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Helden des Polarkreises

Janne ist vielleicht ein lakonischer Finne, aber nicht unbedingt erfolgreich in den kapitalistischen Tugenden der Geldbeschaffung. Das nervt seine Freundin Inari ziemlich. Und weil ab morgen die Fernsehsendetechnik umgestellt wird, die beiden wohnen weit abgelegen im Hohen Norden 200 Kilometer von der nächsten größeren Stadt Roveniemi entfernt, soll Janne wenigstens bis dahin einen Digitalempfänger beschaffen. Wie es in seiner Natur liegt, sie gibt ihm 50 Euro, begibt er sich ins Dorf, trifft dort zufällig Kumpels, hat, bis er beim Laden erscheint, bereits zwei Euro ausgegeben, und der Ladenbesitzer ist stur, hat gerade geschloßen und ist partout nicht bereit, einen Preisnachlass zu gewähren. Er soll Montag wieder kommen. Jetzt reicht es Inari, wie er ohne Geld und Receiver nach Hause kommt, sie stellt ihn vor die Wahl: bis morgen früh um neun einen Digitalempfänger zu beschaffen oder sie wird ihn verlassen.

Das ist die Ausgangslage für das nun folgende, ziemlich verrückte, aber überhaupt nicht überdrehte Roadmovie von Janne, der mit den Kumpels Kapu und Tapiu losfährt, um erstens bei finnischer Winternacht und minus 15 Grad das Geld für den Receiver zu verdienen und auch noch ins 200 Kilometer entfernte Roveniemi zu fahren, denn sein Schwiegervater, der betreibt dort einen Laden.

Eingerahmt wird die Geschichte in eine kleine Landschaftsbeschreibung von einem einsamen Berg in Finnland, mit einem großen, stämmigem Baum drauf. Dieser hat den Erzähler unserer Geschichte in der Schule zu einem außergewöhnlichen Aufsatz veranlasst. Er war der Meinung, an diesem Baum hänge ein Strick, und dann zählt er auf, wer sich da schon und warum aufgehängt hat. Die Schlusspointe dieses insgesamt leichten und heiteren Films, die spielt dann wieder auf dem einsamen Berg.

Roadmovies sind an sich ein einfach herzustellendes und zu konsumierendes Genre. Sie sind gradlinig. Die Figuren haben ein Ziel. Es besteht die Möglichkeit ganz nebenbei einige Eigenarten oder typische Vorkommnisse (oder auch untypische) zu erzählen. Hier dürften es eher typische, wenn nicht gar stereotype Dinge sein, der überfahrene Elch und der damit verbundene Kontakt mit den reichen Russen, die schon sehr satirisch, aber durchaus differenziert geschildert werden; der Ex-Macker von Inari, ausgerechnet bei ihm wollen sie Benzin pumpen (im doppelten Sinne), der eine ganz gerdeheraus aber auch sehr eindimensionale Figur ist, der ein nicht näher definiertes  Safari-Mix-Unternehmen betreibt, sich sehr erfolgreich gibt: wo er wieder den Whyski her habe, aus Irland und dass er eine Putzfrau hat, Typ neureich, kapitalistisch und erfolgreich, genau der Gegenmodell zu Janne; dann das Luxusressort mit finnischer Sauna und Eisbaden und einem aufgeregten Haufen Bikini-Blondinen. Mehr Klischee geht auf so wenig Platz nicht. Kapu gerät hier in Wallungen, erkennt er doch die sexy Spielautomatenschönheit, die bei Level 11 nackt zu sehen gewesen wäre, aber genau den Level hat er nie erreicht.

Einziger Grund, Anlass und Ziel für dieses Roadmovies ist übrigens, dass Janne mit Inari am nächsten Tag „Titanic“ gucken will; nur deshalb braucht sie den Receiver so dringend.

Das Trio sind drei wunderbar lakonische Typen, und der Regisseur stellt sie gern Gegentypen gegenüber, einmal drei aufgebretzelten, mit Muskeln und großer Röhre ausgestatteten Mackern, die sie gleich anmachen; oder dann eben den Russen oder den Blondinen. Oder auch Pikku-Mikku.

Eher ein Movie für Nordic-Fans. Deshalb schwer verständlich, warum der Verleih sich für eine Synchronisation entschieden hat, die noch dazu lieblos-routiniert runtergespult wurde. Glauben die wirklich, die könnten dadurch den Wirkungskreis dieses Filmes vergrößern? Eher nicht, denn die wahren Finnlandfans, deren Zahl gewiss von Marktüberlegungen her nicht allzu groß sein dürfte, die dürften kaum an einer die Filmqualität mindernden deutschen Nachsynchronisation interessiert sein. Das wage ich zu behaupten, wenn ich auf den sehr bewussten Umgang mit dem Sound-Teppich, mit der Tonspur, die original gebliebene achte, die mit sensiblem Ohr ausgewählt, sehr bewusst, mei, was die allein, wenn das Trio wieder die Straße unter die Räder nimmt, für einen Klangteppich ausbreiten, einmalig! Und dann so eine austauschbare deutsche Synchronisation. Da dürften sich die Verleiher selber ins Fleisch geschnitten haben. Untertitelung wäre billiger und schonender gewesen und hätte mehr Publikum gebracht, soviel gilt für mich als ausgemacht.

Die Regie führte Dome Karukoski nach einem Buch von Pekko Pesonen.

Das System – Alles verstehen heißt alles verzeihen

Filmisch fängt es spannend an, ganz geheimnisvoll, zwei Jungs probieren einen Bruch in eine Villa, erst beobachten sie, wie das Licht offenbar mit Zeituhr gesteuert an- und ausgeht, was darauf schließen lässt, dass niemand zuhause ist. Ganz gedeckt unterhalten sich die beiden über diesen Sachverhalt. Dann pirschen sie sich über eine Hecke und den Garten an eine Tür ran. Die ist mit einem Bohrer, der etwas zu laut ist, schnell geöffnet. Sie dringen ein, bedienen sich an den Besitztümern, freuen sich über den ihnen zufallenden Reichtum. Da erscheint der Hausherr und die beiden hauen ab. Man sieht das Gesicht des Hausherrn allerdings nur kurz.

Einer der Jungs war Mike. Der wird tags drauf von Konrad Böhm in einer schwarzen Limousine verfolgt. Nun fragt man sich, ist dieser Konrad Böhm derselbe, den man abends zuvor ganz kurz im Morgenmantel in der Villa hat auftauchen und die Jungs in die Flucht schlagen sehen? Mike jedenfalls versucht in einen Hof zu fliehen, aber das Auto fährt um den Block herum und verstellt ihm den Weg. Wer ist Böhm und wieso macht er das? Ein Einführungsproblem einer der wichtigsten Figuren in diesem Film.

