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Interview: Ein paar Fragen an Nicolas Cassardt (und Philipp Klett)

In Deutschland ist Filmkünstlertum weitgehend Untertanentum, da, wer von Filmkunst leben will, auf die Gunst von weisungsgebundenen Redakteuren und Förderern angewiesen ist. Insofern ist in Deutschland ein filmisches Nachdenken über Künstlertum – außerhalb des Genres der Künstlerbiographie -, wenn vielleicht nicht tabuisiert, so doch immerhin ungewöhnlich.

Einer der Nachwuchsfilmer, der noch nicht in die Fördermangel genommen wurde, hat nun gerade das gemacht, sich mit dem Künstlertum am Beispiel der Malerei auseinandergesetzt im Kurzfilm „Große Kunst“. Der junge Filmemacher heißt Nicolas Cassardt und sein koproduzierender Kameramann ist Philipp Klett. „Große Kunst“ ist ein Schauspielerfilm, ein Ensemblefilm, der eine erfolgreiche Festivalreise verbunden mit einem schönen Preisregen absolviert hat.

„Große Kunst“ spielt in einem Malatelier und kann interpretiert werden als ein Statement der Filmemacher, dass sie sich Großes zutrauen, dass sie aber einen Plan B haben, für alle Fälle, wobei der Plan B dann, gottseidank, doch wieder in Frage gestellt wird. Es geht um künstlerische Ambition und Hybris, aber auch um Talent und Können. Dazu bedarf es eines gewissen künstlerischen Wahnsinns, den transportiert am extrovertiertesten Michael Jamak als Frank, der sich herrichtet wie Salvador Dali. Ein Zitat von Vincent van Gogh gibt den ambitionierten Malern Power: „Wenn du eine innere Stimme hörst, die sagt: ‚Du kannst nicht malen‘, dann male auf jeden Fall, damit diese Stimme zum Schweigen gebracht wird“.

Das neuestes Werk von Nicolas Cassardt und Philipp Klett ist ein dreiviertellanger Film, ein pfiffig gemachter Mystery-Thriller mit Witz und Tiefgang, „Ihr letzter Coup“, der anfangs März im Kino Neues Rottmann in München begeisternde Premiere hatte.

Hier zu den Fragen und Antworten:

Warum ein Kurzfilm?
Ein Kurzfilm ist die ideale Spielwiese für junge Filmemacher. Man muss nicht so viel Geld wie bei größeren Produktionen investieren, die Anzahl der Drehtage ist überschaubar und man findet leichter SchauspielerInnen und Crewmitglieder, die sich auf das Projekt einlassen. Gleichzeitig bietet die zeitliche Beschränktheit in der Erzählweise wiederum kreative Limitationen, die mich zu einer konkreten Geschichte inspirieren. Was kann ich erzählen, das vom inszenatorischen Aufwand und den Kosten her noch im Rahmen unserer Möglichkeiten bleibt? Ist es ein Kammerspiel, ein Psycho-Thriller mit mehreren Locations oder etwa ein Traumszenario mit einem aufwändigeren Szenenbild? Das alles fließt in die Vision mit ein, wenn ich ein Drehbuch schreibe. Das wirklich Herausfordernde ist meines Erachtens die Figurenpsychologie. Wir wollen Figuren sehen, die markant sind, sich einem Konflikt stellen und sich dabei weiterentwickeln. In Kurzfilmen kann man den eigenen Figuren teils nur bedingt Raum zur vollen Entfaltung geben, das finde ich manchmal etwas unbefriedigend. Das Gleiche gilt ja für ihre literarischen Pendants, für Novellen und Kurzgeschichten.
Darum ist die zentrale Frage bei der Produktion eines Kurzfilms: Widmet die filmische Erzählung eher dem Plot oder ihren Figuren die meiste Zeit?

