Archiv der Kategorie: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Alles ist gut (BR, Montag, 13. September 2021, 23.35 Uhr)

Diesen Film sollte anschauen, wer sich für exemplarische Defizite in der deutschen Drehbuchkultur interessiert und sich bittschön nicht wundern, dass die Autorin und Regisseurin Drehbuch an einer Filmhochschule unterrichtet – und das vermutlich ordentlich bezahlt.

Der BR geniert sich für dieses von ihm mitproduzierte Produkt dermaßen, dass er es in nachtfinsterer Schlafenszeit zu Wochenanfang versendet, damit möglichst keiner hinschaut.

Dabei handelt es sich um ein wichtiges, relevantes und aktuelles Thema, MeToo, das die bestmögliche Sendezeit bräuchte -oder glaubt der BR, dieses Thema betreffe nur Nachteulen? Siehe die Review von stefe.

Verlorene Seelen – Die Kinder des IS (BR, Mittwoch, 8. September 2021, 22.45 Uhr)

55 Minuten Horror-Sensations-Footage

Misshandlungen, Heckenschützen, Leichen, brennende Ölquellen, Qualm, Ruinen, Kinder, die aussehen wie alte Männer, Geständnisse, Horrorberichte, was Kinder alles haben mitansehen müssen, Schießereien, ein Zehnjähriger, der sich als Märtyrer in zwei Teile sprengt, Tote auf Straßen, unkenntlich gemachte Zeugen und Opfer, IS-Propagandafilm, Flüchtlingselend, Schläferzellen, Selbstmordattentat zwischen Panzern, Gerangel um Essenspakete, Triumph bei Eroberung Mossuls, kranke, verkrüppelte Menschen, Isolation im IS-Lager, nur noch Kinder, Frauen, Witwen, die mies von den IS-Leute behandelt werden, Horror aus Kindermund, Mord- und Rachegedanken Zehnjähriger.

Ideologien können nur mit Ideologien bekämpft werden, heißt es.

Als öffentlich-rechtlicher Sender, der gerade vom Bundesverfassungsgericht die Unabhängigkeit attestiert bekommen hat im Rahmen der Klage zur Durchsetzung der Zwangsgebührenerhöhung, könnte der BR diese Unabhängigkeit nutzen, um zu so einem Horror-Footage-Streifen Umgebungsarbeit zu leisten.

Man könnte fragen, wie es überhaupt zu diesem IS-Staat kam und was das mit dem Irak-Krieg zu tun hat. Und wie es zum Irak-Krieg kam. Und da muss die Frage schnell nach Deutschland zurückgeführt werden; eine vornehme Aufgabe für einen unbedingt unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Da müsste der BR auf den Film CURVEBALL (der morgen ins Kino kommt) verweisen und darauf, dass bis jetzt wohl noch keiner der darin namentlich erwähnten Politiker öffentlich Widerspruch gegen den Film erhoben habe. Die Spur führt bis ins höchste Amt des Landes.

Die weltöffentliche Begründung für den Start des Irakkrieges durch die Amis beruhte auf einem Beweis auf einem Blatt Papier, das der damalige US-Außenminister Powell vor der UNO-Vollversammlung präsentierte und damit den Eintritt in den Krieg rechtfertigte. Das Papier war vom deutschen Geheimdienst beschafft worden. Zu dem Zeitpunkt wussten aber der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder, der deutsche Außenminister Fischer, der in der UN-Vollversammlung anwesend war, sowie Kanzleramtsschef Frank Walter Steinmeier bereits, dass der Beweis ein Fake war von einem Iraker, der in Deutschland Asyl suchte.

Alle drei Herren schwiegen zu der TV-wirksamen Begründung für den Irakkrieg, obwohl sie es besser wussten. Hätte einer von ihnen den Mut gehabt, die Amis vor der UN-Vollversammlung davon in Kenntnis zu setzen, wäre der Irak-Krieg womöglich nicht begonnen worden mit all den grauenhaften Folgen bis hin zum IS, wie hier in vielen Gräuelvarianten gezeigt und erzählt.

Konkret an die zuständigen Redakteure des unabhängigen BR, Frau Sonja Scheider, Herr Matthias Leybrand und Herr Carlos Gerstenbauer: woran liegt es, dass es zu so einer kleinen Umgebungsarbeit, die demokratisch sinn- und wertvoll wäre bei einem vollkommen unabhängigen Sender nicht kommt, warum nur à la Bildzeitung die Sensation fett bringen? Meine Damen und meine Herren, Sie sind unabhängig, das hat der Bundesverfassungsgericht unmissverständlich festgestellt und deshalb der Erhöhung des Zwangsbeitrages zugestimmt. Nutzen Sie diese Unabhängigkeit demokratieselbstkritisch! Nutzen Sie sie, denn das ist die vornehmste Aufgabe Ihres Arbeitgebers und damit von Ihnen!

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers!

Polizeiruf 110: Bis Mitternacht (ARD, Sonntag, 5. September 2021, 20.15 Uhr)

Selbsttäuschung und Systemversagen.

Die Geschichte um diesen Polizeiruf herum ist garantiert lustiger, komischer, absurder oder vielleicht auch nur seldwylahafter als der Polizeiruf selbst. Es ist eine Geschichte von Abhängigkeit, Selbsttäuschung und Selbstvorgemache.

Vorab: das sei jedem Filmfeuilletonchef einer großen Tageszeitung unbenommen, in der Freizeit gegen gutes Zwangsgebührengeld ein Drehbuch für einen Tatort oder einen Polizeiruf des öffentlich-rechtlichen Rundfunkes zu schreiben.

ABER: es gibt Abhängigkeiten. Der Autor dieses BR-Polizeirufes in der Regie von Dominik Graf ist Tobias Kniebe, seines Zeichens Chef des Filmfeuilletons der SZ. Den Zeitungen geht es nicht gut. Die SZ hängt am Tropf des öffentlich-rechtlichen Rundfunkes, welcher täglich Annoncen bei ihr schaltet. Andererseits ist die SZ nach wie vor eine wichtige überregionale Tageszeitung. Sie kann durchaus zur Meinungsbildung beitragen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk dagegen kämpft auf seine Art mit Überlebens- und Imageproblemen: trotz über 9 Milliarden-Budget und trotz lädierten Rufes muss er auch noch sparen – und kann es nur auf Kosten der Qualität. Sein Ansehen in der Öffentlichkeit ist nicht das beste. Dieses wiederum macht es für die Politik zusehends schwieriger, Erhöhungen der Haushaltszwangsgebühr durchzusetzen. Wenn also die SZ günstig über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk berichtet, so nützt es dessen Ansehen, kann es einer der Punkte sein, die der Politik Erhöhungen der Zwangsgebühr leichter machen. Es ist in diesem besonderen Fall nicht zu erwarten, dass die SZ kritisch über den hier zu besprechenden Polizeiruf schreibt (sie findet ihn vorbehaltlos spannend auf der Medienseite der Wochenendausgabe). Man will ja einen eigenen Mitarbeiter nicht in einer anderen Funktion desavouieren.

