Hm, interessant, pflegen höfliche Menschen zu sagen, wenn ihnen ein Gericht völlig unbekannter Provenienz und Zusammensetzung gereicht wird und dann würden sie vielleicht versuchen, bekannte Zutaten herauszulesen oder auf Ähnliches sich zu beziehen. In etwa so ergeht es mir mit diesem Film.
Hm, interessant, was da so alles drin steckt.
Die Story ist eine simple: einer Kannibalenfamilie in Mexico-City stirbt der Vater, der für die Besorgung der Fleischspeisen zuständig war. (Die Opfer wurden jeweils in einem „Ritual“ ausgenommen). Die Restfamilie aus Mutter, den erwachsenen Söhnen Alfredo und Julian und der erwachsenen Tochter Sabina steht nun vor dem Problem, wie an die Menschen kommen, die für das „Ritual“ benötigt werden. Das könnte den Stoff abgeben für einen kracherten Genre-Streifen mit viel Lärm und Schreien und Close-Ups von Eingeweiden und viel, viel Ketchup oder Blutersatz.
Nicht so bei Jorge Michael Grau. Er liefert, was ungewöhnlich ist, einen ausserordentlich dezenten Streifen. Wenns richtig blutig wird, zieht die Kamera es vor, sich über eine Tischkante zurückzuziehen oder sich hinter einem Plastikvorhang, der die Vorgänge dahinter nur schemenhaft erscheinen lässt, in eine distanzierte Position zu begeben.
Wenn andere Filme mit donnernder, greller Musik die Tonspur überspülten, dann lässt er nobel Jazzer mit einem Schuss Ironie improvisieren.
Überhaupt ist der Film sehr leise, ein klingelndes Handy im Kino kann sehr störend wirken.
Die Farben sind verhalten, knalliges Uni kommt nicht vor, ein Filter dürfte die grellen Grundfarben rausgenommen haben, trotzdem kommt kein Nazigrau zustande.
Überhaupt liebt Grau die diskreten Aufnahmewinkel. So führt er die bald schon tote Hauptfigur, den Vater in einem modernen Einkaufszentrum ein, die Kamera hat sich unauffällig hinter durchsichtigen Abdeckungen einer Rolltreppe positioniert und sieht nun den tapsenden Alten, der auf eine Schaufensterscheibe mit Schaufensterpuppen zuschrittelt, die Hände voran, als wolle er sie begrabschen, aber das Glas ist dazwischen und bald schon ein Mitarbeiter des Geschäftes. Der Alte macht sich davon, es geht ihm nicht gut, er verliert Blut, bald schon geht er auf allen Vieren, bricht zusammen.
Er liegt tot auf dem Seziertisch, ein Bestatter ist dabei die Lippen zusammenzunähen, er schminkt das Gesicht, ist stolz darauf, wie lebensnah er den Typen wieder hingekriegt hat, aber der Zivilbeamte neben ihm nimmt die Freude, der Typ werde nämlich verbrannt. Enttäuschung beim begeisterten Bestatter.
Die beiden Söhne des Toten, Alfredo und Julian verkaufen auf einem Markt Trödel, alte Uhren, ein Kunde möchte seine reparierte Golduhr zurück, der Marktbesitzer mahnt die ausstehende Miete an, der Vater würde bald bezahlen, der sei halt gerade nicht da; sie werden vom Markt gejagt.
Ihr Zuhause ist eine Mischung aus Wohnzimmer, Küche, Uhrreparaturwerkstatt, Lagerräumen und –Fluren vollgestellt mit Kartons und Behältnissen, einer Art Seziertisch zum Ausweiden der Menschenopfer und einem Plastikvorhang drum herum, also man kriegt da keinen Grundriss mit, die Wohnung wird nach und nach und je nach Bedarf durch die Geschichte aufgedröselt.