Warum das Thema (also das von Große Kunst)?
Das ist schon eine seltsame Entstehungsgeschichte. Mein Kollege und guter Freund Philip Klett wollte mich mit einer Aufgabe kreativ anregen. Ich sollte mir eine Geschichte ausdenken, in der eine Person schreien will, es jedoch aus irgendeinem Grund nicht kann.
Die Idee für die Aufgabenstellung kam ihm durch ein Gespräch mit einer Bekannten, die Lust hatte, sich schauspielerisch einmal auszuprobieren. Ich weiß nicht mehr, wie sie genau auf so ein absurdes Setting kamen, ich machte mich jedoch gleich daran, mir einen passenden Plot dazu zu überlegen. Dabei dachte ich an Modelle bei Malkursen, die in unterschiedlichen Posen lange stillhalten müssen, um gezeichnet zu werden. Das ist schon eine ermüdende, stumpfsinnige Arbeit. Was aber, wenn auch noch die TeilnehmerInnen des Kurses allesamt ziemlich unbegabt sind? Es ist dann doppelt ärgerlich, wenn man als Ergebnis schließlich so ein Gewurschtel vor die Nase gehalten bekommt. Das fand ich ganz lustig als Ausgangslage für den Film. Außerdem amüsieren mich alle Formen der Kleinkunst, seien es schlechte Laientheater, Trashfilme oder eben stümperhaft gemalte Bilder. Da ist die Diskrepanz zwischen Schein und Sein sehr groß und es wirkt fast immer komisch, wenn Menschen ein verzerrtes Selbstbild haben. Es braucht ja auch eine gewisse Hybris, zu sagen: „Ich mache jetzt Kunst. Nehmt mich bitte ernst.“ Die Figuren in Große Kunst sind größtenteils sehr eingebildet, versponnen und merken nicht, wie schlecht ihr handwerkliches Können und wie platt ihre künstlerischen Einfälle sind. Sie vertreten denke ich eher die Haltung, dass alles subjektiv ist und ihre Kunst daher nicht nach objektiven Maßstäben beurteilt werden kann. Wieso sich also nicht in eine Reihe mit Pablo Picasso, Salvador Dalí oder Frida Kahlo stellen, wenn es vermeintlich kein besser oder schlechter gibt? So eine überhebliche, tendenziell esoterisch-postmoderne Haltung ist mir auch teils in meinem Studium der Theaterwissenschaft an der LMU begegnet und ich hatte Lust, sie ein bisschen aufs Korn zu nehmen. Mit Große Kunst haben wir definitiv keinen Kurzfilm, der große Kunst sein will. Das ist ein kleiner, leichter Film, der auf hoffentlich unterhaltsame Weise das künstlerische Streben persifliert.

Wie stemmt Ihr das Projekt wirtschaftlich?
Philip und ich haben beide Geld in das Projekt gesteckt, um ein ordentliches Kostümbild, die Fahrt- und Übernachtungskosten der DarstellerInnen und die Miete zusätzlichen Equipments finanzieren zu können. Wir hatten keine Förderung und das wäre denke ich bei dem Projekt auch aussichtslos gewesen. Wir hatten Glück, dass wir tolle, passende SchauspielerInnen gefunden haben, die sich bereit erklärt haben, nur aus Spaß an der Sache in dem Kurzfilm mitzuspielen. Das ist wirklich ein Traum jedes Filmemachers und wir sind nach wie vor in gutem Kontakt mit ihnen. Das ist der Idealfall, wenn man für einen Kurzfilm begeisterungsfähige, lustige DarstellerInnen findet, die Spaß an ihrer Rolle haben und das Skript mögen. Ein Film steht und fällt mit der Besetzung. Wir haben Große Kunst auch nur an einem Wochenende in München gedreht, das heißt der zeitliche und monetäre Aufwand hielt sich zum Glück in Grenzen.