Die SZ hat vorgebaut. Schon vor Wochen durfte der renommierte Fritz Göttler im Porträt auf Seite vier der SZ Dominik Graf ein Kränzchen winden, als sei dieser in etwa der größte lebende Regisseur Deutschlands; Göttler erledigte die heikle Aufgabe souverän aus dem Handgelenk. Und Grafs Boutiquenarbeit FABIAN – ODER DER GANG VOR DIE HUNDE wurde beim Kinostart gar fett als Meisterwerk des Kinos apostrophiert. Wobei Graf bestimmte Qualitäten als Regisseur nicht abzusprechen sind, der gute Geschmack, die Vorliebe für das Giallohafte, das ausgereift Kunstgewerbliche, auch die pflegliche Behandlung der Schauspieler.

Das ist jedoch auch der Punkt, wo das Seldwylahafte greift: also wie toll die verantwortlichen Redakteure Claudia Simionescu und Tobias Schulze es gefunden haben werden, dass Tobias Kniebe, der als Zeitungsmensch für sie eminente Bedeutung hat, wenn er, resp. seine Zeitung, ihre Arbeit loben, dass der jetzt für den von dessen Zeitung in den Himmel gehobenen Regisseur Dominik Graf ein Drehbuch schreibt; das dürfte zu einer Selbsttäuschung im Sinne einer Begeisterung führen, die nicht unbedingt durch Fakten gedeckt ist.

Kniebe hatte als Grundlage für sein Drehbuch „Abgründe – Wenn aus Menschen Mörder werden“ von Josef Willing. In dem Fall geht es um ein einziges Verhör eines zweimal des Mordes Verdächtigten (Thomas Schubert). Das ist mutig, sich für ein Verhör als Tatortgeschichte zu entscheiden; denn das kann hier sicher nicht so gebracht werden, wie Romuald Karmakar vor 25 Jahren Götz George den Totmacher hat spielen lassen.

So geht es jedenfalls nicht. Deswegen hat Dominik Graf auch fleissig und gewohnt gediegen in typischer Fernsehschnappatmung nicht nur im Verhörraum und dem dazu gehörenden Überwachungsraum gedreht, sondern auch zu Außenlocations und Rückblenden gegriffen.

Der Verdächtige ist ein überdrehtes, intellektuelles Schwatzmaul, fühlt sich den Interviewern überlegen. So eine Figur hat den Nachteil, dass dadurch Geschwätzigkeit statt Handlung dominieren. Den Zuschauer mit Geschwätz bei der Stange zu halten, dürfte nicht unbedingt leicht sein.

Es gibt die eine kleine Geschichte innerhalb des Verhörs, die trägt, ist übersichtlich und gut nachvollziehbar, die Szene mit dem Kriminalbeamten, der tätlich gegen den Verdächtigen vorgeht und die Folgen davon. Das ist eine der Sequenzen, in der weder erklärt, noch erörtert, noch eine Handlung erzählt wird, ist eine der Sequenzen, die einen kinematographisch schlüssigen Drive haben. Was vom übrigen Polizeiruf hier wenig behauptet werden kann.

Der Film beginnt mit einem Jubelbilderbogen auf die Isar und das Menschenglück in München. Frauenstimme mit Glücksvergleich, die auch mal so begehrt und strahlend sein möchte. Anmachthema wie im Studentenfilm. Domingrafgeschmackssicher. Graf perfektioniert das Kunstgewerbliche, montiert schneller, eleganter, kühner. Ellenlang wird das Anrecht auf individuelles Glück phrasenreich erklärt. In einem Kino, das an die Kraft der Bilder glaubt, könnte man diesen Info-Gehalt in 30 Sekunden zeigen und ganz ohne Statements.

Es gibt mehr Einwände, überflüssige Szenen, die keinesfalls hilfreich sind, tiefer in die Psyche des vermuteten Täters heineinzuschauen.

Es ergibt wenig Plausibilität, dass gezeigt wird, wie ein Exkommissar (Michael Roll) extra per Helikopter eingeflogen hier landet. Diese Bilderstrecke ist biederer Durchschnitt und trägt weder zur Charakterisierung der Figur noch zum Inhalt des Filmes bei und noch weniger zur Beleuchtung des Tatverdächtigen; sie wirkt wie Zeit schinden in einem dünnen Drehbuch. Wobei vom Drehbuch her klar ist, was für ein Typ das sein könnte (Kniebe dürfte einige Filme mit solchen Figuren gesehen haben); gegenüber dieser filmgeschichtlich fundierten Rollenidee scheint Michael Roll eine Fehlbesetzung, er wirkt für die Texte, die er sagt, nicht souverän genug.

Ähnlich ergeht es mir mit Verena Altenberg, der Kommissarin. Wenn ich zurückdenke an die flirrenden Szenen zwischen ihr und Ilse Neubauer in Frau Schrödingers Katze. Jetzt wirkt sie angestrengt, wenn sie die verünftelnden Drehbuchtexte abliefert, besonders mit Michael Roll, da spielt sie wie gegen eine Wand. Aber die Casterin An Dorthe Braker wird der Produktion vorgegaukelt haben, es handle sich um die best mögliche Besetzung im Subventionstümpel; es ist nicht zu erwarten, dass es einen Wettbewerb um die Rolle gegeben hat; somit ist die Gunstvermutung nicht neutralisiert.

Es gibt einen ziemlich platten und vor allem wenig nachvollziehbaren „Einfall“ des Drehbuches. Mitten in der nächtlichen Verhandlung stört durchdringender Bohrlärm das Verhör. Ein durchgeknallter Hausmeister? Das zu klären gehen Minuten TV-Zeit drauf, die außer allgemeingültigen Banalitäten (dass Lärm stören kann) grad gar nichts zum Sachverhalt des Verhörs beitragen, nichts zu einem allfälligen Täterverständnis. Auch hier wird Sendezeit ohne Gegenwert vertan; Zeit, die der Genauigkeit der Analyse des Falles abhanden kommt.

