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Finding Vivian Maier

Vivian Maier, die große unbekannte Fotografin, die sich als Nanny getarnt hatte.
Ein Wust an unausgegorener Realität, der von der Leinwand auf den Zuschauer einprasselt, beschäftigt diesen über den Kinoausgang hinaus, weil er sich mit diversen Needs konfrontiert sieht, die nicht von Vivian Maier stammen und mit viel Statement-Blabla dazu, was selbst wieder ein Bild von Realität abgibt, mit dem man sich zusätzlich auseinandersetzen muss und aus dem heraus man sich das Bild von Vivian Maier herauspuhlen muss. Und im nächsten Moment sehe ich in der Straßenbahn eine Frau sitzen, die ihr verblüffend ähnlich sieht. Ein Déja-vue oder wandert sie noch?

Hier gibt es eine ungewöhnliche Fotografin zu entdecken: Vivian Maier, über die nur wenig bekannt ist, die sich hinter der Identität eines Kindermädchens versteckt, sich damit die Freiheit zum Fotografieren erkauft; die mit dem Etikett des „Street Fotografers“ versehen wird. Sie ist immer wieder losgezogen und ständig hat sie fotografierender Weise Ansichten, Menschen, Dinge entdeckt. Sie lebte von 1929 bis 2009. Über sie gibt es eine offizielle Website.

Der Film von Johan Maloof und Charlie Siskel stellt uns einerseits viele Fotos von Vivian Maier vor, erzählt aber auch über John Maloof, dem bei einer Auktion ein Teil ihres Nachlasses in die Hände geraten ist, Unmengen von Fotos, entwickelten, Negativen und unentwickelten Fotorollen, und wie er sich auf den Weg zur Erforschung dieser Person aufmacht. John Maloof erzählt selbst oder stellt Szenen nach, wie er auf den Schatz gestoßen ist. Wie er erst nach und nach entdeckte, um was für einen Schatz es sich hierbei handelt. Wie er anfing Nachforschungen anzustellen und Fotos zu veröffentlichen und wie er im Internet eine überwältigende Resonanz fand, wie er Ausstellungen organisiert und wie er um Anerkennung im Kunst- und Museumsmarkt kämpft.

Maloof hat frühere Arbeitgeber von Vivian Maier gefunden, Kinder, die sie als Nanny erlebt hatten. Die kommen ausführlich mit mehr oder weniger ergiebigen Statements zu Wort und zeichnen so das Bild einer exzentrischen Frau, die eine dunkle Seite gehabt habe, die sich zusehends zurückgezogen habe, deren Zimmer niemand betreten durfte, die ein Spiel um ihre Identität getrieben habe (Französin oder nicht?), die wenn immer sie losgezogen ist, die Kamera dabei hatte und auch mal die Kinder an einer Straßenecke stehen ließ, um in einer Gasse einem Motiv nachzujagen. Die aber offenbar kaum ernsthafte Schritte unternommen hat, ihre Bilder zu veröffentlichen, die möglicherweise oft auch zu wenig Geld hatte, um die Bilder entwickeln und drucken zu lassen.

Jetzt macht John Maloof das Geschäft mit den Bildern von Vivian Maier. Offenbar gibt es von keiner Seite von Verwandten Rechtsansprüche. Selbstverständlich steckt Maloof das Geld in die weitere Hebung des Schatzes, für ihn inzwischen ein Fulltime Job. Denn Vivian Maier hatte nicht nur dieses ganze Fotomaterial, das meiste mit einer Rolex-Spiegelreflex aufgenommen, hinterlassen, es kommen jede Menge Footage von Filmrollen dazu, außerdem konnte sie nichts wegwerfen, jede Quittung, jeder Kassenzettel, jede Rechnung, jede Mahnung und was auch immer scheint sie aufbewahrt zu haben. Sie stapelte Zeitungen noch und nöcher, schien fasziniert von den Schlagzeilen der Zeitungen, wollte die Berge irgenwann abarbeiten. Aber eher bogen sich die Zimmerböden.

Vivian Maier scheint eine schwierige Person gewesen zu sein. So wird sie beschrieben. War nie verheiratet, hatte kein Liebesleben oder eines im Dunklen, in der Vergangenheit. Je weniger über eine Person bekannt ist, desto üppiger sprießen die Spekulationen. Insofern wohnt diesem Film viel Spekulatives und weniger Dokumentarisches über die Heldin inne. Vielleicht hätte eine Zusammenstellung, die sie vor allem durch ihre Bilder hätte sprechen lassen, ein stärkeres Bild von ihr abgegeben, denn die Bilder sind eindrücklich, sensationell eindrücklich.

So aber mischt der Film die fotografische Intention der Protagonisten mit der egomanischen Intention des Dokumentaristen. Warum will man einer von sich aus ansprechenden Kunst noch auf ein spekulatives Geheimnis kommen? Insofern auch ein Ratsch- und Tratschfilm, nebst jeder Menge grandioser Fotos von Vivian Maier, auch viele, auf denen sie selbst zu sehen ist, Selbstportraits über Spiegel und Spiegelungen. Andererseits will der Film die Entdeckungsstory von John Maloof als eine typisch amerikanische Erfolgsstory vom großen Fund auf dem Flohmarkt ausbreiten; das verwischt den Eindruck von den bestechend klaren Fotos.

Otto ist ein Nashorn

Was eine Kinderfantasie aus der Betrachtung einer menschlichen Nase alles herstellen und so die Erwachsenenwelt durcheinander bringen kann!
So wird es allerdings innerhalb vom Film nicht interpretiert. Topper ist ein Junge, im ersten Schulalter und freut sich auf die Ferien, freut sich darauf, mit seinem Freund Viggo ungewöhnliche Dinge zu finden, Abenteuer zu erleben und hofft insgeheim auf Begegnungen mit Sille, die demnächst Geburtstag hat.

Topper lebt in einer kleinen, dörflichen Hafenwelt. Alles übersichtlich. Der pfeifenrauchende Herr Holm erzählt gerne Geschichten, die schwerhörige Frau Flora, die noch ein Fräulein ist, missversteht trotz Hörrohr immer alles, der Vater von Freund Viggo, Herr Löwe, versucht ständig und erfolglos, sein Cafe kundenfreundlich zu gestalten und Kunden zu gewinnen und merkt nicht, dass er selbst das größte Hindernis für seinen Erfolg ist. Topper braucht insbesondere Fantasie, denn sein Vater ist irgendwo in der Welt unterwegs, erzählt die Mutter, die anderen Kinder behaupten, er habe gar keinen Vater. Aber da er immer Briefe an ihn schreibt, so ist das doch ein Beweis für dessen Existenz.