Wer ist Böhm? Und wie ist er auf Mike aufmerksam geworden? Jedenfalls will er ihn aus seinem Kleindiebleben in Rostock herausholen, das ist der Ort wo dieser Film, der möglicherweise ein Vatersuchefilm wird, spielt. Mike wohnt bei seiner Mutter, einer Frau, die in einer Betriebsküche arbeitet und davon träumt, einen eigenen kleinen Laden aufzumachen, aber es fehlt dazu noch ein Bankkredit. Böhm jedenfalls nimmt Mike unter seine Fittiche. Böhm scheint involviert in den Bau der Ostseepipeline. Als erstes besorgt er für Mike einen Anzug. Mike zieht ihn sich auf der Seepromenande an. Nach und nach kommt Mike hinter die Vergangenheit von Böhm, auch dessen Verhältnis zu seiner Mutter; der leibliche Vater ist unter ungeklärten Umständen zu DDR-Zeiten bei einer Schiffahrt verunglückt; das dicke Freundschaftsverhältnis zwischen Böhm und seinem Vater, aber auch, dass die alle drei für die Stasi gearbeitet haben; Mike entdeckt ein Stasi-Archiv in einem als Datsche getarnten Bunker, wo er viel aufschlussreiches Material über seinen Vater vermutet. Das wird im Film nicht weniger kompliziert exponiert, als hier nachzuererzählen versucht wird.

Die im Film vorkommenden Fakten und Dokumente, die alle, wie bereits im Vorspann erwähnt, reine Fiktion seien, die mit der Realität nichts und rein gar nichts zu tun habe, ergeben eine reiche Materialiensammlung. Die zu einer spannenden Geschichte aufzubereiten scheint mir den Autorinnen Dörte Franke und Khyana El Bitar vom Kinostandpunkt aus gesehen nicht so recht gelungen zu sein. Gerade die Unklarheit am Anfang, wie Böhm auf Mike gestossen ist, ist recht verwirrend. Und dass man so gar nicht weiß, mit wem man es zu tun hat. Dann ist die Geschichte zwar auf Mike als Hauptfigur geschrieben. Jacob Matschenz, der ihn spielt ist ein interessanter junger Schauspieler; aber dadurch, dass das Drehbuch sich ihn nicht voll und ganz als mit seinem Grundproblem vornimmt, denn ein solches scheint er so wie es hier gezeigt wird, gar nicht zu haben, er macht mit seinem Kumpel die Brüche, träumt vage davon, wegzukommen aus Rostock, vielleicht auch von seiner Mutter, der Alkoholikerin, aber was er will, wird nie richtig klar, seine Eigenschaften, die zu seinem Ziele förderlich oder hinderlich sind, die werden gar nicht erst vorgestellt. Er gerät einfach so in die Geschichte hinein; es gibt keinen Rahmen, der ihn dabei pusht oder hindert; er gerät zufällig in die Geschichte hinein, weil der Filmemacher Marc Bauder einen Film über das Weiterwirken von DDR-Seilschaften bis heute machen wollte.

Dadurch verzichten der Regisseur und seine Autorinnen auf das größte Kapital des Kinos, eine Geschichte als eine subjektive Geschichte, nämlich die von Mike zu erzählen. So bleibt der Zuschauer sachlich distanziert, freut sich allenfalls über den wunderschönen Kinoatem, von dem die Bilder, die auch ein schönes Bild von Rostock abgeben, durchweht sind, freut sich über die locker jazzige Begleitmusik die oft auch den Bass zupfen lässt; aber Mike bleibt ihm relativ egal. Es dürfte allenfalls für Festivals reichen, weil ja doch Substanz, geschichtliche, menschliche versammelt ist, aber eben nicht für den unbefangenen Zuschauer aufgedröselt. Für den bleibt die Geschichte so, wie sie erzählt wird, zu wirr.

Vermutlich wegen des Mangels einer klaren subjektiven Leitlinie, eines subjektiven Handlaufes genannt Hauptfigur. Wenn mir Mike gefällt, so tue ich mich schon schwerer mit seinem Gegenspieler resp. Protektor, mit der Besetzung von Böhm. Das scheint mir nun eine viel zu wenig gründlich studierte Rolle zu sein, besetzt mit einem Schauspieler, der, was in Deutschland nicht selten ist, Rollenarbeit bereits damit abgedeckt zu sehen scheint, wenn die Sprache einigermassen verständlich gearbeitet ist bei vollkommenem Verzicht aufs Studium der Abgründe, Eigenarten und Physis einer doch sehr zwiespältigen Figur wie dieser.

Allerdings ist das Drehbuch wenig hilfreich für die Rollenarbeit, versucht viel zu korrekt, ein Bild von Fakten, Einsicht in Seilschaften zu bieten. Thematisch orientiert, wie das Fernsehen es wünscht und liebt. Auch nicht ganz verständlich sind die dreimaligen Disco-Szenen, da habe ich keinen Grund dafür gesehen; da ist mir in keiner die Notwendigkeit klar geworden. Oder sind die unter den an sich angenehmen Art von Szenen zu sehen, die Mike im inneren Monolog zeigen sollten? Das wär kinohaft.

Der als Datsche getarnte Bunker mit dem Stasi-Archiv des revolutionären Antifaschisten am Stock.
Hotelklotz Neptun. Noch Einrichtung aus DDR-Zeiten. Schön nostalgisch.
Insegsamt kommt mir der Fall, der Sachverhalt sehr papieren vor. Er ist nicht in einen klaren Handlungsfaden eingebaut worden. Die Eigenart der Rezeption des Kinozuschauers, die additiv passiert, die die Handlung aufgrund der Informationen, die nacheinander geliefert werden, aufbaut, die wurde nicht berücksichtig.

Lob der alten DDR: „Wir haben hier Globalisierung betrieben, da gabs das Wort noch gar nicht“ . Kommentar zu Foto mit Strauss, Honecker und dem Vater von Mike.
Merkwürdige Szene: die Schießübung mit dem Apfel im Garten eines herrschaftlichen Gebäudes, auch so eine bedeutungsvolle Szene mit einem Schiller-Zitat betreffend die hohle Gasse von Küssnacht.

Hinweis, warum Mike immer Bewährung erhalten hat, obwohl er offenbar ein großes Vorstrafenegister hat, auch so eine theoretische Info, die als Hinweis auf die Seilschaften gilt, die aber nicht cineastisch erfahrbar wird. Theoretisch, nicht szenisch. Das Drehbuch hat sich in der Theorie verhakelt.

Konrad halte ich für eine vollkommene Fehlbesettzung (da kann der Schauspieler nichts dafür, da scheint es sich um eine Fehleinschätzung der besetzenden Person zu handeln).
„Übermorgen ist Schluss mit Regionalliga für uns beide“, auch das so ein rein theoretischer Satz.
Dann die moralinische Frage, was ist schief gelaufen in der DDR. Die Frage mag man sich in Seminaren stellen, aber in einem Spielfilm bräuchte sie schon eine ganz besondere Szene, um Brisanz zu entwickeln und nicht als Gesülz zu wirken wie hier.