Wie wär es, Romuald Karmakar einen Tatort drehen zu lassen?

Drehbuch: eine Aneinanderreihung wenig belastbarer Werweißereien. Es wird nur darüber geredet, nur erzählt und von Dominik Graf nett und abwechslungsreich illustriert. Schwerfälliger Diskurs der Kommissare über Fortführung der Befragung. Diese wirkt erfunden. ein unharmonischer Cast, ein hackeliger Cast.

Ein Drehbuch, das seine eigene Idee brillant findet, den pensionierten Kommissar zurückzuholen. Sprachlich kein Münchner Cachet. Und dann die Standardfrage in der darniederliegenden deutschen Drehbuchkultur: „Was ist hier los?“, die einen zuverlässigen Hinweis auf ein notleidendes Drehbuch liefert.

Wobei auch Tobias Kniebe, so ist zu vermuten, sich bezüglich seines Einkommens weit unterproportional an der Finanzierung des demokratischen Gemeinschaftswerkes öffentlich-rechtlicher Rundfunk beteiligt, absolut legal dank der Haushaltzwangsgebühr.

„Wir brauchen jetzt alle an Bord“. „Absolut“. „Keine Frage“. … abgedroschene Füll-Sätze. „Wir brauchen jetzt hier vollen Einsatz!“ – eine Phrase, die weder eine Figur charakterisiert noch Münchner Kolorit in den Film bringt noch für Handlung oder Spannung förderlich ist.

Raumumzug mit zu viel Floskel-Text, langatmig, zu brav runtergespult.

Witzlos der Dialog zwischen Eyckhoff und Murnau, so überernst, so eindimensional. Hier sprüht gar nix, wenn man daran denkt, wie die Szene zwischen ihr und Ilse Neubauer gefunkelt hat.

Künstlerisch angedachte Mehrtonmusik.
Wenn schon ein Schuh aus der Medikamentensuche gemacht wird, dann bittschön richtig schräg. So ist das nur öd.

„Aber der Versuch war trotzdem wichtig“.

Einmal mehr beweist dieser Film, dass Drehbuchschreiben kein Spaziergang ist. Nach einer Stunde hat man das Gefühl, es waren gefühlte drei.

„Ergreif doch die Chance, ergreife sie jetzt, jetzt“. Das sind Sätze, die passen nicht zu Verena Altenberger, sie fasziniert dadurch, dass sie eben nicht der vernünftelnde Normalo ist. Zu ihrem zupackend-pragmatischen Typ passen Bauchgefühl, Herz, gesunder Menschenverstand und nicht Vernünftelei.

Der 12-Uhr-Schlag ist der Punkt, der zehn Minuten vor Schluss noch eine Hektik auslösen soll im Polizeiruf, dann rasen gerne alle los, tatütata. Stattdessen kommt hier eine nicht allzu überzeugende Lösung des Falles. Es sei dem Polizeiruf-Team unbenommen, zu feiern. Sie haben in einer knapp bemessenen Drehzeit 90 Minuten bewegtes Bild zustande gebracht, das am Sonntagabend über die Bildschirme flimmert.

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers!

Lügen haben kurze Beine – Fourmi

Ameise

nennen seine Freunde ihn, Théo (der ausstrahlungsstarke Maleaume Paquin), weil er so kurze Beine hat, aber es wird sich zeigen, dass noch andere Eigenschaften der Ameise eine Rolle spielen werden. Ameise heißt der französische Originaltitel dieses Filmes von Julien Rappeneau nach dem Comic von Artur Laperla und Mario Torrecillas. 

Der Junge ist ein Fußballtalent und das mit den kurzen Beinen wird eine mehrfache Bedeutung erhalten, so wie im deutschen Titel angegeben, aber mit den Lügen hat es eine Bewandtnis, die wiederum mit den kurzen Beinen von Théo zu tun hat, so dass er eine einzige Lüge in die Welt setzt, welche nicht nur ständig befestigt und bestätigt werden muss, sondern die auch zeigt, welche Kraft der Illusion innewohnt. 

Kinderfilm ist ein zu einschränkendes Prädikat; es meint lediglich, dass die Hauptfiguren in dem Film Kinder sind, dass die Geschichte aus ihrer Sicht erzählt wird. 

Rappeneau nimmt die Kinder ernst. Er legt ein präzises Soziodram um ein Scheidungskind vor, das sich als Mediator zwischen den Eltern sieht, das viel mehr Verantwortung zu übernehmen sich verpflichtet fühlt, als ein Kind zu schultern imstande ist. 

Dabei passiert die kleine Lüge, um dem Vater Laurent (Francois Damiensa) einen Gefallen zu tun. Vater ist Alkoholiker, eine abgestürzte Figur ohne Job und ohne Sorgerecht. Mutter Chloé (Ludivine Sagnier) ist mit einem anderen abgehauen. Ein Talent-Scout von Arsenal beobachtet ein Training. Es gibt eine Besprechung. Vater steht am Spielfeldrand, bekommt nicht recht mit, was besprochen wird. Théo bekommt eine Visitenkarte überreicht. 

Wie Théo zum Vater zurückkommt, fragt dieser, ob Arsenal ihn nehme. Es braucht nur Bruchteile einer Sekunde bis zur Lüge, die hier ein einfaches „Ja“ ist. Die Wirkung auf den Vater ist enorm. Die Lüge selbst entwickelt ungeahnte Dynamik. 

Théo muss seinen durchgeknallten Internetnerd und Schulfreund einspannen, um die Lüge aufrecht zu erhalten. Das ist nur eine der wunderbaren Qualitäten dieses Filmes, dass er seine Figuren liebt, dass er ein Faible für Schräges hat; auch der neue Trainer-Assistent ist skurril, der ist eigentlich Konditor und bringt den jungen Fußballern zur Belohnung Himbeerkuchen mit. 

Eine andere Stärke ist der Ernst der Inszenierung, die das Hauptmerk auf das gravierende Problem eines Scheidungskindes legt, das mit den Problemen eines Sorgerechtsstreites befasst ist. Eine Inszenierung, die nie eine Konzession an ein vermeintlich kindliches Publikum macht, nie nach der Gunst der Zuschauer giert. Diesem aber nach dem spannenden Fachvortrag einen dramaturgischen Beerenkuchen serviert mit einem Happy-End, was mehr mit Filmkunst als mit dem Leben zu tun haben dürfte. 