Wer suchet, der findet. Die Ferien haben noch gar nicht richtig angefangen, da findet Topper einen großen, dicken Stift. Er zeichnet damit ein Herz an eine Hauswand und seine und Silles Initialen. Sille taucht auf. Er will das Geschreibsel verdecken, stellt sich mit dem Rücken zur Wand. Das erzeugt folgenschwere Missverständnisse und Sille hält ihn sowieso für verrückt. Dazu gibt es Anlass, allein das System, das er entwickelt hat, wie er aus seinem Zimmer über die Hauswand genau in einen bereitstehenden Kinderwagen, der gleich losfährt, rutschen kann.

Jedenfalls will Topper das Herz an der Wand weglöschen. Aber wie er sich umdreht, ist es verschwunden. Das Geheimnis kann er nicht für sich behalten. Viggo muss eingeweiht werden. In der Wohnung im dritten Stock wird in Umrissen ein Nashorn an die Wand skizziert und Topper schwört, dass die Zeichnung alsbald verschwinden werde. Wie die Jungs wieder reinschauen in das Zimmer, ist die Zeichnung an der Wand verschwunden – aber, oh Schreck, jetzt steht leibhaftig ein gelbes Nashorn im Raum.

Das Nashorn Otto bringt die Erwachsenenwelt des kleinen Hafenstädtchens in Aufruhr. Die Erwachsenenwelt, die hier immer direkt wie aus unverblümten Kinderaugen gesehen gezeichnet ist, gerne aus den Formen gehend, besonders die Frauen, die Männer mit dünnen Beinen, dicken Bäuchen und Schnurrbärten wie Klobürsten, und die Nasen, die können Fantasien in Gang setzen.

Nichts ist hier lieblich. Die Fantasie bahnt sich ihren Weg ohne Rücksicht auf Konventionen und Nettigkeiten. Die Polizei wird involviert, der Zoodirektor, die Feuerwehr und der Herr Löwe will der Geschichte mit der Feuerwehrspritze ein Ende bereiten, denn Topper schafft es nicht, die Polizei auch nicht und die Feuerwehr auch nicht, das Nashorn aus dem dritten Stock auf die Straße zu befördern und der Stift, mit dem Topper hätte einen Lift zeichnen können, den hat unglücklicherweise das Nashorn verschluckt.

In solch einer Geschichte der wilden, losgelassenen Fantasie bereitet es Rune Schjott, der Autorin und Kenneth Kainz, dem Regisseur, allerdings keine Mühe, die Vatergeschichte und auch die mit dem Nashorn zu einem glücklichen Ende hinzubiegen; es scheinen vor allem die Kinder angesprochen, die noch nicht in kriminellen Zusammenhängern wie Räuber Hotzenplotz denken, die noch fasziniert sind von Figuren, die etwas Kasperlhaft-Fantasievolles haben, die aber ohne große Mühe auf Figuren aus dem Alltagsleben der Erwachsenen, dem Bäcker, der Bäckerin, dem Polizisten übertragen werden können. Im Genre des Kasperltheaters übt sich auch die deutsche Sprecherei. Schön ist, dass Sille Topper für verrückt hält, wobei er ja nur über eine ganz und gar gesunde, anarchische Jungenfantasie verfügt.
Nur wer die Welt mit Fantasie aus den Angeln heben kann, wird sie später verstehen und sinnvoll zusammensetzen können.

Mädelsabend

Eine Frau, Elizabeth Banks als Meg, in einem engen, kurzen, gelben Kleid, großzügig ausgeschnitten und auf High Heels nachts allein unterwegs in L.A. mit nichts in der Hand als einem Autoschlüssel. Wenn das keine männlichen Jagdinstinkte provoziert. Daraus jedenfalls scheint dieser Film seinen Reiz gewinnen zu wollen. Die Frau als gefährdetes Opfer, was sich instinktiv immer selbst in den Gefahren- und Provokationskreis stellt.

Ihr Auto sieht sie auf einen Abschleppwagen gepackt an sich vorbeifahren, darin sind ihre persönlichen Sachen, Geld, Ausweis. Das Handy mit den Telefonnummern, die sie nicht auswendig kennt, hat sie bei ihrem One-Night-Stand liegen lassen, von dem sie panikartig in die Nacht hinaus abgehauen ist, denn da war auch noch eine fürchterliche Katze.

So wird die Frau schnell zum Wild, zum gehetzten Wild, wirkt wie ein Tier, das aus dem Zoo ausgebrochen ist und so mögen manche Männer Frauen gewiss, so sind sie unvermeidlich attraktiv. So sieht das wohl auch Steven Brill, der bei IMDb mehr Credits als Schauspieler hat denn als Regisseur. Er schlachtet diese hilflose Grundsituation genüßlich aus. Hat Freude an all den Figuren, denen Megan Miles auf ihrem Weg in Richtung Abschleppdienst, wo sie ihr Auto weiß, begegnet, auf dem Weg zu ihrem Wagen und den Beweisen jener Identität, die sie als mehr ausweist, denn nur als Frau als reine weibliche Kreatur, die für die Nacht und für die Männer gemacht ist.

Kein Mensch glaubt ihr, dass sie ein anständiger Mensch sei. Und nur wenige erkennen sie als die Nachrichtensprecherin von KZLA6, einem TV-Kanal. Die meisten halten sie für eine Nutte und eine Drogensüchtige dazu. Frauen zum schnellen Gebrauch. Grotesk wird es, wenn sie resolut aus dem Bus rausgeschmissen wird, weil sie den einen Dollar und die 50 Cent für den Fahrpreis nicht aufbringen kann, und wenn der Bus davon fährt, wird auf dessen Rückseite die Werbung für Meg sichtbar.