Die Frage war, wer hatte die schnellsten Kaulquappen.
In welchem Zusammenhang war jetzt der Super-8-Film aus der Kindheit von Mike wichtig?
Verfilmung einer Stoffsammlung. Ein Wust-Film, der die Stoffsammlung in keinen cineastisch einsichtigen Zusammenhang zu bringen vermag.

Eine Szene mit Heinz Hoenig in einem Hotelzimmer. Wie aus einem anderen Kino, der Koloss, den man auch noch aus einem Swimming-Pool steigen sieht. Er darf ein paar Phrasen dreschen, die die Handlung auch nicht weiter bringen und in keinem direkten Handlungszusammenhang stehen, oder zumindest so wirken. Der Hoenig, der schnauft wenigstens merklich, der hat eine physische Präsenz trotz Papierdrehbuch, das scheint vielleicht der Unterschied zwischen einem Star seines Kalibers und den anderen, die auch nichts dafür können. Da müsste die Casting-Abteilung mehr geistige Energie auf ihren Job verwenden, falls ihr das Papierene dieses Drehbuches überhaupt aufgefallen ist.

Es gibt im Buch bestenfalls einen Argumentations- und einen Explikations-, aber leider, bitter fürs Kino, keinen Handlungsfaden.
Dann findet Mike und sein Kumpel im DDR-Archiv den Auftrag zur Liquidierung seines Vaters, in dem Moment werden sie überrascht, können aber abhauen.
Problem für die Mutter, sie kriegt das kalte Kotzen, dass Tieschke den Kredit gegeben hat.
Dann wird’s etwas sentimentaler. Ein großes Schiff von SCANDLINES fährt vorbei. Mutter und Sohn sitzen an der Mole.

Vielleicht haben auch die vielen Förderer diesem Film zum frühen Kindstod mitverholfen, weil wieder einmal keiner gemerkt hat, dass vieles nur gut gedacht, aber leider nicht in eine spannende Spielhandlung gebracht worden ist.
Mutter: Ich geh zur Polizei, ich werde alles erzählen.
Dann leicht sein wollende Standbein-, Spielbeinmusik.
Irgendwann schießt Mike noch ein Fickfoto im Hotel, nicht ganz klar von wem und zum Beweis wofür.

Anne liebt Philipp

Auch Zehnjährige haben ein Recht zu lieben, so weit die These des Filmes und der ist nichts entgegenzusetzen.

Wie das kinematographisch umgesetzt worden ist, da ist zu differenzieren. Das Drehbuch beruht auf einem norwegischen Bestseller von 1984 von Vigdis Hjorth. Der Film sei in Norwegen auch ein großer Erfolg. Zu vermuten, dass der darauf beruht, dass die Leser die ihnen bekannten Figuren und Szenen vorfinden.

Für den unvoreingenommenen Kinomenschen stellen sich allerdings einige Probleme. Die Hauptperson ist zweifellos die zehnjährige Anne Lund, sie diskutiert gleich zu Beginn auf der Tonspur, warum müssen Mädchen immer Prinzessinnen und Buben immer Wikinger sein. Sie rebelliert gegen die Prinzessinnenrolle. Im Augenblick dieser Äußerung wird sie als noch 5-Jährige gezeigt. Die Kinder spielen, die Buben sind als Wikinger verkleidet, die Mädchen als Prinzessinnen.

Dann folgt einer von den raschen Schockschnitten, die die Regisseurin Anne Sewitsky zu lieben scheint. Unser Mädchen ist jetzt zehn Jahre alt. Sie will uns erzählen, wie sie sich in Philipp Ruge verliebte. Auch das wird plausibel eingeführt, wie die Familie von Philipp in die Nachbarschaft zieht.

Aber, das scheint vielleicht eine Eigenart der Buchvorlage zu sein, es geht im folgenden nicht etwa darum, zu zeigen wie eine Zuneigung zwischen Philipp und Anne entsteht und wächst, wie sie gemeinsam etwas erleben und vielleicht frühe, reine Ahnungen von Liebe spüren. Es geht im weiteren Verlauf vor allem um Mädchen wie Püppchen, es geht darum, wer mit wem geht, wer jemanden hat und wer nicht oder ob einer/eine Objekt mehrerer Begierden sei. Die Mädchen streiten sich und Anne schneidet dem Mädel was mit seinem schönen langen Haar Fernsehwerbung macht, den Zopf ab; das ist wenigstens Handlung.

Der glatte Eindruck einer Püppchenstube wird noch verstärkt durch die aalglatte deutsche Nachsynchronisation. Eine Frage, die sich mir stellt, ob die Welt wirklich solche Kinderfilme, ob sie überhaupt Kinderfilme braucht. Das Weltbild so speziell auf die Kinder ausgerichtet, die Kinderwelt als Puppenstube, eine irreale Welt mit einem Haufen Versatzstücken aus Kinderleben.

Vielleicht ist es im Buch der Autorin Vigdis Hjorth ziemlich spannend und vielleicht hat die Drehbuchautorin Kamilla Krogsveen das einfach nicht auf eine Kinospannungsreihe gebracht; weil das ist eine ganz andere Anforderung, Szenen aus Kinderleben zu erinnern und zu Papier zu bringen und sie dann zu einem Drehbuch zu formen mit einer Erzählweise, die auch Leute, die das Buch nicht gelesen haben, reinziehen könnte. Das ist bei mir hier nicht passiert. Denn gerade auf die Möglichkeit, die Kino hat, Beziehung, Tiefe, Gefühl, Sehnsucht zu zeigen, wird in dieser Bestsellerverfilmung verzichtet.

Reality XL

Eine seltsame Nachtschicht muss es gewesen sein am CERN-Teilchenbeschleuniger, denn alle bis auf einen Wissenschaftler sind verschwunden. Haben sich einfach in Luft aufgelöst Der Verbleibende, Professor Carus, ist zu keiner Aussage zu bewegen. Ist er ein Täter? War es ein Unfall? Ist der Teilchenbeschleuniger schuld? Wie kann sowas passieren? Wieso scheint Professor Carus gar nicht zu wissen, dass er Abends zuvor noch Kollegen hatte?

Eine Untersuchungskommission wird eingerichtet. Zwei Ermittler, Robin Spector und Sophia Dekkers, verhören den schon Jahre an den Rollstuhl gefesselten Professor. Mit dabei ist auch das Unikum Antoine, der die Befragung an einem antiken Computer protokolliert.

Doch anstatt Fortschritt zu machen, was das Verschwinden der Wissenschaftler angeht, stößt die Untersuchungskommission auf immer neue Ungereimtheiten. Ungereimtheiten, die selbst Professor Carus überraschen.