Wie habt Ihr die Schauspieler gefunden?
Wir haben über Crew United und Cast Forward Annoncen aufgegeben, die das jeweilige Rollenprofil und das Projekt beschrieben haben. Wir hatten tatsächlich auch insgesamt über 50 Bewerbungen für die sechs Rollen. Ich habe mit recht vielen gezoomt und es waren einige gute DarstellerInnen dabei. Wir haben aber nach richtigen Charakterköpfen gesucht, die obendrein noch eine Begabung im komischen Spiel haben. Da haben sich dann bald unsere Favoriten herauskristallisiert, die sich sofort in ihre Rollen hineingedacht haben. Marion Elskis zum Beispiel, die eine erfahrene Film- und Theaterdarstellerin ist, hat mich bei unserem ersten Zoom-Gespräch gleich mit einer aufgemalten Monobraue begrüßt, ganz ihrer exaltierten Figur entsprechend. Jürgen Höfle, der auch im echten Leben Künstler ist, empfing mich schon ganz im Malerlook mit roter Schiebermütze und Ralf Legat hatte auch gleich Ideen, wie das Kostümbild seiner Figur seiner Vorstellung nach auszusehen hätte. Michael Jamak, der eine Schlüsselrolle im Film hat, hatte sogar eine Idee für das Ende, die seiner Meinung nach mehr zu der Psychologie seiner egomanischen Figur passen würde. Wir haben schließlich tatsächlich die leicht veränderte Version des Endes im Film verwendet. Auch Jessica Cecilia de Jong und Hanna Decker haben ihre Rollen gut ausgefüllt und den Cast mit ihrem jeweiligen Naturell ideal ergänzt. Große Kunst ist letzten Endes – wenn auch im kleinen Stil – ein Ensemblefilm.

Was gibt es von der Festivalfront zu berichten?
Philip und ich sind mit Große Kunst erst so richtig in die Welt der Filmfestivals hineingewachsen. Wir haben den Kurzfilm bei vielen Festivals eingereicht, und als wir dann das erste Mal für eine Kategorie nominiert wurden, waren wir beide richtig aus dem Häuschen. Wir haben nun insgesamt bei neun Festivals in der Kategorie „Beste Komödie“ gewonnen, wurden bei einigen nominiert und sind bei einigen abgelehnt worden. Insgesamt ist das ein Erfolg, der uns als Filmemacher weiter anspornt, den wir aber auch nicht überbewerten. Es gibt enorme Qualitätsunterschiede bei Film Festivals. Als wir beim Best Istanbul Film Festival gewonnen haben, dachten meine Eltern erst, wir würden jetzt nach Istanbul geflogen werden, um bei der Preisverleihung live den goldenen Award entgegenzunehmen. Die traurige Realität war dann, dass wir ihn hätten kaufen müssen, nachdem wir ihn schon gewonnen hatten. Wir hätten dann auch die Versandkosten selbst zahlen müssen, um ihn in Händen halten zu können. Andererseits gibt es auch sehr schöne Wettbewerbe wie das Europäische Filmfestival Göttingen, wo unser Film ebenfalls lief. Da wurde uns zum Teil die Hinfahrt finanziert, das Hotel plus Frühstück und wir wurden auf sehr liebenswürdige, familiäre Weise in die gesamte Veranstaltung mit eingebunden. Das war ein großartiges Erlebnis und ein perfektes Setting, um einen eigenen Film das erste Mal auf der Kinoleinwand sehen zu können – ein magischer Moment für uns.
Bei den Vienna International Film Awards haben wir – obwohl wir Finalisten waren – die Veranstaltung wiederum vorzeitig verlassen, weil alles so scheiße war. Jede Kategorie hatte drei Stunden Verzögerung, Essen und Drinks waren sehr teuer und die ModeratorInnen waren bemerkenswert unlustig und langweilig. Der Abend hat sich wahnsinnig gezogen und wurde gleichzeitig inszeniert, als wären wir bei der jährlichen Oscarverleihung. Da sind wir wieder bei der Diskrepanz zwischen Schein und Sein.