Auch die Cops sind hinter ihr her. Aber sie kann immer wieder entwischen, sei es mit einem geklauten Fahrrad, sei es in einem weißen Bademantel als unfreiwillige Masseuse, und dann trifft sie just auf den Taxifahrer, den sie vorher betrogen hat, nun das ist schon ziemlich zurechtgebastelt von der Story her. Andererseits wird Meg dadurch selbst zum News-Thema, weil ihr Sender ständig einen Helikopter in der Luft hat, der über den Verkehr in L.A. berichtet und der auf sie aufmerksam wird, wie sie die Autobahn überquert.

Der Rahmen ist für sie insofern kitzlig, als sie am Abend vorher erfahren hat, dass ein anderer Sender, bei dem sie sich in einer biederen Szene als „Anchor“ beworben hat, sich für eine Konkurrentin entschieden hat. Daraufhin hat sie mit zwei Freundinnen auf die Pauke hauen wollen. Bei diesem Mädelsabend kam es zu dem gewagten Kleidertausch mit all den Folgen.

Wie ein Stück nostalgisches B-Movie-Kino kommt mir dieser Film vor, der die pure Kinolust, seine Kinoenergie generiert aus dem winzigen Unterschied zwischen der Frau als reiner Kreatur und der Frau als bürgerlich, namhafter Existenz. Und der diese Differenz so einfach und klar darlegt; nicht innovativ, dafür mit absehbarem Ende und mit Darstellern, die allesamt einem Katalog mit Gesichtsschnittmustern entstammen könnten und die die Komödie im Sinne einer aufgedrehten Tradition munter spielen.

Zoran – Mein Neffe, der Idiot

Die Provinz ist es wert, genauer hinzuschauen. Das hat Matteo Oleotto, der Regisseur dieses Filmes, der mit Daniela Gambar und Pier Paolog Pciarelli auch das Drehbuch geschrieben hat, nach einem mehrjährigen Romaufenthalt erkannt. Seine Heimat, das ist das Friaul. Hier im Film kommt auch das benachbarte Slowenien vor und spielt eine Rolle.

Was der Städter im ersten Moment, wenn er in die Provinz kommt, vielleicht als langweilig betrachten mag, als Ereignislosigkeit, kann sich bei genauerem Hinschauen und wenn man sich die Mühe macht, als Mega-Event erweisen. Oleotto hat mit diesem Film einen ergiebigen Fischzug getan. Eine Erscheinung ist allein die Hauptfigur, Giuseppe Battiston als Signore Paolo Bresson. Seine Körperfülle, sein wildes Haar erinnern an Rübezahl. An eine aufbrausend, unbezähmbare Figur, die nicht imstande oder willens ist, sich an Regeln zu halten oder gar mit jemandem zusammenzuleben. Weshalb seine Ex Stefania mit dem langweiligen Alfio zusammen ist, der zuverlässig wie ein Beamter an ihre Feier- und Geburtstage denkt.

Paolo kann ein Wüterich sein. Er ist hinterhältig. Bei einem Unfall in der Küche (er arbeitet in der Küche eines Altenheimes), den er allein verschuldet, schiebt er die Schuld dem Stotterer Ernesto in die Schuhe. Allein am Phänomen des Stotterns ist die genau Arbeit des Regisseurs erkennbar mit einem Cast aus gestandenen Profis, Laien sowie dem Neuling, dem Ergänzungsspieler zu Paolo, dem im Titel angekündigten Neffen Zoran. Der aus Sicht von Paolo ein Idiot ist. Und der es in sich hat.

Paolo ist cattivo, hundsgemein, selbstgerecht dazu. Wenn sich die Gelegenheit bietet, dem Mann seiner Ex eins auszuwischen, so macht er das. Nächtlicher Steinwurf auf das schöne Anwesen. Und tags drauf scheinheilig dem Alfio helfen, die Überwachungskamera zu installieren. Und der Alkohol. Das Friaul ist eine Weingegend. In der Kneipe wird ein Brettspiel gespielt mit randvollen Weingläsern und eins nach dem anderen muss in einem Zug gekippt werden, egal, ob einer motorisiert ist oder nicht. Auch deswegen hat Paolo die Polizei am Hals.

Paolos Tante in Slowenien stirbt, um die er sich einen Scheißdreck gekümmert hat. So fährt er mit seinem rostigen, lottrigen Bus dorthin. Bringt den Neffen zurück, um den er sich kümmern soll. Das wird sich schnell als Hinterlist entpuppen. Wie er nämlich entdeckt, dass dieser ein hervorragender Dart-Spieler ist, will er mit ihm zu einem Dartwettbewerb nach Schottland fliegen, um damit Geld zu verdienen. Der Neffe ist das pure Gegenteil von Paolo. Eine dürre Bohnenstange, verhemmt, mit Wim-Wenders-Brille, ein stiller Mensch, aufmerksam und lernbegierig. Italienisch hat er aus zwei Büchern gelernt, die er für Meisterwerke hält und die in Italien kein Mensch kennt. Er ist perfekt in den Formen. Nach langer Zeit noch redet er seinen Onkel mit Herr und seinem vollen Namen an. Er wird sich aber auch seinem Onkel gegenüber als lernfähig erweisen. Denn die Liebe hat in ihm ein paar Knöpfe geöffnet. Ganz spröde, wie Oleotto den ersten Kuss nach einer Chorprobe zeigt. Und das Glück, das daraufhin dem Jungen aus allen Poren quillt. Denn wo Grobes, da muss auch Zartes sein.

Im Ort gibt es einen kleinen Männerchor. Der intoniert wunderbar sensibel. Da singt auch das Mädchen mit, zu dem sich Zorans Liebe entzündet. So wie der Regisseur entdeckt mit ihm der Zuschauer diesen Wundermikrokosmos, den er ganz ohne Eitelkeit oder Überheblichkeit, so wie wahrheitsgetreu, so weit das im Kino möglich ist, auf die Leinwand zaubert. Wer sich von städtischer Hektik und Unmenschlichkeit erholen will, der ist hier und zwar nicht im Sinne des Eskapismus, richtig.

No Turning Back

Was mit einem passiert, der ein richtiger Mann sein will.
Eine hintergründige, wenn nicht tief im Inneren eine nicht ganz ironierfreie, auf feinstem handwerklichem Niveau aller Film-Gewerke (Kamera, Kostüm, Ausstattung, Licht und die Spiele damit, Schnitt, Dialoge, Sprachregie, Hörstimmen übers Telefon) höchst elaborierte Erörterung des Paradoxes vom Mann, der zwar ein Mann sein möchte, aber auch rechtschaffen.