Mit Reality XL verlässt Regisseur Tom Bohn die ausgetretenen Pfade der üblichen deutschen Methoden der Filmfinanzierung. Statt sich einem mutlosen Verleih anzubiedern und seine Idee von Schlipsträgern auf Massentauglichkeit trimmen zu lassen, statt bei Filmförderungen und anderen Geldgebern Klinkenputzen zu gehen, hat Bohn einfach seine Altersvorsorge aufgekündigt und mit der Kohle den Film gedreht, den er auf der Leinwand sehen wollte.

Herausgekommen ist ein wahrlich bemerkenswerter Mystery-Thriller, gekonnt inszeniert und mit genau den Ecken und Kanten, die ihm in den Mühlen des Systems abgeschliffen worden wären. Mit nur wenigen verschiedenen Schauplätzen, Dialogen, bei denen man mit dem ganzen Hirn folgen muss und teilweise nur kleinsten Andeutungen, die aber das A und O für eine spätere Erklärung darstellen – das wäre im deutschen Mainstream nicht erlaubt gewesen.

Kein Wunder, dass der Film polarisiert. Die einen werden ihn furchtbar langweilig, öde und eintönig finden, die anderen aber als willkommenes Kontrastprogramm zum cineastischen 08/15-Einheitsbrei der Gegenwart wahrnehmen. Das ist aber auch gut so, denn allen gefallen kann niemand.

Das Tolle an Reality XL ist, dass der Film erst Stunden nach dem Kinobesuch so richtig „einfährt“. Lässt man die Handlungsfäden noch einmal Revue passieren, beginnt man bald, ein feines Geflecht von Verbindungen wahrzunehmen, das komplexer zu werden scheint, je genauer man hinsieht. Es mag einem kalt den Rücken hinunterlaufen, so unheimlich stellen sich all die harmlosen Szenen und ihre Implikationen im Nachhinein dar. Hinter diesem Film liegt eine ganz große dramaturgische Begabung. So vielschichtige Implikationen auf allen Zeit- und Handlungsebenen gibt es nicht so oft im Kino, und schon gar nicht im plumpen deutschen Wenn-Dann-Kino. Wahrlich ein Trip an die Grenze des Verstandes.

Ich kann dem Kinozuschauer nur empfehlen, sich nicht von der verhältnismäßig kargen Ausstattung des Films ablenken zu lassen oder sich an der geringen Zahl von Figuren zu stören. Man beachte: Hier wurde ein Kinofilm mit den privaten Ersparnissen eines einzelnen Mannes gedreht! Das können Sie auch machen, lieber Leser, genau so! Hier wurden nicht Millionen von Steuergeldern der Filmförderung oder ein großes Produktionsbudget einer großen Produktionsfirma verschossen und dafür Pomp und Kitsch an jede Ecke gezaubert, hier fanden sich mutige Leute zu einem Team zusammen, um die Vision von Tom Bohn, einem Tatort-Veteran, auf die Leinwand zu bringen. Es ist geradezu spürbar, wie Schauspieler und Team allesamt mit vollem Herzblut dabei waren. Und ich kann nur sagen: Es ist schauderhaft gut geworden.

[offizielle Webseite]

Huhn mit Pflaumen

Den Machern dieses Filmes, Vincent Paronnaud und Marjane Satrapi, haben wir „Persepolis“ zu verdanken; entsprechend hoch ist die Erwartung an diesen neuen Film von ihnen.

Leider kann „Huhn mit Pflaumen“ in keiner Weise an Persepolis anknüpfen. Einige der scherenschnittartigen Kulissen, Stadtkulissen, kommen hier wieder vor. Die Geschichte spielt in Iran, in Teheran. Die Hauptfigur ist Nasser Ali Khan, gespielt vom großäugigen Mathieu Amalric, einem Hans-Dampf in allen (Film)Gassen, der um die Wirksamkeit seiner großen Augen wissen dürfte und vielleicht etwas leichtsinnig geworden ist und es nicht mehr für nötig hielt, intensives Rollenstudium zu betreiben. Oder, der es sowieso nicht gewohnt ist, weil er entweder mit ganz großen Regisseuren arbeitet, auf die sich die Schauspieler verlassen können oder dann gar selber produziert, inszeniert und die Hauptrolle spielt, wie in „Tournée“.

Hier liegts allerdings auch an der Geschichte. Die ist etwas durcheinander und kommt insgesamt recht scherenschnittartig daher, auch insofern, als in mir der Eindruck entstand, die Macher hätten aus einer ordentlich erzählten, chronologischen Geschichte undendlich viele Szenen und Einzelbilder rausgeschnitten, so wie wir früher als Kinder aus Zeitschriften Bilder rausgeschnitten haben und die dann neu kombiniert und teils über und untereinander und ohne Zwischenräume in leere Hefte eingeklebt hatten.

Mathieu Amalric erinnert mich entfernt an Ben Becker, der sich auch sehr auf sein Aussehen verlässt. Es wurde auch die Nähe zum Film „Amélie“ erwähnt. Dort war aber die Geschichte zielführend und die Hauptdarstellerin auch deutlich durchlässiger und geheimnisvoller als Amalric. Amalric fehlt die Magie, die eine solche Hauptfigur haben müsste in einem recht salopp zusammengestellten Zusammenhang aus Bildern, die einerseits 1958 spielen und dann 20 Jahre später, nachdem der Musiker Nasser Ali Khan in der Welt rumgereist ist als Geiger und wieder zurückgekehrt und dann nicht die Frau seiner Liebe geheiratet hat.

Seine Kinder kommen mal klein, mal groß und vor. Die Tochter ist spielsüchtig geworden. Der Sohn führt eine überzeichnet dargestellte amerikanische Ehe. Das hat alles viel mit Beliebigkeit zu tun, obwohl sogar bald eine gewisse Chronologie anfängt. Denn Nasser möchte nach einem unglücklichen Geigenkauf sterben, weil er abgrundtief unglücklich ist. Er meint, seine große Liebe wieder getroffen zu haben. Deren Vater ist strikt gegen eine Verbindung. Dieser betreibt ein Uhrengeschäft. Nasser selber muss sehr vornehm aufgewachsen sein, es gibt eine Szene im großzügigen Garten zuhause bei seiner Mutter. Auch deren Begräbnis kommt vor in einer der Rückblenden, die nun in seine letzten acht Tage eingeschoben werden. Aus der Grabplatte stieg eine Wolke auf, „ihr gesammelter Rauch“ wurde über die starke Raucherin gewitzelt. Überhaupt sollen immer versponnene oder originelle Dinge passieren, aber es sind ihrer soviele und sie haben so wenig mit einem ersichtlichen Thema zu tun, außerdem ist es meist sehr dunkel und die Undurchlässigkeit von Herrn Amalric trägt das ihre bei zu einer sehr düsteren, lustig sein wollenden Atmosphäre. Ein paar lichte Bilder werden dazwischen gestreut: Träume von Liebe und Heirat, Kleinmädchenträume vom Glück. Dann aber wieder: Verschiedene Selbstmordversuche, die alle nicht gelingen.