Die beiden Jungs kommen erfolglos nach Hause. Mutter scheisst sie zusammen. Eine ganz eigene Figur, diese Mutter, nur darauf aus, die Familie am Funktionieren zu halten, wie ein Besen nur darauf aus ist, den Boden sauber zu halten. Ihr gelten die alten Machtstrukturen, da ist kein Platz zum Atmen, kein Platz für Glück, kein Platz für Erholung, kein Platz für Beeindruckung, für Empfindung. Die alte Machthierarchie muss erhalten bleiben. Sie ist strikt dagegen, dass Alfredo jetzt die Position des Familienoberhauptes einnimmt. Das ist aber wichtig für das „Ritual“. Sie traut den Buben nicht zu, Opfer zu beschaffen.
Erst muss jedoch die Todesnachricht die Familie erreichen. Die kommt von Sabina, die es gehört hat vom Leichenschauhaus und dass einer dort, wo die Puppen ausgestellt seien, wo ihr Vater immer war, zusammengebrochen und gestorben sei.
(Info aus dem Leichenschauhaus: der Typ ist an Vergiftung gestorben, er hatte einen ganzen menschlichen Finger im Magen, das ist ungewöhnlich; für die schlichten Kripobeamten wäre es die Chance, den Menschenfressern auf die Spur zu kommen).
Wie die Nachricht die Familie erreicht, ganz ruhig, wie nebensächlich in den Streit zwischen Mutter und den Söhnen, gibt es einen langen inneren Monolog der Beteiligten, keiner weiss so recht was machen.
Die Mutter beschreibt die Fähigkeiten von Alfredo, dem Älteren, dem Einfühlsameren, dem Fähigeren, der sei für das Ritual geeignet; das Ritual erfordert Fähigkeiten, doch der Jüngere, der ist ungeschickt und gewalttätig. Schöne Differenzierungen innerhalb von Menschenfressers, schöne Bebilderung zum Satz vom Menschen, der dem Menschen ein Wolf sei.
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Die Jungs schauen immer ernst, schuldbewusst, besonders wie sie das erste Opfer suchen, es soll eine Nutte sein. Und wirklich ist der Jüngere ungeschickt darin, sie niederzuhauen und dann ins Auto zu zerren und vorm Chor der Nutten, die wie ein Opernchor arrangiert sind, nimmt er Reißaus.
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Die Mutter flippt aus; die Jungs bringen die vestümmelte Nutte wieder zurück.
Alfredo sitzt im Bus, es gibt eine opernhafte Überblendung von einer schönen Frauenstimme, die ein Lied singt, ein bekanntes, welches von gebrochenen Seelen handelt, dann geht die Stimme über in die einer Sängerin in der U-Bahn, Alfredo hat den Bus inzwischen verlassen und diese Sängerin drückt ihm einen Zettel in die Hand, estas vivo steht drauf, das elektrisiert ihn und er rennt zurück in die Disco, in der er vorher war.
Alfredo versucht dann einen Schwulen zu ködern und ihn als Opfer nach Hause zu bringen. Dazu wird ausführlich die Undergroundwelt dieses Schwulenlokals geschildert. – Er bringt einen Typen mit nach Hause. Aber die Familie, die will doch keine Schwuchteln essen. Alfredo aber besteht darauf, dass gegessen werde, was auf den Tisch kommt.
Im Krimistrang der Geschichte rückt die Polizei der Menschenfresserfamilie immer näher auf den Pelz, dazu beigetragen hatte die „Schwuchtel“, die entkommen konnte. Aber ein Opfer findet sich dann doch noch, so dass auch der Film die Möglichkeit erhält, ein „Ritual“ zu zeigen, was dann auch wunderbar diskret und küsntlerisch und richtig schön mit Kerzen rundherum gezeigt wird. Ob das was für europäische Gourmets ist?
Einen inspirierenden Inpuls zu Betrachtung und Verständnis dieses Filmes könnte vielleicht ein Seitenblick auf die mexikanischen Murales, die Wandmalereien an öffentlichen Gebäuden, zum Beispiel der Universität in Mexiko City geben.
Hm, interessant, pflegen höfliche Menschen zu sagen, wenn ihnen ein Gericht völlig unbekannter Provenienz und Zusammensetzung gereicht wird und dann würden sie vielleicht versuchen, bekannte Zutaten herauszulesen oder auf Ähnliches...