Wenn sich das ausgehen soll, dass einer nicht nur ein Mann, sondern auch ein braver Mann ist, kann schon die Welt über so einem zusammenbrechen. Ivan Locke heißt unser Protagonist in diesem exquisiten Film von Steven Knight. Locke wird – und er macht uns ohne Zweifel glauben, er sei die ideale Besetzung, wenn das mal keine Schauspielkunst ist – gespielt von Tom Hardy. Er sitzt den ganzen Film über am Steuer eines verführerisch leicht zu steuernden, schicken BMWs (eine bessere Produktwerbung kann sich ein Geschäftsmann kaum wünschen) und über das Telefon stürmt seine Umwelt auf ihn ein.

Ivan ist der Mann, der obzwar aus beschissenen Verhältnissen stammend, ein rechtschaffener Mann, ein braver Mann sein möchte. Er hat das bis heute auch erstklassig gehandhabt. Er ist zum bestrenommierten Vorarbeiter in einem großen Bauunternehmen geworden. Ist glücklich verheiratet mit Katrina; sie will gerade heute abend ihre Fußballbegeisterung mit ihrem Männerhaus teilen, die beiden Söhne erzählen dem Vater am Telefon freudig überrascht, dass sie heute Abend ein Trikot ihrer Lieblingsmannschaft angezogen habe.

Am nächsten Morgen früh wartet eine ganz spezielle Herausforderung beruflicher Art auf Ivan: das Fundament für ein 55 stöckiges Hochhaus muss gegossen werden; im Laufe der Telefonate wird klar, was für eine logistische Herausforderung das ist; denn der Zement muss stimmen, seine Feuchtigkeit und vor allem das Timing seiner Anlieferung, 335 metrische Tonnen Zement angeliefert von 218 Zementtransportern; das will alles koordiniert sein.

Heute soll aber, und da zeigts sich, dass der brave Mann auch nur ein Mann ist, eine Frau, die nicht unbedingt einem Ölgemälde entstiegen ist und auch schon über 40, die vor allem einsam ist, sich aber auf einer Dienstreise von diesem Mann hat begatten lassen, ein Kind von diesem Mann zur Welt bringen. Dieser einzige Fehltritt in seiner ganzen Ehe, wie Ivan am Telefon treuherzig erklärt, hat also zu einer Schwangerschaft geführt und Bethan, so heißt dieser One-Night-Stand, wollte nicht abtreiben. Heute Nacht will sie das Kind zur Welt bringen. Und Ivan, weil er sich als einen verantwortlichen Mann sieht, möchte zu den Folgen seines Fehltrittes stehen und bei der Geburt dabei sein.

Da die Geburt allerdings zwei Monate zu früh kommt, konnte er seine Frau noch nicht informieren. Der Zeitpunkt ist auch beruflich ungüngstig wegen des morgen früh anstehenden Gießens des Hochhaussockels.

Der ganze Film dreht sich nun darum, dass Ivan auf seiner Fahrt zum Spital einen verlässlichen Ersatz für seine berufliche Aufgabe finden muss, was einiges in Bewegung setzt ( der Ersatz ist ein Trinker, der ab 17 Uhr anfängt zu schlucken, auch seine Vorgestzten sind nicht einverstanden), dass die Geburt selbst mit Komplikationen mit der Nabelschnur verbunden ist, deshalb kommen aus der Geburtsklinik beunruhigende Anrufe und schließlich soll Locke das auch noch seiner ahnungslosen Frau schonend beibringen und schließlich ist da noch das Fußballspiel. Aber ein braver Mann, der nur ein braver, rechtschaffener Mann sein will, der löst das alles bravourös, in Form einer brillanten, filmischen Delikatesse, eines feinen Petit-Fours fulminant.

Notiz am Rande: Ivan weiß gar nichts über Bethan, jetzt im Auto erfährt er erst, dass sie im Gegensatz zu ihm Bücher liest, dass sie sich vorkommt „like waiting for God or Godot“.
Seine Autonummer: ADIO XSJ.
Und weiteres Männlichkeitsideal als flankierender Background: die Beschreibung des Tores zum 3:1 am Telefon durch Sohnemann, der Held: Caldwell.

Cuban Fury – Echte Männer tanzen

Mit dickem Pinsel und mehr Spaß an der Freud als am glaubwürdigen Realismus zeichnet James Griffiths in flottem, launigem Rhyhtmus, die gut 90 Minuten gleiten rasend rasch vorüber, nach einem Drehbuch von Nick Frost und Jon Brown diesen, hm, Spleen eines rundlichen Darstellers, Nick Frost als Bruce, der davon träumt, seinen öden Job als Zeichner mit bombigem Salsatanzen zu kompensieren; dadurch auch das „Corazon“, das Herz wiederzufinden, was der Alltagstrott und neidisch gesinnte Kollegen für lange Zeit zum Schweigen gebracht hatten.

Es sind diese erdig-grundierten, britischen Rots und Grüns, Farben, die den soliden Hintergrund für den Traum abgeben. Das ist ja erlaubt, im Kino zu träumen, wird sich Nick Frost gesagt haben, der die Idee zum Film hatte und auch die Hauptrolle spielt. So können die Dialoge gesehen werden, in gut verständlicher Prononcierung deftige Pointen aneinanderzureihen; was Männer beschäftigt, das Abrasieren der Brusthaare, das künstliche Bräunen, die Fantasie von einem schwulen Mann in der Nähe, der ein gutaussehnder Inder ist, zuständig für die homoerotische Komponente, die dem Tanz und männlichen Tänzern gerne zugeschrieben wird und der Verständnis für den Tanz hat, Frauenfantasien, Eier-Waxing und andere gesalzene Sprüche und Vergleiche.

Eine Sprücheklopfkomödie, Kino als lockere Flachserei, wie unter Leuten, die guter Laune sind: du hast seit den 90ern keine Frau mehr erwähnt. Kommentar zu einem Promovideo der Firma: daran denke ich, wenn ich nicht zu schnell kommen möchte. Du bist nicht behindert, du bist verheiratet. Ich musste die Pailletten schlucken und den BMX-Jungs einen blasen. Die Bademilch von sexy Salben hat wohl deine Haut gereizt. Wie kannst du etwas so ernst nehmen (gemeint ist Corazon), das nach einem Dip benannt ist. Lass uns das Essen streichen und gleich zum Pudding übergehen. I woud be honoured, if you let me fuck you.