Ein Nippes-Film. Kino ohne Subext. Steif inszeniert, gespielt und geschnitten, theaterlich, sehr staatstheaterlich getragen. Auch keinen richtigen Rhyhtmus gefunden, umso mehr sehnt man sich nach dem Ende, nach jeder neuen erlösenden Tageszahl, die er näher bei seinem Tod ist. Sich ziehender Countdown zum Selbstmord, das ist hier die Dramaturgie.

Traum vom Sokrates und seinem Sterben. Umgeben von hübsch sein sollenden Jungs, aber alle unerotisch, wie überhaupt dem Film jegliche Erotik abgeht, trotz einer ganzen Anzahl schöner Frauen; es scheint als sei die Erotik mit der Schere weggeschnippelt.

Keine Leinwandgschmeidigkeit. Die Filmemach-Methode dieses Teams dürfte bei satirischen, politischen Dingen funktionieren, hier aber geht es um Erzählung. Der Film eher eine Grobskizze eines Arrangements von Bildern aus dem Leben von Nasser, der sterben möchte. Gespräche mit dem Todesengel, mit Azrael.

Endlich, am 7. Tag hat er „la fièvre“.
Weisheitssatz seiners Musiklehrer: in jeder Note müsse seine nicht erwiderte Liebe erklingen. Das tat sie auch 20 Jahre.

Um die Sache vielleicht doch noch retten zu können, bügeln die Macher in der letzten Viertelstunde mit heißem Eisen ein furioses Konzertfinale über den Bilderpansch. Und so hört man Kritiker sagen, gegen Ende hin sei es besser geworden. Reingefallen, würde ich sagen.

Jonas – Stell dir vor, es ist Schule und du musst wieder hin!

Der Film ist eine Art semidokumentarischer Soap. Christian Ulmen, der auch die Idee zu dem Film hatte, zieht sich eine Langhaarperücke an, lässt sich dicken, jugendlichen Teint auf die Backen streichen, damit die Barthaare verdeckt werden und er wie ein 18-jähriger aussieht, drückt für 6 Wochen Drehzeit die Schulbank und lässt sich dabei von Robert Wilde oder dessen Kameramann Frank Lamm abfilmen. Das Resultat ist dieser Film.

Jonas gibt vor, schon mehrfach sitzengeblieben zu sein. Er kämpft jetzt, und das wird alle freuen, die noch eine emotionale Bindung zur Schulzeit haben, gegen Logarithmen, Exponentialrechnung, chemische Experimente, gegen Musiknoten und die Hochsprunglatte, die Entwicklung der Menschheit im Allgemeinen und die Gründung einer Schulband im Besonderen.

Christian Ulmen kommt als Jonas wirklich sympathisch rüber, im Gegensatz zu den Rollen in seinen Spielfilmen. Den Jugendlichen mimt er verdammt überzeugend, obwohl er doch einige Jährchen drüber sein dürfte, aber auch noch recht leicht in den Bewegungen. Und wie er die Lehrer umarmt, diese Emotion, wunderbar, das geht ans Herz. Vielen Zuschauern dürfte damit geholfen sein. Warum ich den Film aber dann doch eher im Fernsehen sehe, das scheint mir nebst dem doch recht lockeren Zusammenschnitt des Materials eine anderes Problem von so einem Projekt.

Fürs Filmen müssen die Schüler und Lehrer Einverständniserklärungen abgeben, dass sie abgefilmt werden dürfen, dass das Material im Film drin vorkommen darf. Ob sie auch Geld bekommen dafür, das wäre zu erkunden. Es gibt eine Stelle, an der offeriert Ulmen, der sich hier Jonas nennt (obwohl schon beim ersten Betreten der Klasse ein Mitschüler, kaum hat Ulmen sich gesetzt, dem anderen zuraunt „Christian Ulmen“) dem Direktor 5000 Euro.

Die Filmerei verändert selbstverständlich die Situation in der Klasse enorm. Denn einmal müssen auch die Lehrer einverstanden sein, dasss bei ihnen gedreht wird. Und auch die Mitschüler. Darum kann kaum je die ganze Klasse gezeigt werden, denn es ist kaum zu erwarten, dass alle einverstanden waren. Und ein Filmteam, und wenn es noch so klein ist, regt Jugendliche gerade in diesem Alter, wo sie zum Teil noch voller unrealistischer Hoffnungen und Träume von Größe und Prominenz sind, auf und sie spielen natürlich und zum Teil wirklich gut für die Kamera. Nicht anders mit den Lehrern, von denen andernorts mehr über Burn-Out zu lesen ist als darüber, was hier im Film zu sehen ist: solide, freundliche Autoritäten, humorvoll, nie um einem gutem Spruch verlegen.

Doch die Lehrer müssen vor den Stunden auch verkabelt werden für den Mikroport. Sie wissen auch, dass die Kamera da ist. Es wird also eine durch die nicht versteckte Kamera veränderte Schule gezeigt und garantiert eine geschönte.

Dass Ulmen dann noch eine Band gründet, das sehe ich eher als einen privaten oder gar karrieristischen Gag von Ulmen, der sicher bei den Schülern, die mitmachten, gut angekommen ist. Warum die Gründung der Band mit großem Banner zum Fenster raus und Megaphon so angekündigt werden musste, wer weiß. Wer weiß, warum Ulmen für einen Mathetest sich das Nasenbluten hat einfallen lassen. Es ist gnadenlose Schulploitation, die Ulmen betreibt.

Spannender wäre für mich eine Doku über das Drumherum eines solchen Filmes, die diversen Ehrgeize, die ein solches Projekt in den Lehrern, dem Direktor, den Schülern auslöst; aber auch die deutlicher oder weniger deutlich vorgebrachten Einwände, allfälliges Misstrauen. Da kommt einer in diese Schule, der am Tag 5000 Euro oder gar mehr verdient; uns speist er mit einem Trinkgeld ab; wir dürfen Kulisse für seinen Ehrgeiz sein und können nicht ausweichen, denn die Schule ist eine Zwangssitituation. Sich blöd vorkommen angesichts eines solchen Projektes, das auf das Bedenken eines gesamtgesellschaftlichen Zusammenhanges von Bildung und ihrer Exploitation vollkommen verzichtet, wäre eine durchaus mögliche Reaktion.

