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Kommentar zu den Reviews vom 9. Januar 2025

Das Kinojahr nimmt volle Pulle Fahrt auf, keine Zimperlichkeiten hier! In Britannien wird eine Traumtänzerfigur bei einem schwierigen Coming-of-Age die Rettung sein. Düster nordisch flattert das Thema von ungewollten Kindern über die Leinwand. Mit grosser, polnischer Kinokelle wird ein politischer Möchtegernegross entlarvt und in Windeln gewickelt. Einen historischen Wendepunkt in Medien- und Terrorgeschichte hat sich das deutsche Kino vorgenommen. In Israel wird zum Begreifen der unbegreiflichen politischen Lage auf das absurde Theater zurückgegriffen. Locker und mit gängigem Schmäh gehen die Österreicher den Raubtierkapitalismus an. Und ein Engländer verhackstückt die brutalen Dramen, die ein Krebs-Melo mit sich bringen kann. Auf TVoD wird Verständnis und Mitgefühl für Autismus auf einschmeichelndem Kinoniveau geweckt. Und im Fernsehen trauen sich die Öffentlich-Rechtlichen schonungslos an die Negativseiten des Alkohols.

Kino
BIRD
Traumtänzer als stabilisierender Coming-of-Age-Begleiter im prekären Britannien

DAS MÄDCHEN MIT DER NADEL
Diese irrwitzige Nähe von Menschenfreundlichkeit, Geschäft und Horror

PUTIN
Grad gut genug als Exploitationmaterial für die Genrefilmerei

SEPTEMBER 5 – THE DAY TERROR WENT LIVE
Illustration eines Stückes Mediengeschichte anhand eines berühmten Terroranschlages – sehr ordentlich erzählt.

SHIKUN
Ionesco und der Irrsinn in Nahost

VENI VIDI VICI
Die Auswüchse des Kapitalismus lustvoll als alte Leier besungen

WE LIVE IN TIME
Ist dieser verhackstückt servierte britische RomCom-Humor vielleicht zu schwierig für unsereins?

TVoD
EZRA
So wunderbar verdaulich und mit so viel Gutgefühl wurde Autismus wohl selten im Film behandelt.

TV
DIRTY LITTLE SECRETS: WARUM WIR IMMER WEITER TRINKEN
Alkohol ist Droge, Alkohol ist Gift, das tägliche Gläschen Rotwein fürs Herz eine Mär.

We Live In Time

Wir leben in der Zeit. Wir passen uns der Zeit an, wir passen uns den Erzählweisen des modernen Kinos an, wir wollen nicht anecken, wir wollen anspruchsvoll sein, wir wollen so tun, als seien wir zeitgemäß und anspruchsvoll, das scheint der Untertext von Regisseur John Crowley und Drehbuchautor Nick Payne zu ihrem Kunstwerk zu sein.

Modern sein heißt so nicht nur, von der ersten Sekunde an eine extrem austauschbare Feelgoodmusik fett auf die Tonspur zu drücken, es bedeutet auch diese verhackstückten Erzählsprünge in der Zeit hin und her und den Zuschauer ein bisschen in der Luft hängen lassen.

Einmal gibt es eine genauere Zeitangabe auf der Einladungskarte zur Hochzeit von Almut (Florence Pugh) und Tobias (Andrew Garfield), beides unzweifelhaft erstklassige Schauspieler und die Verhackstückung der Erzählung ist nicht ihnen anzulasten.

In einer Szene ist blühender Frühling auf dem englischen Land und im nächsten Moment ist Weihnachten. Einmal ist Almut schwanger, im nächsten Moment ist sie bei der Chemo und im übernächsten ist sie als Karriereköchin bei einem Bocuse-Kochwettbewerb.