Gibt es neue Projekte?
Wir haben am 04. März die Premiere unseres mit Abstand größten Projekts gefeiert: Ihr Letzter Coup. Ein fast 60-minütiger Heist-Thriller. Daran haben wir ein halbes Jahr gearbeitet. Den Film haben wir mit einer Crowd Funding Kampagne und einer gehörigen Portion Eigenkapital finanziert. Ich denke, neben unserem hohen künstlerischen und technischen Anspruch bei dem Projekt ist unsere größte Leistung einfach, dass wir den Film gemeinsam grundsätzlich zustande gebracht haben. Ich lehne mich nicht mal allzu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte es ist leichter, einen zweistündigen Spielfilm mit Produktionsfirma, Fördergeldern und einem großen Team zu drehen, als einen 60-Minüter zu zweit als Hauptverantwortliche mit einem sehr kleinen Team. Wir haben uns beide um die gesamte Organisation, das Casting, Location Scouting, die Finanzierung, die Verträge, Postproduktion die Vermarktung, Promo etc. gekümmert. Philip hat als Director of Photography außerdem die Kameraarbeit übernommen, ich die Regie und das Schreiben des Drehbuchs. Wir haben gegen so viele Widerstände ankämpfen müssen und sind ein so hohes finanzielles Risiko eingegangen, dass ich uns beide nun ohne Scham als Filmproduzenten bezeichnen kann. Manche Produzenten, die Absolventen einer Filmhochschule sind, mögen sich jetzt an den Kopf langen, aber das kümmert mich nicht. Wir sind mit der Produktion von Ihr Letzter Coup durch eine besonders harte Schule gegangen, dass ich uns einen abendfüllenden Spielfilm genauso zutraue. Der wird auch kommen. Jetzt gönnen wir uns aber beide erstmal Erholung nach dem ganzen Stress.

Türchen, Türchen

Türchen, Türchen öffne Dich, wer ist die Schönste im ganzen Land, oh, nein, falsche Baustelle, es ist Advent, in jedem Fenster ein Kerzlein brennt, Zeit für Adventskalender, Zeit für tägliche Überraschungen und es herrscht Kinoverbot im Lande. 

Aber das Kino lässt sich nicht unterkriegen, aus allen möglichen Spalten und Netztteilen lugt es heraus, spricht uns an. X-Filme hat seit erstem Dezember den Adventskalender 2020 hamlet_X von Herbert Fritsch online.

Herbert Fritsch persönlich, ein sympathischer, älterer Herr, hat die erste Kerze in einem kleinen Video angezündet. 

Egal, ob man die Aktivitäten von Herbert Fritsch kennt oder nicht. Er hat sei Januar 2001 Kurzszenen inszeniert und verfilmt in einer „smarten Kreuzung zwischen Monumentalfilm in gigantischer Besetzung und Low-Budget-Projekt“ (aus dem Werbetext von X_Film). 

Der Geist Hamlets habe sich in die Filme reingeschlichen. Jeden Tag gibt es einen neuen Clip. 

Am zweiten Dezember kämpft Christoph Schlingensief sich ab in einem Parforceritt zwischen Gynäkologen-Besteck, Ophelia und Hamlet. 

Vielleicht könnte man die Methode des Herangehens an so einen klassischen Stoff mit Destruktion im Sinne eine Neukomposition beschreiben, um die Kunst vorm Risiko des Ausleierns und des Erstarrens im Gebetsmühlenhaften zu bewahren.

Die Reihe der Filme von Herbert Fritsch sei noch nicht abgeschlossen. Aber die kurzen, anregenden, vielleicht auch verstörenden, manchmal womöglich auf Anhieb nicht gleich entzifferbaren Einblicke durch die Türchen des Adventskalenders dürfte mit Heilig Abend vorerst zu Ende sein. Dann fangen die Tage wieder an, länger zu werden. 

Ganze Tage Zusammen (MUBI)

Mamre-Patmos-Schule.