Es wäre interessant zu erfahren, was Ulmen dabei verdient hat und wieviel für die Schule abgefallen ist, wieviel von einem allfälligen Kinoertrag und weiteren Fernsehauswertungen für die Schule abfallen wird. Mir kommt dieses ganze Projekt doch sehr, sehr harmlos und schulverniedlichend vor. Die Schule ist kein Zoo. Und gewiss war nicht jeder Schüler damit einverstanden, dass diese Institution, in der er zwangsweise einsitzt, für sowas benutzt wird. Schon in Andreas Veiels, allerdings höchst sorgfältig gemachten Langzeitbeobachtung einer Schauspielklasse „Die Spielwütigen“, hat mich gestört, dass nur der kamerageile Teil des Lehrkörpers mitgemacht hat – dass die Schauspielschüler es sind, das ist schon von Berufes wegen zwingend. Fürs Kino jedenfalls ist mir dieser „Jonas“ schlicht zu harmlos, ein nettes Scherzchen ohne Satire und tieferen Sinn.

Eine belanglose, wenn nicht schönfärberische, erziehungs- und bildungssystemunkritische Nettigkeit mit einem sympathischen, sich gänzlich unpolitisch wähnenden Christian Ulmen.

Ziemlich beste Freunde

Die Geschichte vom gelähmten, kultivierten, unglücklichen (weißen) Reichen und dem armen, ungebildeten, aber sorglosen und lebensbejahenden (schwarzen) Betreuer.

Francoix Cluzet spielt den superreichen Philippe, der nach einem Unfall mit dem Paraglider vom Hals an abwärts bis zur Zehenspitze gelähmt ist, der sich in einer endlos großen Stadtwohnung in Paris mit jeder Menge Personal und schicken Wagen im Innenhof verschanzt hält, der ständig auf Suche nach neuen Pflegern ist, weil es bei ihm keiner lange aushält.

Omar Sy spielt Driss, den gut gebauten, kräftigen, groß gewachsenen Schwarzen aus katastrophalem Milieu, arbeitslos und der sich nur der Form halber, um seine Anzahl Absagen zusammenzukriegen, weil ihm sonst die Stütze gestrichen werden, bei Philippe bewirbt.

Schon das ist eine kabarettreife Szene, die ganze Riege der Bewerber, alles frustrierte, ängstliche Typen und garantiert werden sie es nicht lange aushalten mit Monsieur. Dann drängelt sich Driss vor, er will so schnell wie möglich die Absage. Und wie das augenzwinkernde Schicksal es will, gefällt Philippe seine Art, die eher zur Art Brut passen würde als zu den alten Schinken, die die Wände in der superreichen Wohnung von Philippe zieren.

Jetzt haben das Schicksal und Regie und Drehbuch von Olivier Nakache und Eric Toledano – nach einer wahren Begebenheit übrigens wie es heißt – die beiden Gegensätze zusammengebracht: Hochkultur, Hochfinanz (oder wie auch immer Philippe sein Geld verdient haben mag), Steifheit und Reichtum mit viel Personal und vielen Räumen auf der einen Seite und den in asozialen Verhältnissen aufgewachsenen Driss, der aus Senegal stammt und in einer anonymen Hochhausvorstadt von Paris ein zukunftsloses Leben fristet und routiniert und abgefuckt seine Absagen einsammelt.

Was jetzt folgt sind eine ganze Reihe von Szenen die ein begeisternd motiviertes Ensemble mit großer Spiellust hinlegt, alles Variationen des Zusammenpralls der beiden Welten, der steifen, freudlosen reichen und der pragmatischen, sorglosen armen, der Weißen und der Schwarzen, der Vorstadt und des Großbürgertums. Jede einzelne Szene könnte als eine herrliche Nummer für sich stehen.

Nach diesem Film werden die Zuschauer das Kino garantiert nicht deprimiert verlassen, denn manchmal braucht es doch sehr wenig, um das Leben wieder lebenswert und lustig zu machen, egal wie die Umstände sind, ob Ganzkörperlähmung oder bildungsbenachteiligte Chancenlosigkeit.

Was mir das Problem hinsichtlich eines länger anhaltenden Erfolges scheint, das ist die dramaturgische Durchdenkung, das Spinnen eines Konfliktfadens, eines zwingenden Konfliktfadens. Mit geht das schon sehr glatt, wie Driss in die reiche Welt eindringt, wie er sie relativ selbstverständlich annimmt, wie er sich assimiliert. Vor allem, wie er sich gar nicht verändert dabei. Also die realistische Grundlage scheint mir die Geschichte ganz schön auszublenden, kein Mensch ist gegen Reichtum immun und schon gar nicht gegen Superreichtum. Das mag zwei drei Tage anhalten, die Sorglosigkeit, die Naivität, die Direktheit und Offenheit, aber die Anpassung geht meines Erachtens hier doch viel zu schnell und problemlos vonstatten. Die einzige Entwicklung von Driss scheint die zu sein, dass er jetzt eine Ahnung von Malerei hat (er hat inzwischen selber auch ein Gemälde gemalt und sein Boss hat es an seinen Anwalt für 11000 Euro verhökert), dass er weiß, was ein Alexandriner ist.

Das ist wirklich ein schöne Szene, wie Driss. nachdem er den Job bei Philippe aus familiären Gründen an den Nagel gehängt hat und wieder beim Arbeitsamt ist und auf einen Satz der Bearbeiterin sagt, das sei ein Alexandriner, das deutet zumindest an oder behauptet es, er habe eine Entwicklung durchgemacht. Und schön auch, wie die Dame sich dann am Ohrläppchen kratzt, aber das hat eine andere Bewandtnis, die auf einer frühere Szene referiert und soll hier nicht ausgeplaudert werden.

Als leichte Unterhaltung gedacht und leicht aufgetischt, also leicht verdaulich und mit Vergnügen zu genießen.

Die Frage ist, ob man die Figuren, und jede hat einen Grundkonflikt, nicht daruf hin abklopfen sollte und so auch einen dramaturgischen Spannungsbogen zu erzielen. Doch von Konflikten ist hier nicht die Spur. Es geht immer nur um das Aufzeigen der Differenz der zwei konträren Welten. Es steht nie auf Messers Schneide, ob der Film weiter geht, ob die Geschichte weiter geht, weil eine Figur an ihre Grenzen kommt.

Ein Film, der mir eher wie ein Arrangement of Understanding vorkommt, wir zeigen Euch jetzt mit großer Spiellaune, wie wir uns vorstellen, dass diese zwei gegensätzlichen Welten und Weltbilder aufeinanderprallen, wie die einfache, ungebildete Welt die reiche, gebildete, erstarrte Welt aufmischt. Insofern ist jede Szene, wie eine Brausetablette in stehendes Wassser. Aber es bleibt praktisch in x Wiederholungen immer der gleiche Vorgang. Insofern ist der Film für mich fast sowas wie ein Protokoll eines Workshops. Achtung: hier ist das abgestandene Glas Wasser. Jetzt lassen wir die Brausetablette reinfallen, also Driss kommt in die Szene, und jetzt mischt die alles auf. Und das funktioniert jedes Mal. Labor-Beweis der Gesetzmässigkeit, wenn Leben auf erstarrtes Leben stößt.

