine Problemmenschen. Vermutlich ist es auch ein zutiefst feministischer Film, der aber nicht wie Titane oder The Substance eine feministische Wut auf die Leinwand knallt, sondern der mehr in die Frau hineinzuhören, hineinzusehen versucht.

Teils wird diese Welt auch als eine solipsistische dargestellt, wie oft die Frau doch die Kopfhörer aufhat (und die Musik hämmert entsprechend)!

Der Film könnte aber auch gelesen werden als ein feministisch-sentimentales Sichhingeben an frauliche Verlorenheit, romantizistisch – denn die Bilder von diesen schottischen Inseln inklusive Saoirse Ronan sind umwerfend schön.