Wenn auch nicht als solches deklariert, ist dieser Kurzfilm von Louise Donschen, den MUBI als Gratis-Werbezückerchen verschenken lässt, ein Porträt der Mamre Patmos-Schule, einer Förderschule der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. 

Weit entfernt von einem Werbespot der üblichen Sorte, bedient die Filmemacherin sich filmischer Mittel im Grenzbereich zur bildenden Kunst. 

Die Einzelimpressionen, die ein wundersames Gesamtbild der Institution abgeben, könnten genauso gut für sich als Video-Ausstellungstücke in einer Galerie gezeigt werden. Sie beobachten Protagonisten bei individuellen Tätigkeiten, vom Nähen über eine ärztliche Augenuntersuchung, beim Schälen eines Granatapfels bis zum spaßigen sich an das Lenkrad eines Busses setzen oder Schlagzeugspielen, neben einem Haus auf einer Bank sitzen oder lässig die Beine baumeln lassen am Bach, vom Schwimmen in Schwerelosigkeit aber auch eine Szene mit einer Archivarin, die auf Bilder aus einer anderen Zeit verweist, ganz dezent. 

Die Porträts setzen sich wie Puzzles zusammen aus mit Bedacht herausgepickten Details von den Protagonisten selbst als auch aus ihrer signifikanten Umgebung, die einer ruhigen Betrachtung wert sind und ihr standhalten, denn die Bezüge, die sie herstellen, wirken nicht beliebig, sondern relevant.

Drei Kurzfilmpreziosen aus bayerischen Landen

Zu kulturell-demokratisch düsteren Coronazeiten mit Kinoverbot passen ganz gut düstere Erzählungen aus dem Bayerischen Wald, von lange her oder neuere. 

Philipp Wagner aus Passau hat eine Trilogie solcher Geschichten nicht ohne Schalk im Nacken verfilmt und im Internet der Öffentlichkeit zugänglich gemacht – wobei deutsche oder gar englische Untertitel für Anklicker aus der weiteren Umgebung hilfreich wären. Die Filme sind jedoch angenehm dialogarm und die wunderbare niederbayerische Erzählstimme bildet eine tragende Klangwolke wie aus dunklen Tiefen. 

ARME SEELE gleich Fegefeuer. Arme Seelen sind Wiedergänger, die in den Rauhnächten zurückkehren als Erlöser vom Leiden.

Die Idee für FINSTERE AU enststammt Johann Dachs‘ „Wahre Geschichten von Wilderei und Fürstenmord“, eine Wilderergeschichte. 

S‘ LICHTL ist ein Vorkommnis „nach einer wahren Begebenheit“ aus dem Buch „wenn’s weihrazt“ von Karlz-Heinz Reimeier. 

Protagonisten sind Barbara Dorsch (demnächst mit einem Gastauftritt im heiß erwarteten „Kaiserschmarrndrama“), Klaus Stiglmeier, Veronika-Marie von Quast, Johannes Weikl, Vanessa Calvano und Eva Wagner. 

Oscar Shorts 2020

über OSCAR SHORTS 2020

Abwechslung für den Kinogänger

In ausgewählten Kinos werden ab heute die dieses Jahr für den Oscar nominierten Kurzfilme in zwei Kategorien gezeigt, fiktionale und Animationsfilme. 

Fiktion

Um schwesterliche Nähe geht es in EINE SCHWESTER von Delphine Gerard. Eine nächtliche Autofahrt und ein Telephonat mit der Notrufzentrale werfen einen surrealen Blick auf disparate menschliche Verhältnisse. Flucht schafft besondere Nähe bei Meryam Joobeurs Film BRUDERSCHAFT. Nebst einem markanten Cast wird auch das Thema IS virulent. 