Der Ernst findet hier nicht auf der Ebene der Grundkonflikte der Figuren statt sondern eher auf der Ebene des spielerischen Inszenesetzens dieser Begegnungen.

Stichwörter: Maserati, Fabergé-Ei, Privatjet, Paragliding-Spritzausflug, Hauskonzert und Opernbesuch (hier wird vielleicht am deutlichsten sichtbar, dass die Belustigung im Publikum durchaus auch aufgrund von Unartigkeiten sich einstellen darf, unartiges Benehmen bei solch reglementierten Kulturanlässen).
Und man ist selbstverständlich tolerant: Fréderic, die lesbische Freundin von einer der Bediensteten.
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Dann die doch arg melancholische Musik, wie Driss den Job verlässt. Und der dröge Nachfolger schier verzweifelt.

Absehbares Konterkarieren von Erwartungshaltungen. Insofern überhaupt nicht originell.
Dann noch eine lustige Bartrasur-Nummer; Hitler-Schnauz: eine sichere Sache und dann noch ein deutsches „Nein“.

Das Story-Ende muss aus diesem Grunde des Nummern-Filmes arg hingebogen werden mit der Rückgabe des Fabergé-Eis und dem Date mit der unerreichbaren Brieffreundin Eleonore im Restaurant am Meer. Ein Ende, fast mehr der Form halber hinzugefügt.

Chinese zum Mitnehmen

Das Leben ist sinnlos und absurd. Darum macht es Sinn, nebst einem Leben, was eben sinnlos und absurd ist, absurde Geschichten, die angeblich passiert sind und die die Zeitungen abdrucken, auszuschneiden und zu sammeln, so wie Roberto, unser Protagonist es handhabt. Eine schöne Theorie über das Geschichten-Erzählen. Ein Film, der also auch eine Begründung fürs Geschichtenerzählen liefert. Diese Art Filme sind meist nicht von der schlechtesten Sorte, der hier jedenfalls garantiert nicht.

Roberto lebt allein, irgendwo in Argentinien. Er betreibt eine „Ferreria“, einen kleinen Eisenwarenhandel. Besonders machen ihm die Nägel zu schaffen, weil der Lieferant meist weniger in die Packungen steckt als angeschrieben sind. So zählt er denn die Nägel. Wie wir ihn kennen lernen, ist er gerade bei etwas über dreihundert angelangt. Und wieder fehlen einige. Sowas macht ihn narrisch. Macht aber auch sein höchst geregeltes Leben absurd. Daher hat er wohl das Faible für absurde Geschichten.

Er geht immer pünktlich um 23 Uhr schlafen. Regelmässig besucht er das Grab seiner Mutter. Auch das scheint ein Ritual zu sein. Mit dem immer gleichen Blumenstrauß, den er beim gleichen Blumenhändler beim Friedhof kauft. Zum Geburtstag der Mutter bestellt er per Versandhandel ein kleines Glastier, ein Vögelchen und stellt es in die Andachtsvitirne seiner Mutter, deren Portrait inmitten jeder Menge von derlei Nippes prangt. Auch dieses Ritual muss also schon Jahre dauern.

Roberto hat auch eine Verehrerin. Diese baggert ihn so direkt an, auch das ist so herrlich, dass sie in ihm nur die absurdesten Träume auslöst; er erlebt in diesen Träumen selbst die Geschichten, die er aus Zeitungen ausgeschnitten hat. Die Zeitungen, also was von denen übrig geblieben ist, bringt ihm ein Bekannter.

Roberto ist also ein Sammler. Außerdem ist er ein Flugsehnsüchtiger, im Auto baumelt am Rückspiegel ein kleines Flugzeug. Gelegentlich fährt er mit seinem lottrigen Fiat 1500 zum Flughafen, um die Flugzeuge beim Landen oder Abfliegen zu beobachten. Dort passiert ihm dann selbst eine vollkommen absurde Geschichte: aus einem Taxi wird ein Chinese rausgeschmissen, direkt ihm vor die Füße. Um den kümmert er sich und wird ihn nicht mehr los. Das wird der Hauptteil dieser verrückten Geschichte aus Argentinien.

Wie Roberto, der Einzelgänger, den ihm zugefallenen Chinesen mangels Alternativen und aus einer doch noch nicht ganz erloschenen Menschlichkeit provisorisch bei sich aufnimmt. Wie er ständig versucht, ihn loszuwerden. Wie die beiden Einzelgänger nun, die die Sprache des anderen nicht verstehen, miteinander umgehen, das ist diese wunderschöne Geschichte, die selbst in einen überaus absurden Rahmen gespannt ist und darum das Zeugs hat, selbst eine diese unglaublichen Geschichten zu werden, die unser Protagonist sammelt.

Der Regisseur dieses kleinen, ruhigen, verrückten Wunderwerkes heißt, er hat auch das Buch geschrieben, Sebastian Borensztein.

Samson & Delilah

Samson und Delilah sind zwei jugendliche Aborigines, die in den australischen Outbacks ganz abgelegen aufwachsen. Eine Kirche, eine Tankstelle, einige Containerhäuser. Delilah pflegt ihre Oma, Uraltaborigine mit zerfurchtem Gesicht, die aber, wenn man sie aus dem Rollstuhl auf den Boden setzt, noch „native Craft“ herstellen kann, also Farbtupfer auf vorgefertigte Muster auf Papier. Diese buntgemusterten Bilder werden von einem Händler gekauft und an eine Galerie in der Stadt verscherbelt. Dort sieht man sie dann später als große Ureinwohner-Kunst angepriesen und entsprechend ausgestellt. Samson mit Wuschelkopf (vielleicht haben wir uns den Samson mit dem langen Haar aus der Bibel ähnlich vorgestellt) und mit verschlossenem Gesicht wohnt in der Nähe von Delilah. Er sitzt viel rum, beobachtet Delilah, die ihre Oma im Rollstuhl spazieren führt. Oder er sitzt bei einer Band, die übt. Er hat keine Beschäftigung. Und es scheint auch niemanden zu geben, der sich um ihn kümmert. Hin und wieder wird er gewalttätig, einmal tötet er ein Känguruh, zerstört Musikinstrumente von der Band oder buddelt mit bloßen Händen ein wannengroßes Loch in die Erde, das sich sogleich mit schlammigem Wasser füllt. Er nimmt ein Bad darin. Einmal geht er hinter Delilah her, wirft ihr einen Gegenstand nach. Sie tut das gleiche ihm gegenüber auch. Die Oma spricht immer vom Bräutigam. Und lacht sich kaputt. Dann fahren sie mit einem Wagen auf und davon in die nächste größere Stadt. Da gibt’s immerhin ein große Brücke. Unter der landen sie bei einem Obdachlosen. Sie kaufen ein in Tankstellen. Klauen. Fangen an, Benzin zu schnüffeln. Einmal wird Delilah von einer Gruppe junger Männer in einen Wagen gezerrt. Samson, der vor ihr hergegangen ist, bemerkt das erst, wie der Wagen mit Vollgas davon braust. Samson sucht sie. Wie er unter die Brücke zurückkehrt, ist sie auch wieder da mit einem blau angeschwollenen Auge. Sie schnüffeln weiter Benzin. Stromern durch die Stadt. Entdecken die Galerie. Delilah fängt an selbst solche Bilder zu malen. Aber der Galerist zeigt kein Interesse.