Sicherlich gibt’s einen Anlass für den Traum. Erstens war Bruce als Bub ein großartiger Salsa-Tänzer, hat Wettbewerbe gewonnen. Aber wie die nationale Meisterschaft bevorsteht und er auf dem Weg zum Tanzsaal ist mit seinem violetten Paillettenkleid, da wird er von Burschen übel zugerichtet und als „pussy“ verspottet, worauf er nicht hingeht ist und nie mehr tanzt. Das war vor 25 Jahren, in den 80ern. Bis er eine neue Chefin bekommt, von der ruchbar wird, dass sie auf Salsa steht – und er auf sie, was auch hier nur theoretisch, nicht aber empirisch nachvollziehbar dargestellt ist. Die Behauptung allein muss reichen für das Vergnügen, werden sich die Briten gedacht haben, denn das ist doch die Eigenschaft von Brit-Kitsch, dass er zwar süß und schwer wie ein Plumpudding aber eben kein Kitsch ist.

Wobei die Grundannahme bleibt: dass ein Dicker, Wampiger, der eine gewisse Beweglichkeit zeigt, eine Faszination ausübt: schon rein physisch. Denn auf dem Parkett bei dem Wettbewerb wird allzu deutlich sichtbar, dass es mit dem Tanzen nicht so weit her ist bei Bruce im Vergleich zu den anderen Tänzern, aber das wird der guten Laune wegen nicht allzu deutlich gezeigt.
Zu dieser Art britischen Humors gehört auch, dass tüchtig Schnaps gekippt wird – auch vor dem Tanzwettbewerb.
Mit liebevoll witzigem Abspann.
Ein fröhlich britisch-saftig-erdiger Spleen.

Dr. Ketel (DVD)

Ihr sozialpolitisches Statement zur Bedrohung der Gesundheitsversorgung in Deutschland geben Linus de Paoli (Buch und Regie) und Anna de Paoli (Buch) sehenswert in einen Mystery-Noir-Thriller-Mix verpackt deutlich ab, ein kleines Leckerstück für den Kinofreund.
Statt der Schatten von Neukölln, könnte man auch sagen, ein Schatten liegt über Neukölln. Wie ein Schatten auf der Lunge. Es ist nicht weit von hier in die Zukunft hochgerechnet der Schatten des Gesundheitswesens, welches in einer immer weiter auseinanderdriftenden Gesellschaft längst nicht mehr alle Menschen erfasst (es gibt ja heute schon, trotz Krankenkassenpflicht, diskrete Hilfsorganisationen, die Menschen ohne Krankenkasse kostenlos behandeln).

Dr. Ketel kümmert sich als hilfsbereiter Arzt im nicht allzu florierenden Neukölln um die Gesundheit von Außenseitern, Armen, Drogenabhängigen, Immigranten, Obdachlosen, um Menschen ohne Krankenversicherung und wenns an Mitteln mangelt auch mit unkonventionellen Methoden: Wundbehandlung am Bein mit Wodka und gegen den Schmerzensschrei steckt er dem Patienten einen Knüppel im Mund.

Die Rolle ist dem Hauptdarsteller Ketel Weber auf den Leib geschrieben. Er ist eine Figur, um die herum man einen Film bauen kann. Er ist ein Kopf größer als alle anderen, und wenn man ihn noch in einer Art geheimer Mission kontinuierlich in einen Mantel steckt und durch das triste, in schwarz-weiß gedreht noch tristere Film-Noir-Neukölln gehen lässt, so wirkt er wie ein Geheimnisträger, einer der ein geheimes Ziel, einen geheimen Auftrag hat – den Zuschauer mit der Frage beschäftigend, was treibt diesen Mann?

Dr. Ketel bricht in Apotheken ein und besorgt sich Medikamente. Er ist befreundet mit der Apothekerin Karo, Franziska Rummel, die ihm bald auf die Schliche kommt und ihn diskret unterstützt. Ganz so sauber ist das Tun von Dr. Ketel nicht. Denn er ist gar nicht Arzt, er gibt sich nur als solcher aus. Er war Krankenpfleger. Das ist er nicht mehr. Er lebt als Hausmeister in einem heruntergekommenen Haus, das er weiter verkommen lässt, worauf der Hausbesitzer die Nerven verliert und ihn rausschmeißt. So wird Dr. Ketel selbst zum Obdachlosen, was ihn allerdings von seinem Tun nicht abhält.

Lou Castel als Dr. Wissmann ist eine weitere, eindrückliche Figur in diesem Film, dem Paoli mit gutem Feeling und großartiger Schauspielerführung zu interessierter Aufmerksamkeit verhilft. Wissmann kennt die Geschichte von Ketel und will nichts mehr mit ihm zu tun haben, kann aber einem Türkenjungen, den der falsche Arzt mit einem Info-Zettel vor der Klinik ablegt, die Hilfe nicht versagen.

Ein Bericht darüber, was das Tun des Dr. Ketel ist, das ist die eine Seite in diesem Film. Genau dieses geheime Tun von Dr. Ketel wird aber auch beobachtet, das zeigt das zweite Kapitel. Das ist überschrieben mit „Louise“. Sie wird dargestellt vom internationalen Star Amanda Plummer. Wie die Filmemacher sie gewinnen konnten, das kann man im Kommentar der Filmemacher auf der DVD erfahren. Da diese sich gerne von ihren Schauspielern inspirieren lassen, wächst also die Ermittlungs-, die Beobachtungsseite des Tuns von Dr. Ketel zu einer eigenen Geschichte. Hier wird Dr. Louise Llewellyn, Armanda Plummer, vorgestellt, wie sie auf raffinierte und diskrete Weise Ketel beobachtet und beobachten lässt durch die Teilnehmer eines Security-Seminars. Einem davon, Ercan, Burak Ygit, ist Dr. Ketel längst schon aufgefallen, wie er um die Apotheken schleicht. Kleines Apercu: in Berlin Tegel wartet ein Fahrer auf Mr. Llewellyn, obwohl es sich doch um eine Frau handelt, das leichtfertige, vorurteilsbehaftete Denken der Security-Branche? Überraschenderweise zieht sie das Fahren in der Rikscha dem Eingesperrtsein in einer deutschen Blechlimousine vor. Was dem Film den Reiz eines attraktiven Rikschafahrer beschert, der später noch für eine überraschende Wendung gut sein wird. Außerdem bietet dieses Kapitel die Möglichkeit eines philosophischen Exkurses im Referat von Dr. Llewlyn über Connectedness der Materie und das Wasser (über die Beeinflussung gefrorenen Wasser durch Musik) und die Position eines japanischen Forschers zum Thema und überhaupt über Selbstfindung und damit letztlich über das rechte Handeln des Menschen.