Das zeigt der Film auch: zur Wirksamkeit der Lüge gehört die Leichtgläubigkeit derer, denen sie aufgetischt wird. Es wäre zu schön, wenn von dem Verein einer es bis Arsenal schaffte (oder, es wäre zu schön, wenn es in Deutschland einen Global Player wie Wire Card gäbe, oder es wäre zu schön, wenn Deutschland Afghanistan demokratisieren könnte). Wenn aber Lügen Gutes tun? 

Kommentar zu den Reviews vom 15. Juli 2021

Es rumort beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Nach einer Anzahl von Autoren haben sich jetzt auch Regisseure über die Arbeitsbedingungen und die Eingriffe in die künstlerischen Rechte und Freiheiten beschwert und inzwischen auch noch Journalisten über den Umbau von Sendeplätzen. Das wundert nicht angesichts des Sparzwanges der Anstalten. Es sind dies Reaktionen in einer komplexen und komplizierten Gemengelage. Die hängt auch mit der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunkes über die Haushaltszwangsgebühr zusammen, einer Finanzierung zu Lasten einkommensschwacher Haushalte und ein Umverteilungsfaktor; denn die Reichen entziehen sich im Vergleich zu ihrer Finanzkraft praktisch einer Beteiligung an der Finanzierung des 9-Milliarden-Gemeinschaftswerkes öffentlich rechtlicher Rundfunk. Dies wiederum ist einer unter anderen Punkten für das schlechte Ansehen dieser urdemokratisch gedachten Institution. Das schlechte Ansehen wiederum macht es der Politik schwer, Zwangsgebührenerhöhungen durchzusetzen. Der letzte Versuch ist vorerst gescheitert, weil bereits ein Bundesland sich der Zustimmung zur Erhöhung verweigerte. Zum schlechten Ansehen des öffentlich-rechtlichen Rundfunkes trägt weiter bei, dass die Kostenstruktur der Anstalten so beschaffen ist, das selbst bei einer Zwangsgebührenerhöhung die Sender noch mehr sparen müssen, also noch mehr Wiederholungen senden bei gleichzeitiger Kostensenkung in der Produktion, zum Beispiel weniger Drehtage für gleich viel Sendezeit. Das wiederum führt zu immer mehr Frust bei den Kreativen. Den letzten beißen die Hunde. 

So dreht sich die Kosten- und Frustspirale weiter, denn einerseits gibt’s die Tarifvorgaben und chronischen Lohn-Erhöhungen innerhalb der Rundfunkanstalten, hinzu kommen gigantische Pensionslasten aus fahrlässigen Versprechungen. Die Probleme türmen sich; nichts wird sich in nächster Zeit beruhigen. Das Thema könnte bei manchen sogar die Wahlentscheidung beeinflussen. 

Höchste Zeit also, das Modell öffentlich-rechtlicher Rundfunk, seine Grundaufgaben, seine Finanzierung gründlich zu diskutieren; allenfalls die Auslagerung der Pensionskosten sowie die Auslagerung sämtlicher Sendungen, die nicht dem demokratischen Grundauftrag dienen. Sonderbarerweise streicht der Rundfunk immer mehr kulturelle Sendungen, verschiebt sie in die „Todeszone“ – und entfernt sich damit immer mehr von seinem Grundauftrag. Zu schweigen vom verheerenden Einfluss auf das Kino, das ohne Koproduktion mit öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten kaum finanzierbar ist; welche einen vereinheitlichenden Einfluss und Bevormundung ausüben.

Die Zeit zu dieser Grundsatzdiskussion drängt, denn je mehr sich die Lage zuspitzt, desto vernehmlicher werden die Stimmen, die eine gänzliche Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fordern und desto mehr geben die Verteidiger dieser urdemokratisch gedachten Institution die Diskussionshoheit aus der Hand.

Nichtsdestotrotz: auf geht’s ins Kino, es ist spannend und vielfältig!

SEHNSUCHT NACH EINER UNBEKANNTEN HEIMAT

Drohnen über Transsylvanien!

PATRICK

Idyllisch portugiesische Landlocation zur Einbettung für wenig erfreuliche Dinge mit Kindern.

NEBENAN

wacht der aufmerksame Nachbar. 

FAST & FURIOUS 9

Da könnte man echt auf den Gedanken kommen, die seien unverwundbar und ungewönlich. 

IM FEUER – ZWEI SCHWESTERN

Das deutsche Kino zwischen Kriegs- und Subventionsfront. 

MINARI – WO WIR WURZELN SCHLAGEN

Die Oma aus Korea ist stärker als der amerikanische Traum.

ERDMÄNNCHEN UND MONDRAKETE

Südafrikanisches Coming-of-Age unter Familienfluchbedingungen. 

SPACE JAM 2 – A NEW LEGACY

In den Eingeweiden von Warner Bros herrscht die künstliche Intelligenz – nicht zum Vorteil der Firma.

HEIMAT NATUR

Große Umwälzungen finden in ihr statt – und der Mensch ist nicht unbeteiligt daran.

HUNTED

In Belgien geht’s im Crude-Genre krud zu.

MORGEN GEHÖRT UNS

Dank Corona ist auch dieser Hoffnungsstreifen deutlich gealtert. 

Gefährliche Sportwetten (ARD, Montag, 14. Juni 2021, 23.05 Uhr)

Das interessiert niemanden.

Thema Sportwetten, Glücksspiel und Spielsucht. 

Das interessiert niemanden, wird sich auch die ARD gesagt haben, und verbannt den Mixed-Pickles-Beitrag von Ulrich Hagmann und Sebastan Krause unter Betreuung durch BR-Zwangsgebührentreuhänderin Birgit Engel gegen Mitternacht. 

Just nicht dahin, wo auch jene Leute fernschauen, die hier angesprochen werden sollen: all die Sportinteressierten, die wettsüchtig sind, all die Politiker, die sich mit der Wettsucht beschäftigen oder die ein Geschäft damit machen, all die Sportler, die damit werben; womöglich auch die ARD? 

Das jedenfalls wird aus der Wischiwaschi-Dokumentation mit Statement-Wust ersichtlich, im Grunde interessiert sich niemand ernsthaft dafür, gegen das Geschäft mit der Wettsucht etwas zu unternehmen; es wird zwar ein Gesetz beschlossen, es gibt Einzelkämpfer, es wird auch viel verboten, aber bewirken tut es nichts; weil offenbar, auch das suggeriert dieser Beitrag, zu viele sind, die damit glänzende Geschäfte machen; auch prominente Fußballer, erwähnt werden Stefan Effenberg, Oliver Kahn, Lothar Matthäus, die Bayernspieler. 