Dann ist die Familie glücklich zusammen mit Kleinkind, und im nächsten Moment vergessen beide Elternteile, das Kind aus dem Rainbow-Hort abzuholen, lassen es im Regen mit Betreuerin stehen. Und schon kommt das Kind in einer spontanen Geburt auf dem Behinderten-Clo einer Tanke zur Welt.

Sie hat einen Beruf, sie hat ein Karriereziel. Schon gibt es in ihrem eigenen Lokal ‚Weißwurst amuse-bouche‘ als Vorspeisenplättchen (Indiz für dezidierte Humorintention) und dann wieder versucht der Papa der Hochschwangeren aus einer viel zu engen Parklücke auszuparken.

Es gibt Arztbesprechungen und die Zeit läuft bei den Proben zum Kochwettbewerb. Dann muss sie kotzen. Oder ihr Küchengehilfe Jade (Lee Braithwaite). Einmal gibt es eine Einladung bei der Familie von ihm. Gehacktes und Geschnetzeltes aus Szenen. Ein Verwirrmenü als moderne Love-Story. Und immer wieder als Würze die Krebsgeschichte dazwischen. Bange Schwangerschaftstests.

Am Schluss fröhliches Kochen mit Eierzertrümmern von Papa mit Kind, wie für das Poesiealbum der Oma gemacht. Tobias scheint auch einen Beruf zu haben, bei dem er für ein Casting offenbar im Hotel übernachtet. Merkwürdiges Hotel, er soll einen Vertrag unterschreiben, der Schreiber tut nicht, zeitgemäße Details, so läuft er im Morgenmantel über die Straße um Schreibstifte und Süßigkeiten zu besorgen, was ist das für ein Hotel, wo es zwar Bademäntel aber keine Stifte gibt. Dann wird er hops überfahren. Trägt Halskrause. Hat Erinnerungslücken. Alles, was das Leben kunterbunt durcheinanderschreibt.

Dann wieder Liebe machen mit seiner Frau vor ihrer Chemo. Und Nasenbluten bei einem Kochwettbewerb ist – logo – hinderlich. Krankheitsbefindlichkeitsfilm? Eheproblemfilm eines modernen Paares? Auf jeden Fall gibt es bei der Ärztin gegen Magenknurren Leckerli. Vielleicht gibt es ja Menschen, die das alles interessiert – es sei ihnen unbenommen, das bekommen sie hier. Oder es handelt sich um einer Art britischen RomCom-Humors, den zu verstehen wir hierzulande nicht unbedingt in der Lage sein dürften.

Veni Vidi Vici

Ethik ist pure Zeitverschwendung,

meint die 13-jährige Paula (Olivia Goschler). Als Strafunmündige berichtet sie hier und als gelehrige Schülerin eines Ellbogen-Kapitalismus mitten aus dem Auge des Investorensturmes, aus dem Familiensitz der Maynards. Sie lernt das Böse wie ein Trump es in The Apprentice tut. Sie ist ethisch gereift, einen Ladendiebstahl mit Freunden begründet sie damit, dass man alles verdiene, was man tue, solange man nicht erwischt wird, denn Leistung müsse sich lohnen.

Der Film von Daniel Hoesl, der mit Julia Niemann auch das Drehbuch geschrieben hat, könnte inspieriert sein durch René Benko. Amon Maynard (Laurcence Rupp) ist der Investor, der vor nichts zurückschreckt, topfit ist und souverän im Umgang mit Gewehren. Er lebt in einer Villa fast noch protziger als diejenige des russisch-armenischen Oligarchen in Anora.

Es gibt den Butler Alfred (Markus Schleinzer), Personal, jede Menge Porsches in der Garage, Sicherheitspersonal und eine moderne Patchworkfamilie mit Kindern der Ex, Adoptivkindern und der krampfhaften Bemühung, mit der jetzigen Frau (Ursina Lardi) welche zu zeugen.

Eine Reihe von Morden beunruhigt die Öffentlichkeit offenbar nicht allzu sehr. Journalist Carkitta (wer den spielt ist aus der Besetzungliste bei IMDb nicht ersichtlich) ist dem vermuteten Täter Maynard auf den Fersen.