Dabei schreckt der Film nicht vor Horror- und Fantasy-Elementen zurück. Um den schwarzen Klumpen aus einem lava-basalt-ähnlichen Material, den der Protagonist an einer Stelle aus seinem Mund herauswürgt, lassen sich Fantasien und Mysterien ranken. Auch der Werdegang von Dr. Llewellyn ist nicht stromlinienförmig, dabei spielen Ausbruch aus dem Karrieredenken, Backpacking, Hokaido, Meditieren und eine gute Freundin wesentliche Rollen für dieses Beispiel der Entwicklung einer Persönlichkeit.

Felix Raffale akzentuiert die Handlung im Film musikalisch messerscharf.

Für den Film vereinnahmt mich ferner die exzellente Schauspielerführung und beachtliche Figurentwicklung. Gute Inszenierung auch von Reaktionen, von kleinen Reaktionen des Zuhörens, des Beobachtens.

Ein Film aus einer gesellschaftlichen Grauzone, angereichert mit fiktiven Zukunftselemente, Horrorelementen, Film-Noir-Elementen und aktuellem Berliner Grauzonenmix.
Wobei, die Schildkrötensymbolik, hats die wirklich noch gebraucht?

Das Schicksal ist ein mieser Verräter

Dieser Bestseller um die existentiellen Themen „große Liebe und früher Krebstod“ von John Green wurde hier von Scott Neustadt und Michael Weber zu einem Drehbuch umgearbeitet, das Josh Boone dermaßen in Watte und Feelgood verpackt und in eine Wolke aus Wohlfühl-Niemandem-Weh-Tun-Sound gehüllt hat, dass selbst der Alt-Männer-Zynismus eines William Dafoe als holländischer Autor Peter van Houten wie die süße Beilage zu einem feinen Crèpe wirkt, so dass sich bei mir nach über zwei Stunden ein gewisses Völlegefühl, eine gewisse Gesättigtheit an Feelgood-Tumor eingestellt hat.

Das Sterben kann eine mühsame und langwierige Angelegenheit sein und muss sich erst recht hinziehen, wenn die Filmemacher sich für eine Art Daily-Soap-Kino-Performance entschieden haben. Das wirkt anfangs gewinnend. Es wird dezidiert, wie es heute allerdings auch keine Sensation mehr ist, das Thema Tumor angegangen. In der kirchlichen Selbsthilfegruppe, die über einem Teppich mit dem Herzen Jesu tagt und deren Leiter ein Hodenkrebs ist, werden sich unsere beiden Protagonisten kennen lernen. Es sind dies Hazel, Shailene Woodley, die an der Lunge angegriffen ist, leicht sammelt sich da Wasser; sie ist ständig an eine mobile Sauerstoffzusatzversorgung angeschlossen und Augustus, Ansel Elgort, der schon ein halbes Bein weg hat, der jedoch im Moment des Kennenlernens als geheilt gilt.

Der Film lässt sich Zeit für die Schilderung der besorgten Eltern, des Vorstellens der Krankheiten und schließlich des Kennenlernens der beiden. Die Frage steht im Raum, kann es sich noch lohnen zu lieben, wenn man bald sterben wird. Auch die Frage, die Augustus umtreibt, ob man bald vergessen werde. Die Liebe der beiden wird die Antwort darauf sein, die ein unglaubliche Liebe sein muss.

Die Liebe führt Hazel und Augustus für einige Tage nach Amsterdam auf der Suche nach dem Autor, dessen Buch ihnen wichtig ist. Dort erleben sie eine Abfuhr, aber es gibt auch einen breit geschilderten emotionalen Besuch im Anne-Frank-Museum und in der obersten Dachstube einen intimen Kuss inklusive Applaus der umstehenden Touristen. Daily Soap will nichts auslassen, was augenfällig ist.

Ein Rückfall von Hazel. Der erneute Ausbruch der Krankheit und das Streuen der Metastasen bei Augustus. Das ausführliche Ausdenken der Trauerfeier, die Proberede bis zu Ende von Augustus, der schneller war.

Die deutsche Synchronisation benimmt sich feierlich, voller Respekt für das Sakrale an so einem Tumor-Feelgood-Movie. Mit der Hauptdarstellerin habe ich etwas Mühe, sie fasziniert zwar anfangs mit ihren distanzierten Blicken, aber scheint sich dann nicht ganz für die Rolle zu öffnen, im Gegensatz zu ihrem Freund, einem schauspielerischen Nachwuchsvollblut.

Schöner sms-Satz, wie Funkstille zwischen Hazel und August herrscht, weil sie ihn nicht durch ihren Tod verletzen will (also man sieht: das Thema ist urmenschlich) „Dein Schweigen ist ohrenbetäubend“. Dafür sitzen sie bald darauf auf der „Schaukel der Tränen“.

Die Grundstimmung über weite Strecken im Film hinreißend, und so auch vom Film selbst apostrophiert, speziell in Amsterdam um das Abendessen im feinen Lokal „Oranje“, wozu August nach Meinung von Hazel den „Todesanzug“ angezogen habe. Solche Zitate können verständlich machen, worin der literarisch erfolgreiche Wert des dem Film zugrunde liegende Romanes liegt.
Die Kamera von Ben Richardson wirkt in diesem Film, als wolle sie den Liebenden-Sterbenden die Hand auflegen.