Einer bringt sie schließlich ins Dorf zurück. Inzwischen sind beide krank, verletzt, Samson sitzt im Rollstuhl, Delilah hat ein Bein mit einer Schiene eingebunden. Ein Dorfbewohnerin beschimpft sie wegen des Autdiebstahles. Sie fahren in eine entlegene Hütte. Fangen an, sich einzurichten. Setzen ein altes Windrad, das Wasser pumpt, wieder in Gang. Sie wäscht ihn in der Tränke. Sie haben sogar die eine oder andere zärtliche Geste für einander.

Warwick Thornton hat dieses australische Wüstengemälde aus Existenzialismus, Elend und der Suche nach Liebe kommentarlos auf Film gebannt.

Und dann der Regen

Der Film ergreift eindeutig Partei für die Sache der Indios, aber nicht in der Art eines dezidierten Agit-Prop-Filmes, sondern mit einer Spielhandlung, die die komplexere Struktur des Films im Film benutzt.

Ein Filmteam will in Kolumbien einen Film über die Ankunft von Kolumbus drehen, einen rechten Historienschinken wie es aussieht und wie man es gewohnt ist. Dabei verhält sich das Team, das eine Menge Indio-Statisten braucht, nicht viel anders als die Eroberer. 2 Dollar Statistengage am Tag sollen genügen. Parallel erhöhen die Wasserwerke, die inzwischen privatisiert sind und das Wasser als Goldgrube entdeckt haben, den Preis auf über 400 Dollar im Monat. Ein Komparse bei diesem Film kann mit seinem kärglichen Gehalt nicht mal die Wasserrechnung bezahlen.

Der Film fängt mit dem Casting an, bei dem für 6 Positionen Hunderte Indios Schlange stehen und die Filmleute relativ schnoddrig das Verfahren, das auf Flugblättern als fair angekündigt worden ist, abkürzen und den Rest nach Hause schicken. Das wollen sich Daniel mit dem ausgeprägten Indiogesicht und seine junge Frau nicht bieten lassen. Er insistiert und macht Rabbatz. Dadurch wird er wahrgenommen, bekommt eine wichtige Hauptrolle, die des Indioführers Hatuey. Er belauscht ein Handy-Gespräch eines der Filmentscheider, wie er seinem Produzenten auf Englisch sagt, wie billig sie hier die Komparsen kriegen. Dieser Filmmensch ist dann merklich irritiert, wie ihm aufgeht, dass Daniel ihn verstanden hat.

Man sieht einiges vom Dreh oder auch ein Musterschauen in einem Studio. Gleichzeitig erhöhen die Wasserwerke die Preise massiv für dieses existentielle Gut und die Indios protestieren dagegen. Daniel wird zu einem der Worfführer des Aufstandes. Die Filmmenschen zittern, er könnte bei den schnell ins Gewalttägige ausufernden Auseinandersetzungen verletzt werden.

Parallel zur Aufruhrszene gibt es im Rathaus einen Empfang für die Filmleute, selbstverständlich ohne einen Indio. Die sprechen dem Bürgermeister gegenüber das Thema auch an. Aber wie Politiker so sind, ohne Erfolg. Später landet Daniel im Knast, er ist auch verletzt. Für die Produktion eine Katastrophe, denn man kann nicht mitten im Dreh einen Protagonisten umbesetzen. Der Produktionsleiter handelt mit dem Knast den Deal aus, dass er Daniel frei lässt, bis die letzte Szene, das ist die Kreuzigung, vorbei ist.

Prompt nach dem letzten Take am letzten Drehtag, wie die Feuer vor den Kreuzen noch brennen und die gekreuzigten Darsteller gerade anfangen runterzusteigen, trifft die Polizei ein, um Daniel zu verhaften. Er kann entkommen, herrlich wie die Indio-Darsteller das Polizeiauto, in dem Daniel drin ist, einfach umkippen, so dass der fliehen kann, die Polizisten drücken sie in der Zwischenzeit auf den Boden.

Das Filmteam will abreisen. Aber in der Stadt herrschen überall Unruhen. Barrikaden, eine zum Bersten gespannte Stimmung; der Produktionsleiter lässt sich von der Frau von Daniel überreden, noch ihre verletzte Tochter zu suchen; das wird eine Fahrt durch Feuer, Polizeiphalanxen und Barrikaden. Bis sie das Mädchen finden und im Spital abliefern können.

Anfangs kommt mir der Film etwas staatstheaterlich, aber in dieser Art gut gemacht vor, so wie für ein Publikum der 70er Jahre. Spätestens aber ab dem Thema Wasser, hat auch der Europäer seinen Andockpunkt. Und er kann sich nur wundern, wie leichthändig die Regisseurin Iciar Bollain, die auch als Schauspielerin arbeitet, die Szenen baut und aneinanderreiht. Oft zwar mit viel Gefühl, oft scheint es mit der überhaupt nicht negativen Routine, mit der lateinamerikanische Telenovelas gemacht werden, aber ohne kleinsten Abstrich am Kino. Denn der Film sieht nach viel mehr Budget aus, als er wohl gekostet haben dürfte. Gut dosiert die Massenszenen, dass die nach viel mehr aussehen. Schnelle, unkomplizierte Art, eine Geschichte zu erzählen, immer die Geschichte und ihr Ziel im Kopf. Das Ensemble zieht wunderbar mit, hat das (berechtigte) Vertrauen in die Regisseurin.

Der Erzählstil wechselt zwischen Momenten der Romanze bis zu den Momenten mit dem größten Sog, beim Show-Down durch die Barrikaden, zur feschen Art eines Blair-Witch-Projects. Und eben Telenovela, mit gefühligen Szenen dazwischen, aber nie nur des Gefühles willen, sondern weil die Handlung das verträgt, sozusagen, ein Minihauch an Ausschweifigkeit, und zwischendrin immer wieder diese Goya-Farben und Lichteffekte (die die vermutlich ohne großen Aufwand herstellen, lediglich mit Filter und Lichtreflexen auf die Hauptdarsteller, und dem Verzicht auf Ausleuchtung der Hintergrundräume).

Ein Film, der nicht nur aufregend erzählt, wie Lateinamerika versucht seine Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern auch die Gegenwart im Kino brisant werden zu lassen. Das Buch zu diesem Film, den man sich gut merken kann, hat Paul Laverty geschrieben.