Souverän besingt Daniel Hoesl wie eine Ballade die Geschichte dieses Wirtschaftsverbrechers und Kriminellen, der Menschen abschießt wie Karnikel, und der mit der Politik verbandelt ist, wie Österreich es bestens kennt, siehe die Ibiza-Affäre.

Wie abgedroschen die Geschichten sind, belegt er mit entsprechend abgenudelten Erfolgsmelodien, die er auf die Tonspur legt. Lustvoll performt das Ensemble die alte Leier.

Shikun

Sich zum Nashorn machen
oder
vom Irrsinn der israelischen Gesellschaft

Diesen Film hat Amos Gitai, der mit Marie-Jose Sanselme und Rivka Gitai auch das Drehbuch inspieriert von Die Nashörner von Eugene Ionesco verfasst hat, noch vor dem Irrsinn der Terroranschläge vom 7. Oktober 2023 und des seither anhaltenden Irrsinns der israelischen Vergeltung in Gaza gedreht, die einem Vernichtungskrieg gleich kommt.

Solcher Irrsinn baut nicht auf Nichts. Der Irrsinn des Zweiten Weltkrieges, des Faschismus, des Holocaust bewog Ionesco 1957, das Stück Die Nashörner zu schreiben, was in Bezug auf Absurdität seither nichts an Gültigkeit verloren hat.

Es geht um den Irrsinn des Mitläufertums und der Verdrängung desselben. Amos Gitai siedelt seinen Film in einem Sozialwohnblock in Be‘ er-Sheva an mit Blick auf die Mauer. Es ist ein Block in der schauderlichsten Architektur brut.

Die Eingangstüren zu den Wohnungen sind über lange Balkone erreichbar. Unterirdisch gibt es ein Labyrinth an Kellergängen und einen Busbahnhof.

Eine Lehrerin (vermutlich Yel Abecassis) unterrichtet hier wohnende Einwanderer in Hebräisch. Sie kommen aus Russland, Indien, ein Vielvölkergemisch mit wenig gemeinsamer Kultur. Es wohnen auch Arabisch sprechende Familien hier.

Bauherren diskutieren in den Gängen über Neubauten, ein wichtiges Thema dabei ist, dass eine Synagoge dabei sei und das Verkaufsargument der Sicht aufs Meer, was aber eine Sicht auf Jerusalem sei.

Eingeführt wird der Film von der Erzählerin, das muss Irène Jacob sein, die auf Französisch gleich das moralische Hauptthema vorgibt, ob und wie man sich in Geschehnisse involvieren lassen solle, besonders wenn sie vor der eigenen Haustür sich abspielen. Sie wird auch das Nashorn entdecken, das durch die Straßen läuft.

Immer mehr Menschen mutieren offenbar zu Nashörnern. In einer Schreinerwerkstatt werden konkret die Hörner angefertigt, die mit einem Tuch um den Kopf gebunden werden können.

Das ist das zentrale Thema des Filmes, sich anpassen oder Widerstand leisten, mutieren und mitlaufen oder nicht.

In einem Antiquariat wird der Holocaust literarisch evoziert anhand eines Kinderbuches mit Erzählungen von Kindern, die in Theresienstadt waren und von einer Welt ohne Schmetterlinge berichten.

Hinter den Nashorngeschichten schwebt das Unfassbare geschichtlicher Entwicklungen, die den Rahmen des Humanitären verlassen, die zu übelsten Verbrechen sich auswachsen. Solche Entwicklungen zu beobachten kann auch die Erzählerin an den Rand des Wahnsinns führen. Immer wieder fährt sie auf ihrem Elektroroller durch die endlos langen Korridore.