Einmal Hans mit scharfer Sosse

Ein Film aus der Abteilung „Türken sind anders als Deutsche“, die gerne aus deutschen Zwangsrundfunkgebühren, sprich Fernsehsendergeldern der Öffentlich-Rechtlichen gehätschelt wird zum Beweise von Offenheit und Toleranz hierzulande. In der IMDb steht sogar, dass es sich um ein TV-Movie handele. Dem ist nicht zu widersprechen. Zu fragen bleibt, wieso wer dieses mit welchen Hoffnungen ins Kino bringt.

Hatice ist die Hauptfigur im Film. Das ist auch der Vorname von Frau Akyün, die ein autobiographisches Buch über ihr Leben als Frau in Deutschland geschrieben hat, einer Frau, die bei allen ihren Entscheidungen einen Mann oder ein türkisches Dorf im Hinterkopf hat; diese traditionellen, altmodischen Dorfbewohner in Pluderhosen werden witzig als verkleinerte Figuren auf einem Koffer oder einem Tisch eingeblendet.

Ruth Thoma wiederum hat versucht, nach diesem Roman ein Drehbuch für eine Filmkomödie zu schreiben, das den Fernsehentscheidern offenbar ganz gut gefallen hat, was aber mangels Komödienwissen kaum Zuschauer in die Kinos locken dürfte. Wobei die Verantwortung dafür mit der Regie von Buket Alakus zu teilen wäre.

Mein Problem mit diesem Film und warum er mir so furchtbar spießig erscheint, ist, dass in solchen Filmen immer nur darauf hingewiesen wird, dass und wie die Türken anders sind – und im Vergleich zur deutschen Kultur doch generell minderbemittelt, dass eben auf die Unterschiede, meist oberflächlicher Art, hingewiesen wird, dass aber außer Acht gelassen wird, dass die Menschen vor dem Grundgesetz alle gleich sind (das heißt jetzt nicht, dass nur schon das Wort vorkommen muss); aber das ist ein Rechtsgefühl, womit einer oder eine in so einem Konflikt argumentieren könnte: und die prononcierte Artikulation dieses Rechtsgefühls dürfte in einem Film erwartet werde, der vom Gebührenzahler zwangsfinanziert wird, der also einer Grundgesetzstichprobe standhalten müsste. So ein Film muss im Sinne des Grundgesetzes sein, denn in dessen Sinne werden die Zwangsgebühren erhoben und eingetrieben.

Die Story: Hatice ist bald 35 und noch nicht verheiratet. Ihre jüngere Schwester ist schwanger und muss dringend heiraten, weil eben Türken anders sind als andere. Der Vater lässt sie aber erst heiraten, wenn die ältere Schwester unter der Haube ist, auch das aus eben dem Grund, weil Türken anders sind als Deutsche. Die ältere Schwester muss nun, um der Jüngeren die Heirat zu ermöglichen, innert einem Monat einen Mann finden. Sie will aber keinen Türken. Sie will einen Mann, der anders ist als die Türken. Auch dies nach äußerst äußerlichen Merkmalen bestimmt.

Das Buch unterlässt es allerdings, die Tiefe des Konfliktes von Hatice zu eruieren und für die Komödie nutzbar zu machen. Sie untersucht nicht, warum sie sich als Frau nicht türkisch benehmen will. Sie macht den Zirkus vom Vater mit, sie hat offenbar den Konflikt nie in der Familie ausgetragen. Jedes Mal wenn sie nach Salzgitter kommt, ein Running Gag, zieht sie an einer Stelle beim Ortsschild in offener Landschaft den kurzen Rock aus und zieht einen langen an. An sich wäre das ein lustiger Gag. Aber die Filmemacherinnen unterlassen es, den mit komödiantischem Esprit für die Komödie auf die Höhe zu treiben, die Komödie an der Sache richtig fachgerecht herauszudestillieren.

Dieses Spiel mit der Aussage, dass Türken anders seien. Es werden hier spießig und niedlich die Unterschiede nebeneinander aufgereiht. Für alle, die es noch nicht wissen, weil sie noch keine „Türken-sind-anders-als-Deutsche“-Filme geschaut haben, wird hier ausgiebig türkisch gekocht und gegessen.

Auf der Männersuche findet sie einen, der ihr wie die Türken ein schönes Kompliment sogar auf Türkisch macht, das er aus dem Handy zaubert. Während die Frauen darüber reden, dass sie Sperma total eklig finden. Vielleicht das Problem, dass es nur um das Haben geht und nicht um zwei Personen, die sich kennenlernen und wo Zeit wäre, dass der Funke überspringen kann.

Bei der hier praktizierten inhaltlichen Verkürzung müsste die Komödienmechanik eingesetzt werden um diese Defizite wieder zu kompensieren; das ist nicht passiert, aus mangelndem Wissen oder schlicht aus mangelndem Interesse oder zu ängstlichem Klammern an den Roman, zu wenig Bewusstsein für die Differenz zwischen Prosa und Drehbuch; aber darin sind sich die meisten Filme im Filmland ähnlich, ob türkisch oder deutsch.

Viele Szenen sind nicht gut gearbeitet oder sie sind nur zitiert, das wirkt wie ein nicht ganz gebackener Kuchen, zu teigig oder zu dünn. Das Detail, wie es mit dem Bezahlen stehe, dass bei den Türken die Männer selbstverständlich bezahlen im Restaurant. Zu billige Drehbucharbeit von Frau Thoma. Sie hat den Roman genommen und versucht Szenen daraus zu machen ohne Berücksichtigung der Zuschauerwahrnehmung im Kino, die deutlich unterschieden ist von derjenigen eines Romanlesers. Also fachliche Einwände, die nochmal die öffentliche Förderung durch Zwangsgebührengelder direkt in Frage stellen.

Wirkt stellenweise wie ein Film über das Ausprobieren von Schuhen, quasidokumentarisch, das Ausprobieren von Männern: oberflächlich, umso mehr, als die Hauptfigur nur mit einem äußerlichen Problem konfrontiert ist: sie soll ihrem Vater zuliebe einen Mann, einen Hans vorstellen; damit Papa in die Hochzeit der jüngeren Schwester einwilligt. Das Schönheitsideal der weiblichen Darstellerinnen ist eindeutig: makellose, orientalische Schönheit, womöglich harmonisch harmonisierte Gesichtszüge, wie auch immer. Das wird leider nicht thematisiert, ist aber auch eine der Lügen und Liebesbezeugungen wirken dadurch verdammt falsch, wenn sie so tun als ob sie echt gemeint sind. Sie wirken selbst alle wie falsche Hanse. Der Vorlageroman zu diesem Film mag unterhaltsam sein; an den fachlichen Qualifikationen, daraus ein Drehbuch zu machen, mangelt es enorm. In diesen Film haben Zwangsgebührengelder gelenkt: der NDR als Koproduzent, Intendant Lutz Marmor, arte, Präsident Véronique Cayla und als Förderer: nordmedia fonds GmbH, Geschäftsführer Thomas Schäffer.