Aus nachbarschaftlicher Nähe zieht Marshall Curry in DAS FENSTER DER NACHBARN beinah so viel Spannung wie Hitchock in seinem „Fenster zum Hof“, wobei es doch um viele banalere Dinge bei einem Paar und einer Familie geht. Knast schafft besondere Nähe unter den Mädels im Frauenknast in Guatemala. Brian Buckley nutzt in SARIA einen realen Ausbruchsversuch in Guatemala von 2017 um zu zeigen, wie aufregend er so eine Geschichte erzählen kann, ohne das zarte Pflänzchen Liebe zu übersehen. 

Beim fünften und letzten Kurzfilmoscarkandidaten FUSSBALLCLUB NEFTA von Yves Piat darf herzhaft gelacht werden über eine Gaunerkomödie, die im Grenzgebiet von Tunesien und Algerien angesiedelt ist und in der ein Esel gerne „Adel“ hört. 

Animation

An der Oberfläche des Kopfes, bei den Haaren, bei einem Wust von Haaren eines kleinen Mädchens, bleiben die Regisseure Matthew A Cherry, Everett Downing Jr. und Bruce W. Smith nach dem Drehbuch von Matthew A. Cherry hängen und schauen in HAIR LOVE, was sich damit so animieren lässt, nicht ohne Niedlichkeitsfaktor. In bester tschechischer Puppenanimationstradition mit hochkünstlerischen Figuren (Pappmaché oder Ähnliches) in poetisch einfachen Interieurs lässt Daria Kashcheeva in DAUGHTER ein Mädchen Metamorphosen durchleben (der Vogel, der ins Fenster fliegt) und Erfahrungen mit dem Alleinsein, dem Tod, dem Verlassenwerden machen. 

Siqui Song erinnert in SISTER an Chinas Einkindpolitik von 1980 – 2015 und erfindet sich mit seiner amerikanisch-chinesischen Stoffpuppenanimation die vier Jahre jüngere Schwester selber, die er nie hatte – aber sie hätten sich wohl auch viel gestritten. 

Mit den Auswüchsen einer Ehe als absurd-groteskem Puppenbühnentheater MEMORABLE bewirbt Bruno Collet aus Frankreich sich um den Kurzfilm-Oscar; ob das Gremium genügend Fantasie zum Schätzen eines solchen Animationsjuwels hat? 

Rosana Sullivan zeichnet in KITBULL die Rühr-Geschichte von einem kleinen schwarzen Kätzchen und einem weißen, furchterregenden Pitbull, die sich anfangs in einem menschlichen Hinterhof gar nicht grün sind. 

Ein verwachsener Rücken und rote Haare sind Handicap und Antrieb zugleich für HENRIETTA BULKOWSKI; Rachel Johnson lässt sie als bezaubernd animierte Puppe ein verwegenes Ziel in malerischer Müllhalde fassen und eine andere einsame Seele finden. 

Carol Freeman schmeichelt dem Auge mit der aquarellhaften Meeres-Abenteuer-Animation THE BIRD AND THE WHALE, die von einem Wal und einem goldenen Vogel in einem Käfig erzählt. 

Zum Abschluss unterhalten Loris Cavalie, Camille Jalabert, Oscar Malet und Léo Brunel in HORS PISTE mit einer quietschbunten, nichtsdestotrotz schwarzhumorigen Skirettungs-Actionanimation, die erheblich am Sicherheitsdenken nagt. Die Zugabe stammt von Illogic mit der tierweltanimierten Opernchorparodie MAESTRO. 

Pantallalatina in St. Gallen – Schweiz (Mittwoch, 21. November – Sonntag, 25. November 2018)

Klein aber oho!

Am Mittwoch eröffnet zum 10. Mal das Filmfestival Pantallalatina in St. Gallen, dem einladenden Universitätsort in der Schweiz. Eines der charmantesten Filmfestivals.

Die Filme
MI OBRA MAESTRA
Argentinien.
Kunsthändler und Maler im kreativen Clinch.

CONDUCTA
Kuba.
Elfjähriger muss ganze Familie versorgen.