Wobei Stefan Effenberg noch die Dreistigkeit besitzt, für das Interview die Mütze mit dem Branding seines Sponsors schleichwerbenderweise aufzusetzen; just eines der getadelten Unternehmen; mehr Veräppelung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und dessen Zwangsgebührenzahler geht nicht. 

Die Zuständigen bei der ARD, wenn sie das Problem wirklich berühren sollte, hätten durchaus die Möglichkeit, dem Thema Prominenz zu verleihen. Statt es ins nächtliche Dunkel zu verwurschteln könnten sie es doch flankierend oder in den Pausen von Direktübertragungen von Sportereignissen zur Hauptsendezeit ins Programm nehmen; und dann bittschön mit einem verständlicheren Beitrag. 

Dass sie das nicht tun, zeigt, wie vollkommen egal ihnen das Thema ist, dass es ihnen auf keinen Fall auf den Nägeln brennt, dass sie es offenbar für ein nicht weiter behandelnswertes Sujet halten, obwohl es heißt, dass es hier um 13 Milliarden Verluste für Bundesbürger pro Jahr geht, das ist mehr als anderthalbmal so viel, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht. 

Aber für so wichtig halten die ARD und ihr übermäßig bezahlter Spitzenmann Tom Buhrow das Thema wohl nicht, so ein bißchen Sucht, von der offenbar auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk profitiert, wollen wir doch nicht so laut behandeln; wozu sollen wir uns womöglich in Schwierigkeiten mit Sponsoren etc. etc. bringen? 

Lieber bringen wir zur Beruhigung unseres eh schläfrigen Gewissens einen Beitrag für lau, den sowieso niemand interessiert. Dem Buchstaben, aber nicht der Sache gedient. 

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers! 

Alltagsdroge Crystal Meth (BR, Montag, 11. Januar 2021, 22.50 Uhr)

Rumhupfdoku.

Ein bißchen Beifang aus einem niederländischen Hafen, etwas Autobahn aus Deutschland, Beifang aus Nürnberg, von der tschechischen Grenze, Nahaufnahmen von Händen (Erinnerung an Albrecht Dürer, da Nürnberg in dieser konzeptlosen Doku von Annika Hoch, Christian Gramstadt und Danko Handrick eine gewisse Rolle spielt?) und da ein Statement von einem Kripo-Menschen und dort ein Statement von einem holländischen Drogenfahnder, der die Gefahr des Einmarsches mexikanischer Drogenkartelle an die Wand malt, und dort ein Statement von einer Frau, die auf einer Suchtklinik für Mütter arbeitet, und ein Statement von einem Helfer aus Passau und Bla und Bla und dies und das und dort eine kleine Info, wie leicht Chrystal Meth herzustellen sei und dass die Holländer den Tschechen den Rang ablaufen und Chemiker, die aus dem Abwasser einer Stadt auf den Crystal-Verbrauch schließen können (falls denn die Süchtigen ihr Wasser nicht irgendwo im Park oder im Wald lassen) und wieder Beifang von Autobahn und Beifang von Hausdach und Beifang von Passau und ein kleiner Seitenhieb auf die Politik, die sich vor allem für Hasch interessiere, und eine Selbsthilfegruppe an einem langen Tisch mit Selbsthilfe-Branding-T-Shirts und Kuddel und Muddel und ein Psychiater sagt was; eine Doku, die garantiert nicht preiswürdig ist, die eher neugierig auf das Rauschmittel macht als davon abhält, eine Planlos-Doku mit Reisebudget und einer Kamera, die nicht berauscht, aber ebensowenig berauschend ist, und Dunkelziffern spielen eine Rolle und Zeugen, die nicht erkannt werden wollen, und Spekulationen und nirgend ein stringenter Doku-Story-Faden, eine Allerweltsdoku, eine Rumhupf-Doku, eine Schwatz-Doku, die ihren Platz in der Gesellschaft noch finden muss, vielleicht in einer Doku-Selbsthilfegruppe für desorientierte Dokumentaristen, eine Doku, die der Behauptung, Chrystal- Meth sei kein Top-Thema, fettgedruckt recht gibt, und die mit Zahlen, die wie aus der Luft gegriffen wirken, um sich wirft, eine Doku, die auch mal abschweift auf einen schönen Eisenbrückenbogen, eine Doku, die nicht klar machen kann, warum sie mit Zwangsgebührengeldern finanziert werden muss.

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers. 

Kommentar zu den Reviews vom 24. Dezember 2020

Ohne Kino leben. Dazu zwingt einen die Politik. Aber will man auf Dauer mit Ersatzlösungen zufrieden sein? Sich daran gewöhnen? Nie und nimmer. Und doch, irgendwie geht es auch ohne Kino ganz gut. Ich muss nicht jeden Tag einen Film sehen. Jetzt eben als Sichtungslink auf dem Rechner, was sogar gewisse Vorteile hat, man kann den Film anhalten, kann ein Zitat rausschreiben, kann eine Szene nochmal schauen, ja man könnte sogar auf einem anderen Fenster bereits die ersten Eindrücke tippen; es soll sogar Kollegen geben, die auch die Vorlauftaste nutzen. Man spart sich den Weg ins Kino. Aber es bleiben einem die Gespräche mit den anderen Filmmenschen vorenthalten. Andererseits muss man keiner Presseagentur ein Statement abgeben. 

Ohne Kino leben. Es einfach ausblenden. Es vergessen. Was ich nicht weiß, macht mir nicht heiß. Kino? Ach ja, da war mal was vor Urzeiten. Was ist Kino überhaupt? Geistige Ablenkung, anregende Bilderfolgen, Zudröhnung mit Dolby-Atmos und Bilderactiongewittern? Ein Rausch oder ein Eskapismus, eine therapeutische Qual, eine Entspannung, eine Flucht, Reisen des armen Mannes oder des Corona-Quarantänlers? Kino, was ist das? Ist der Kinogänger eine spezielle Spezies, so wie der Leser, der Raucher, der Briefmarkensammler, der Kleingärtner, der Fußballfan, der Trainspotter, der Poet, der Kleinkalibersportler, der Videogamer? Ist Kino sytemrelevant? Man darf es gar nicht laut sagen, falls es einem auch ohne Kino gut geht. Wie viele Bundesbürger gehen wenigstens ein Mal im Jahr ins Kino, freiwillig und nicht etwa mit Schulzwang? 