Oktober November

Verquickung zweier Themen: Weibliches Startum und männliches Krebssterben.

Alte Geschichten in erfrischend heutiger Kinosprache leicht erzählt, die Geschichte vom Künstlertum, vom Schauspielerstar Frau Berger, einem Star blasé, nein, nicht die Senta, aber ein Schelm wer bei diesem Namen nicht an sie denkt, hier spielt Nora von Waldstätten die Schauspielerin Frau Sonja Berger. Diese leidet noch nicht unter Rheumatismus. Sie ist in einer jungen Erfolgsphase, dürfte bereits an ihrem perfekten Gesicht haben arbeiten lassen. Sie spielt gerade in einem Fernseh-Krimi. Die Frage, ob sie die Mörderin sei. Sie gefällt ihrem Filmpartner.

Die Frage des Buches und der Regie von Götz Spielmann: kann man so einer Frau vertrauen, ist irgend etwas glaubwürdig an ihr, an ihren Gefühlen, ist das nicht alles nur gespielt, alles nur Pose? Der Star und die Sphinx. Sie hat einen Hintergrund, eine Herkunft. Das ist ein Bergtal in Österreich. Dort hatten ihr Eltern eine Kneipe. Die hat ihre Schwester Verena mit ihrem Mann übernommen. Die Mutter ist vor nicht allzu langer Zeit gestorben, dem Vater geht es nicht mehr gut. Ihre Schwester wird gespielt von Ursula Strauss. Sie ist zuhause geblieben. Hat sich um die Mutter und den Vater gekümmert. Hat einen netten Michael geheiratet und sie haben einen kleinen Buben. Glücklich ist sie sicher nicht. Sie ackert, möchte es allerdings nicht so wie ihre Mutter halten, die überhaupt keine Zeit mehr zum Atmen hatte.

Verena fängt mit einem neu zugezogenen Arzt, der seine eigenen Gründe und seine eigene Geschichte hat, allein auf dem gottverlassenen Land zu praktizieren, Sebastian Koch, ein zartes Verhältnis an. Das lässt sich umso leichter bewerkstelligen, als ihr Vater öfter den Arzt braucht. Weil es dem Vater schlecht geht, kommt jetzt auch Schwester Sonja nach Hause. Sie, sicher leicht bis heftig schauspielerinnennymphomanisch, kann die Blicke nicht vom Arzt lassen und entdeckt bald die Beziehung ihrer Schwester. In einer Auseinandersetzung macht Verena ihrer Schwester klar, dass es nicht ihr freiwilliger Entschluss war, hier zu bleiben.

Wunderbar an diesen beiden Schauspielerinen ist, dass man ihnen die Schwestern wirklich abnimmt, umso mehr als Sonja in den ersten Szenen makelloses Hochdeutsch spricht und dann in Österreich das dort familiäre Idiom wieder zum Vorschein kommen lässt, ein Besetzungsqualitätsakt, der von der Inszenierung her kongenial genutzt wird.

Themenbedingt gibt es einige Film-im-Film-Szenen, die der Frage nach Echtheit und Glaubwürdigkeit und gibt es bei einer Schauspielerin überhaupt einen Unterschied zwischen Spiel und Leben, nachgehen. Eine schöne Szene unterm Gipfelkreuz eines Hügels, wie Sonja am Handy ein Angebot ihrer Agentin ablehnt. Das hat etwas Religiöses, umso mehr als gleich eine fromme Pilgerschar sich des Gipfels vaterunserbetenderweise bemächtigen wird. Hier kann ich mich freuen über ein schönes, ein waches Kino.

Allerdings bringt es die alten Geschichten nicht auf eine Art neu, dass sie mir viel zu denken geben würden, dass sie mich groß über das Kino hinaus beschäftigen würden. Also weniger Forschungsarbeit als gepflegtes, recht kulinarisches sogar, Kulturrepertoire, allemal viel erfreulicher als viele dieser hochsubventionierten, deutschen Themenfilme.

Vielleicht war Spielmann in einige Szenen zu verliebt und hat deshalb auf sinnvolle Kürzungen verzichtet: beispielsweise, wenn an einem Szenenende der Bub noch lange in der aufgestuhlten Kneipe Rollschuh fährt und der Schnitt erst dort einsetzt, wo er sich auf einen Stuhl gesetzt hat und anfängt die Rollschuhe auszuziehen. Auch das Sterben des alten Bergers, das wirkt zu ausgewalzt, das ist auch kaum zu spielen, weil es ja andererseits doch wieder verkürzt werden muss; das sind Entscheidungshalbheiten, die dem Film eine Schwere zufügen. Wobei es beim richtigen Sterben sowieso sicher jede Menge von Varianten und Rhythmen auch mit dem Todesrasseln gibt. Je länger so eine Szene dauert, desto schwerer zu spielen.

Vielleicht wäre es dem Film zuträglicher gewesen, wenn Spielmann sich immer wieder auf sein eines Thema, das Schauspielerinnenstartum, zurückbesonnen hätte. Die Themendoppelung lässt den Film extensiv erscheinen. Umso schöner leuchtet plötzlich der Herbst in den Film hinein, wenn er sich vom städtischen Drehort in die österreichische Berglandschaft begibt. Da braucht es nicht mehr so viele Toiletten-Bad-Spiegelszenen.

Dass die Betrachtungsweise von Götz Spielmann möglicherweise doch mehr sentimental denn analytisch ist, beweist der kleine Widerspruch mit dem dick aufgetragenen Vergleich von Star und dem Fisch, der auf dem Felsen mit wenig Wassertropfen hilflos sich bewegt: so ein Fisch schnappt nach jedem Tropfen Wasser und würde, und wenn Rolle und Buch noch so schwach wären, eine Film- oder Fernsehrolle garantiert nicht absagen. Das aber tut Frau Berger hier.