LA JAULA DE ORO
Mexiko.
Der Traum von Amerika und die Realität für drei Teens.

LIQUID TRUTH
Brasilien.
Wie flüchtig die Wahrheit in Zeiten moderner Kommunikationsmittel ist – am Beispiel erfundenen Missbrauchs.

EL SILENCIO DEL VIENTO
Puerto Rico / Dominikanische Republik.
Schlepperdrama.

RELATOS SALVAJES
Argentinien.
Episodenfilm zum Thema Revenge.

IXCANUL
Guatemala.
Fluchtträume einer 17-Jährigen.

TEATRO DE GUERRA
Argentinien.
Falklandkriegsaufarbeitungs-Doku.

UNA MUJER FANTASTICA
Chile.
Großartiges Frauenporträt,
siehe Review von stefe

ANINA
Uruguay/Kolumbien.
Nomen-Omen-Palindrom-Animation.

EL LUGAR MAS PEQUENO
Mexiko.
Erinnerungsdoku.

EL ABRAZO DE LA SERPIENTE
Kolumbien.
Einzigartige Ethnoreise den Amazonas hinauf,
siehe Review von stefe

LAS HEREDERAS
Paraguay/Uruguay/Brasilien.
Schicksalskampf. Preisgekrönt auf der Berlinale.
Siehe auch die Review von stefe.

COMPRAME UN REVOLVER
Mexiko/Kolumbien.
Mädchen muss sich in korruptem Drogenmilieu durchsetzen.

NO
Chile.
Spannendes Historiendrama. Über die Kampagne gegen die Pinochet-Wahl.
Siehe Review von stefe

KURZFILMBLOCK I
Kurzfilme aus Peru, Argentinien, der Dominikanischen Republik, Mexiko, Kolumbien, Panama
zu den Themen: Transgender und Selbstverteidigung, das Geheimnis einer 60-jährigen Ehe, ein Doppelleben, Road-Trip gegen Beziehungskrise, ein Vater im Gefängnis, Präsidentschaftswahlrhethorik in Panama, Miniatur von einem Mann vor dem Nachtessen.

KURZFILMBLOCK II
Kurzfilme aus Argentinien, Brasilien, Chile, Guatemala, Mexiko, Kolumbien
zu den Themen: Beziehungsende, Dichterwunsch, Lynchmob, Zwang zu frühem Erwachsenwerden, Evolutionsfantasie, auf sich selbst gestellter Bub.

KURZFILMBLOCK III
Kuba, Argentinien, Guatemala, Brasilien, Chile, Mexiko
zu den Themen: Tattoo und Revolution, Ruhmgier, Kinderkampf unter Indigenen, Essay zu einer Sportübetragung, Belästigung am Arbeitsplatz, unerwünschte Schwangerschaft.

Die Kurzfilme setzen sich einem Publikumswettbewerb aus mit einem Preis für den Gewinnerfilm und einem ausgelosten Preis für das Publikum.
Außerdem bietet das Festival ein ansprechendes Rahmenprogramm.
Mehr und Details unter Pantallalatina.

Pantalla Latina 2017, St. Gallen, die Kurzfilme

Hier sind die Links zu den Reviews der Filme aus dem Kurzfilmwettbewerb an der Pantalla Latina in St. Gallen.
Das Publikum hat Corp zum Sieger gekürt.

A
Wer oft A sagt, kommt nicht immer dazu, B zu sagen.

AL SILENCIO
Ein Mann geht seinen Weg. Er trägt eine Last.

CON SANA ALEGRIA
Pflege der Oma muss in Kuba die Lebensfreude nicht dämpfen.

CORP
Eigenes Fenster schützt nicht vor der Maschinerei des Geldverdienens.

ENCARNACION
Postmassacker-Ttraumatisierung eines Täters.

GENARO
Genaro liefert die Leichen von Opfern der Paramilitärs den Hinterbliebenen aus.

LUPUS
Die Haut der Erde, die Haut des Menschen und der Wolf im Hund.