Ohne Kino leben. Es gibt so viele andere Unterhaltungen vom Wandern, Chorsingen, Töpfern, Malen, Fotografieren, ins Caféhaus gehen, Surfen, Raften, Freeclimbing, fein Essen gehen, Ausflug im Oldtimer, Museumsbesuch, Gärtnern – und es gibt noch die Musse, falls es sie noch gibt. Bilder Revue passieren lassen. Je länger ein Leben, desto mehr Bilder. Je länger ein Kinogängerleben, desto mehr Kinobilder. Sich vorstellen in einem Kino, in dem man oft war, zu sitzen, allein, in Richtung Leinwand schauen und Bilder, die man darüber hat flimmern sehen, in Erinnerung rufen – das könnte eine zeitraubende Angelegenheit werden. Können Filme bilden? Es gibt immer wieder Versuche, Kanons herzustellen mit den wichtigsten Filmen oder auch Ende Jahr mit Have-Seen oder Should-Have-Seen-Filmen, Top-Tens. 

Ohne Kino leben. Anfang 2020 war das noch kein Thema. 

Da gab es noch Filme. Mit denen prima sich zu beschäftigen war!

JEANNE D’ARC

So fixiert wie Greta.

QUEEN & SLIM

Blind Date mit üblen Folgen.

DIE WÜTENDEN – LES MISERABLES

Banlieu-Krimi nach dem Leben.  

SORRY, WE MISSED YOU

Und Corona begünstigt diese Entwicklung noch (Paketlieferdienste).

INTRIGE

Den Begriff – und dessen Inhalt – perfektioniert.

TOMMASO UND DER TANZ DER GEISTER

Amikünstler in Rom.

FÜR SAMA

Nahostgrauen aus erster Hand.

ÜBER DIE UNENDLICHKEIT

Nordisch, philosophisch, vielsagend.

Das waren jede Menge Highlights bis kurz vor Ostern, Filme, die das Leben reicher, lustiger, tiefer und lebenswerter gemacht haben. – Es kommt einem vor, als erzähle man aus einer anderen Zeit.

Das Jahr fing also an mit vielen sehens-, beachtens- und bedenkenswerten Filmen. Dann sollte MULAN kommen. Stattdessen kam, ebenfalls aus China, Corona. Ab da gab es lange nur Konjunktiv-Programme (Corona Notprogramm), Filme die geplant waren, aber nicht mehr gezeigt werden durften. Es folgte die Lockerung mit mühseligem, hygienebürokratisch drangsaliertem Kinobesuch. Kinofreude ist etwas anderes und die Kinobetreiber mussten auch noch Hygienesheriffs spielen. In dieser trüben Zwischenphase sollte Christopher Nolans TENET alles überstrahlen; mit wachsender Distanz verblasst er schnell. 

Es folgte eine Phase des Hü und Hott, der ständigen Startankündigungen und Verschiebungen bis die von manchen Virologen lange prognostizierte zweite Coronawelle mit voller Wucht das Land überrannte und alles, was an Kinohoffnung blieb, unter sich begrub und wegriss. Verzagtheit macht sich breit in der Branche. Werden die Kinos je wieder öffnen und wenn ja, wie viele werden es sein? Lockdown, das heißt: Leben ohne Kino

Leben ohne Kino. Das ist ein Stück weit auch: leben ohne Orientierung. Mit Kinos in Betrieb ist Orientierung da. Immer donnerstags kommen die neuen Filme. Donnerstags sind die Feuilletons voll mit den Besprechungen und mit den Hinweisen. Und Donnerstag ist der Tag, an dem der Filmgeneigte nachguckt, welche Starts von der Vorwoche noch im Programm sind, nachschaut, wie lange sich ein Film im Kino hält. Das erzählt wiederum von unserer Gesellschaft, was sie beschäftigt, oder wie sie sich amüsiert, wie sie lacht, mitleidet, gar diskutiert. Diese Eigenschaft des Kinobetriebes ist einzigartig. Die kann von den Streams nicht kompensiert werden; Streams wirken von Anfang an archivarisch und beliebig. Bei Streams fehlt das ausgetüftelte Auswahl-Verfahren, das entscheidet, was überhaupt gezeigt wird, wie es beim Kino der Fall ist, von den Produzenten, den Verleihern bis zu den Kinobetreibern, die oft ihrer Spielspätte ein eigenes Gesicht geben. Die Bezahl-Streams wurden anfänglich hochgejubelt von den Feuilletons; denn es war geschäftlich-kapitalistisches Kalkül der Investoren, für den PR-Rummel Meisterregisseuren freie Hand zu geben. Das wurde goutiert. Aber es kann das gesamt-gesellschaftliche Kinostart-Donnerstag-Ritual nicht ersetzen. Dies ist einmalig. Die Schaufenster der Kinos sind Aushängeschilder, was Streams nie sein können (wer kennt das nicht: man ist in einer fremden Stadt und ein Orientierungspunkt ist es, das oder einige Kinos anzusteuern und zu schauen, was dort gezeigt wird; das wird das Bild der Stadt mitprägen; Kinos können eine einzigartige Visitenkarte einer Stadt sein – undenkbar bei Streams. Leben ohne Kino heißt auch, auf einen Leuchtturm und Fixpunkt gesellschaftlichen Bewusstseins, gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu verzichten. 

Leben ohne Kino. Das bedeutet für die Disney-Studios, wir können das, wir bringen alle Produkte gleich als überall empfänglichen Stream, wir verzichten auf die Leuchtturmfunktion des Kinos resp. wir haben das nicht nötig. 

Leben ohne Kino. Das bedeutet, den Kinoschreiber erreichen immer weniger Meldungen über Filme, über Filmstarts: es gibt immer weniger zu berichten im Kommentar zu den Reviews der Woche, hier in der Woche vom 17. bis 24. Dezember 2020. 

DVD

ANTEBELLUM

Generationentraumata.

DIE OBSKUREN GESCHICHTEN EINES ZUGREISENDEN

Bunuel-Reinkarnation?

VoD

VITALINA VARELA

Eine Originalpersönlichkeit, eine fiktive Geschichte im heutigen Portugal und wie Horror wabert dunkel über allem der Kolonialismus. 

SAG DU ES MIR

Ein kaum beachteter Sturz von einer Brücke, Perspektiven und Personen, die ihn einzukreisen versuchen.

TV

LEBENSLINIEN: WILLY BOGNER – DURCH FEUER UND EIS

Ein Leben voll extremer Höhe- und Tiefpunkte. 

Kommentar

WIE PROF. KIRCHHOF IN MAGDEBURG IN STRAUCHELN KAM ODER DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHE RUNDFUNK UND DIE SPRENGKRAFT VON 86 CENT

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist dysfunktional geworden; sein Finanzierungsmodell geht unfair zu Lasten einkommensschwacher Haushalte; arme Ossis müssen reiche Wessi-Pensionäre noch reicher machen – von Gesetzes wegen. 

Wie Prof. Kirchhof in Magdeburg ins Straucheln kam oder der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die Sprengkraft von 86 Cent.

Stefe ist ein Verfechter des öffentlich-rechtlichen Rundfunkes (im Folgenden: ÖRR) als einem unabdingbaren und unabhängigen Ferment für eine lebendige Demokratie. Der soll Entwicklungen verhindern, wie sie zur Nazi-Diktatur geführt haben, Entwicklungen also, die die Demokratie gefährden, die zu antidemokratischem Populismus, Rassimus und Extremismus führen. 

Es schmerzt, wenn der ÖRR diese Funktion nicht mehr erfüllt, wenn Parteien in Deutschland Fuß fassen, die vom Populismus genährt werden und deren Ziele nicht mehr die Demokratie sind. Solche Entwicklungen sind im Gange. Der ÖRR konnte sie nicht verhindern; er ist dysfunktional geworden. 

Es wäre die vornehmste Aufgabe eines unabhängigen ÖRR, all die Menschen mitzunehmen und anzusprechen, die offenbar unter den herrrschenden Verhältnissen leiden, die sich nicht ernst genommen fühlen, ausgegrenzt und untergebuttert und deshalb anfällig sind für Populismus, Rassismus, Extremismus, vielleicht auch für Verschwörungstheorien. Trotz eines über 9-Milliarden-Budgets gelingt das dem ÖRR nicht. 

In Sachsen-Anhalt hat es sich gezeigt, dass dem ÖRR auch ein Teil des etabliert politischen Supports wegbröselt. Es geht um die Erhöhung der Rundfunkzwangsgebühr um 86 Cent pro Haushalt und pro Monat auf dann immerhin 18.36 Euro ab 2021. Das ist vor dem Hintergrund eines bevorstehenden wirtschaftlichen Einbruches zu sehen, wie es ihn lange nicht gegeben hat. Dieser Erhöhung hätte der Landtag von Sachsen-Anhalt zustimmen müssen. Hat er nicht. Damit kann die Erhöhung (also der neue Rundfunkvertrag) nicht in Kraft treten. Es müssen alle Länderparlamente einstimmig dafür sein. 

Die Einstimmigkeit ist eine demokratische Vorsichtsmaßnahme. Sie soll garantieren, dass eine breite Mehrheit im Lande, und eben auch eine föderale Mehrheit, hinter dem ÖRR steht. Wenn dem nicht mehr so ist, so ist das ein Alarmsignal. Wer dafür das Einstimmigkeitsprinzip schilt, der hat es nicht verstanden. Niemand soll sich vom ÖRR missachtet fühlen. 

Wer jetzt einfach über das Prinzip der Einstimmigkeit schimpft, der macht es sich zu einfach. Es ist hier ein direkt ablesbares Symptom für die Dysfunktionalität des ÖRR, ein Hinweis auf beachtliche Risse oder Defizite in dessen öffentlicher Anerkennung. Das sollte zu denken geben. Wer also über das Abstimmungsresultat schimpft, der zementiert den Riss eher, als dass er zu dessen Kittung beiträgt. 

Wenn so ein Pfeiler der Demokratie wie der ÖRR dysfunktional wird, so muss er dringend repariert werden. Das wird eine schwierige Operation bei einem so großen, so komplexen, so teuren Unternehmen. Voraussetzung, diese Operation überhaupt anzugehen, ist die Analyse der Dysfunktionalität (oder der Auswüchse, der Fehlentwicklungen beim ÖRR). Die Politik aber verspürt wenig Lust dazu. Lieber wird argumentiert, Corona habe doch gezeigt durch die erhöhten Einschaltquoten bei den Nachrichten und Corona-Info-Sendungen, wie wichtig der ÖRR sei. Ob diese Qualität 9 Milliarden teuer sein muss? Das wäre gewiss mit deutlich weniger zu leisten. 

Um zu verstehen, wie es zu dieser Dysfunktinalität kommen konnte, muss man in die Geschichte des ÖRR zurückschauen. Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet mit dem dezidierten Ziel, die Demokratie lebendig zu erhalten, sie gegen Extremismus, Faschismus zu immunisieren, damit nie wieder so etwas wie die Nazidiktatur entstehen kann. 

Die erste Generation der Rundfunkmacher hatte das präsent und hat wohl einen teils sehr aufregenden Rundfunk, sowohl Radio als auch Fernsehen, gemacht. Es gab keine private Konkurrenz. Mit dem aufkommenden Wohlstand und auch mit den technischen Entwicklungen stiegen die Ansprüche. Der ÖRR wurde teurer. Die Finanzierung ging über den Besitz von Geräten. Wer Empfangsgeräte besaß, Radio, TV-Apparat, der musst entsprechend bezahlen. Durch die schnelle Verbreitung der Geräte stiegen auch die Einnahmen des ÖRR sprunghaft an. Geldhaufen machen begehrlich.

Den Einzug des Geldes besorgte die GEZ; durch ihr oft ruppiges Auftreten Schwarzsehern gegenüber war sie nicht besonders gut beleumdet, ein ständiges Ärgernis.

In den 80ern kam zum ÖRR die private Konkurrenz. Diese versuchte Mitarbeiter vom ÖRR abzuwerben. Der wollte sie halten mit traumhaften Pensionsversprechungen. Diese Mitarbeiter sind heute in Pension, sie verdienen zum Teil mehr als je zur aktiven Zeit. Diese Renten belasten den ÖRR heute so stark, dass sie ihn richtiggehend einschnüren. Es handelt sich um Verpflichtungen des ÖRR im Bereich von Hunderten von Millionen Euro. Bezahlt werden müssen sie aus Gebührengeldern. 