LOS AERONAUTAS
Überleben und sich verteidigen in arider Animationsgegend.

ONION
Die Zwiebel ist das neue Om.

PARTIR
Ein langer Weg zu einem kurzen Blick.

PEQUENO MANIFIESTO CONTRA EL CINE SOLEMNE
In die Quatschmaschine mit den eheren Regeln des Filmemachens.

REO
Schweirig, sich nach dem Knast in einer fremden Welt sich zurechtzufinden.

TODOS BAILABAN
Mobbing kann einen wahren Tänzer nicht umwerfen.

VERDE
Die Blase, in der Security-Personal von Realitätsschwund heimgesucht wird.

Verde (Kurzfilm, Pantalla Latina)

Die erklärte Intention des Filmemachers Alonso Ruiz Palacios ist laut Festivalpräsentation das Porträt von Ariel.

Ariel ist ein Geldtransportfahrer, seine Frau ist schwanger.

Während seine Kollegen den gepanzerten Geldtransporter zur Ausführung eines Auftrags verlassen, studiert Ariel hinterm Steuer Ultraschallbilder seines ungeborenen Kindes. Ein Systemausfall lässt ihn die Möglichkeit eines Geldraubes erwägen.

Faktisch jedoch schildert Palacios gänsehauterregend die Blase, in die solche Security-Leute hineinsinken, die Isolation, die sie in ihrer Waffen- und Panzerwagenwelt weltfremd und wirklichkeitsabgehoben inhuman werden lässt, den über sie hereinbrechenden Realitätsverlust, der zu fürchterlichen Exzessen in undemokratischen Systemen führen kann und auch in Lateinamerika vielfach geführt hat; da zeugen nicht zuletzt die vielen Aufarbeitungsfilme davon. Insofern kann dieser Film als ein Mosaikstein im wichtigen Genre der Diktaturaufarbeitungsfilme gesehen werden.

Todos Bailaban (Kurzfilm, Pantalla Latina)

Ein Plakativ- oder Appellativfilm zum Thema Mobbing von Jurek Jablonicky Pineda aus Honduras.

Fernando (Cristhian Lazo) ist ein wunderbar tänzerischer junger Mann. Mit der fließender Bewegung eines schnellen Ganges saugt er sich gleich in das Auge des Betrachters. Er trabt lange in harmonisch-leichten Bewegungen auf dem Weg zur Schule.

Kurz davor setzt er sich und tauscht sein Tanz-Schuhwerk gegen gewöhnliche Straßenschuhe, wie sie zu seiner Schuluniform passen. Er nähert sich dem Eingang.

Von den Mitschülern wird er sofort und unisono gemobbt, mit blöden Sprüchen überzogen. Klar, wer Tänzer ist, ist sowieso eine Schwuchtel.

Das Einzige, was der Lehrer tun kann, ist, ihm zu raten, sich zu wehren.

In kinostenographischer Kurzschrift schneidet Pineda jetzt, wenn es der Lehrer schon nicht richten kann, ausgestellte Mobbingszenen mit vollkommenen, in sich gekehrten Tanzszenen von Fernando in der Turnhalle in betörendem, leicht nebeligem Gegenlicht. Tanzzauber gegen Mobber.

Reo (Kurzfilm, Pantalla Latina)

Resozialisierung?

Nach einem längeren Gefängnisaufenthalt in der bürgerlichen Welt wieder an- und unterzukommen ist ein schwierig Ding.

Nicht leichter wird es, wenn man darnach als Tagelöhner versucht, sich durchzuschlagen.

Und auch nicht leichter wird es, wenn Manuel, der in diesem Film von Mauricio Corco Espinoza aus Chile die Hauptrolle spielt, bei einem Stricher unterkommt.

Und auch nicht leichter ist es, wenn so einer nach seiner ihm kaum bekannten Tochter sucht, die auch schon 27 Jahre alt ist und ein Kind hat.