Gleichzeitig zur Expansion der Privaten versuchte der ÖRR der Konkurrenz mit dem Ausbau seiner Programme zu begegnen. Das verschlang immer mehr Geld. Ständig bettelte der ÖRR um Gebührenerhöhungen, um seinen steigenden Bedarf zu decken. Gegen die Unersättlichkeit des Rundfunkes wurde als demokratisch regulierende Instanz die KEF erfunden, die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfes des ÖRR. Diese soll den ÖRR in seinen Geldgelüsten bändigen, das dürfte die politische Idee hinter diesem Organ sein. 

Denn je höher der Finanzbedarf des ÖRR wurde und je mehr sich seine Programme denen der privaten Konkurrenz anglichen, desto mehr wurde öffentlich gemosert, wenn wieder eine Erhöhung anstand. Die Politik hatte wenig Lust zu diesen Auseinandersetzungen; denn sie selbst sieht sich durchaus in Abhängigkeit vom ÖRR, insofern, als er für die Politiker eine wichtige Plattform, eine nicht zu unterschätzende öffentliche Bühne bietet. 

Wie die Politik es leid war und weil sie sich nicht ständig mit dem Geldhunger des ÖRR und der aggressiven GEZ anlegen wollte, beauftragte sie vor einigen Jahren einen gewissen Professor Paul Kirchhof, ein wasserdichtes Modell zur Finanzierung des ÖRR zu entwickeln, das der Politik den stets wiederkehrenden Ärger endlich vom Hals hält. Aus dem vermutlich nicht billigen Gutachten des Professors resultiert die heute gültige Haushaltszwangsgebühr, die seit einigen Jahren als Fixbetrag pro Wohnung erhoben wird. Damit hoffte die Politik, endlich die Probleme mit der Finanzierung des ÖRR dauerhaft gelöst zu haben. Sie hat sich getäuscht, spätestens seit Anfang Dezember dieses Jahres ist das Thema – und brennender als zuvor – wieder auf dem Tisch, Stichwort Magdeburg.

Das Problem bei der Finanzierung nach Professor Kirchhof ist, dass sie demokratisch unfair zu Lasten einkommensschwacher Haushalte geht. Diese Haushaltszwangsgebühr wirkt für solche Haushalte wie eine Strafsteuer. Sie müssen proportional zu ihrem Haushaltseinkommen, wenn man in Steuerkategorien denkt, einen viel höheren Steuersatz bezahlen als ein einkommensstarker Haushalt. Diese Ungerechtigkeit wird mit jeder Erhöhung der Zwangsgebühr größer. Es geht immerhin um einen Geldhaufen von über 9 Milliarden. Wir sprechen hier nicht von Peanuts.

Das hat zur Folge, dass ein Haushalt mit wenigen Hundert Euro Haushaltsgeld (arm über der HartzIV-Grenze und also nicht beitragsbefreit) zu den bisherigen 17.50 jetzt nochmal 86 Cent absparen muss; womöglich um einem fetten Rundfunkpensionär noch mehr Kohle unterzuschieben; eine eindeutig undemokratische Umverteilung von Gesetzes wegen – und das in einem vorgeblich demokratischen Staat. Als Folge der Corona-Krise wird die Zahl der Haushalte mit geringem und weiter sinkendem Einkommen deutlich zunehmen. Es wird also für noch mehr Haushalte ein Problem, die Rundfunkzwangsgebühr aufzubringen, um unter anderem die fetten Rundfunkpensionäre zu finanzieren. Das erkläre man mal einem Menschen mit Gerechtigkeitsgefühl und aus einem solchen Haushalt. 

Satirisch zusammengefasst: In Magdeburg gerät Professor Kirchhof ins Straucheln. (Eine Folge des Kirchhof-ÖRR-Finanzierungsmodells ist, dass jetzt einkommensschwache Osthaushalte gezwungen sind, noch mehr Geld zur Finanzierung der üppig versorgten ÖRR-Pensionäre beizutragen; die in ihrer überwiegenden Mehrzahl Westler sein dürften). 

In einer Demokratie müssen Ungerechtigkeiten benannt und behandelt werden. Sonst bilden sich, nennen wir es mal so: Eiterbeulen. Bildlich gesprochen ist in Sachsen-Anhalt eine Eiterbeule aufgebrochen. Statt auf den Eiter zu schimpfen, sollten Politik und verantwortlich sich fühlende Medien dringend damit beginnen, die Ursache dieser „Krankheit“ zu ermitteln, der ihr zugrunde liegenden Ungerechtigkeit auf den Zahn zu fühlen, sowohl, was die Finanzierung des ÖRR betrifft als auch, was grade im Osten gerne vorgebracht wird, hinsichtlich der Berücksichtigung des östlichen Lebensgefühles. 

Der ÖRR bedarf dringend der Rundumerneuerung. Das eine ist die Finanzierung und zwar auf eine demokratisch faire Art, die nicht die Reichen maximal entlastet; dies wird viel zu wenig thematisiert. Andererseits muss eine Lösung für das Pensionenproblem gefunden werden. Hinzu kommen als Drittes all die häufig vorgebrachten Kritikpunkte wie die exorbitanten Gehälter der Intendanten, das hohe Durchschnittsalter der Zuschauer, zu viel bürokratische Verkrustung, zu viele Landesanstalten, zu viel Pfründentum (also auch so schöne Posten wie Rundfunkräte), das Problem mit den Subunternehmen, Hunderte von Millionen für Sportübertragungen zur Finanzierung von Sportmillionären, zu viele Talkshows, Sendungen zur Finanzierung von Showmillionären, zu viele Wiederholungen, zu wenig Eigenständigkeit, zu viel Orientierung an Quote und an der privaten Konkurrenz. 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist dysfunktional, behäbig geworden und immer fordernder bei gleichzeitiger Reduktion der Leistung (weniger Drehtage, mehr Wiederholungen, wie der scheidende BR-Intendant Ulrich Wilhelm drohend zu sagen pflegte). Der öffentlich-rechtliche Rundfunk bedarf dringend der gründlichen Erneuerung sowohl was die Definition von Schutz und Lebendighaltung von Demokratie in der modernen Social-Media- und Medienlandschaft bedeutet (da gibt es durchaus Ansätze) als auch was eine faire Finanzierung betrifft, die nicht die einkommensschwachen Haushalte überproportional belastet. Diesmal sollte sich die Politik nicht vor der Aufgabe drücken; das könnte doch ganz gut in einem Aufwasch mit den dräuenden wirtschaftlich-sozialen Problemen in der Nachcorona-Ära passieren.