Was ist schon normal? Was ist die Verantwortung des Einzelnen, des Soldaten, oder was ist Verrücktheit? Auch in der Realisierung durch Amos Gitai hat Ionesco nichts von seinem geistanregenden Input verloren, denn der politische Irrsinn auf der Welt ist nicht weniger geworden, erst recht nicht seit dem Ukraine-Überfall und den Terroranschlägen vom 7. Oktober 23.

September 5 – The Day Terror Went Live

Ein ordentlich zubereitetes Stück Mediengeschichte

Das Olympia-Attentat vom 5. September 1972 in München. Es war mediengeschichtlich gesehen das erste Ereignis, das weltweit am Fernsehen live übertragen worden ist mit Hunderten von Millionen Zuschauern. Das illustriert Tim Fehlbaum (Tides, Hell) in diesem international besetzten und auf Englisch gedrehten Film.

In seinen Vorgängerfilmen hat Tim Fehlbaum dystopische Welten entworfen. Jetzt forscht er am Ursprung der heutigen Medienwelt, deren Bäume längst in den Himmel wachsen mit ihrer Allzeit- und Omnipräsenz und Livecams überall, einer Dystopie der ganz eigenen Art und Orwell 1984 ein Waisenknabe dagegen.

Diesmal hat der Regisseur das Drehbuch mit Moritz Binder und Alex David geschrieben. Es stellt den amerikanischen Fernsehsender ABC und sein Münchner Olympiateam in den Mittelpunkt; bleibt fast ein bisschen zu ordentlich an diesem kleben, was im Laufe des Filmes einen leicht klaustrophobischen Eindruck erweckt; gefangen in der Medienblase.

Es ist das Team von ABC, das Livekameras dabei hat. Es muss sich seine Sendeslots, die über Satellit gehen, eine sensationelle Neuerung, mit anderen amerikanischen Sendern teilen. Seine Protagonisten sind Roone Arledge (Peter Sarsgaard), Geoffrey Mason (John Magaro) und Marvin Bader (Ben Chaplin); als deutsche Hilfskraft, die als Übersetzerin gefragt ist, fungiert Marianne Gebhard. Leonie Benesch kann in dieser Rolle als Deutsche exzellent mithalten mit den sie umgebenden internationalen Stars.

Der Film findet einen überzeugenden Einstieg in die Handlung, denn man fragt sich vorher schon, da das Thema ja im Titel bekanntgegeben wird, wie die das behandeln werden.

Das TV-Team von ABC in München wird von hinter den Kulissen vorgestellt. Das ergibt einen schönen Einblick, wie damals Fernsehen gemacht worden ist, teils kommt es einem richtig vorsintflutlich vor.

Einer der Chefs betont ausdrücklich vor seinem Feierabend, er möchte nicht geweckt werden. Da hört der routinierte Zuschauer die Nachtigall bereits trapsen. Diese Art bewährter Spannungselemente setzt der Film souverän ein, überstrapaziert sie aber auch nicht.

Ähnlich läuft es mit dem Streit um die Sendeslots, da nur ABC live senden kann. Allerdings schleicht sich beim Schauen zusehends die Frage ein, muss das jetzt wirklich so ordentlich unter Verzicht auf so und so viele Freiheiten, die das Kino bietet, erzählt werden? Ist das hier mehr als ein seriös illustrierter deutscher Themenfilm? Denn das Drehbuchschreiben, das ist das, so der Eindruck eines Vielschauers, was sie hierzulande an den Filmschulen einfach nicht lernen.

Putin

Krimineller, grad gut fürs Genrekino

Patryk Vega ist ein aufregender polnischer Filmregisseur. Mit gewaltiger Kelle richtet er seine Filme an, Genrefilme allesamt, er suhlt ich förmlich im Milieu drittklassiger Gangster, die aber Gangster durch und durch sind: Niwidzialna Wojna, Petla, Pitbull – Exodus und Love, Sex and Pandemic.

Das einzige, wozu Gangstertum taugt, um seine Filme auf eine Essenz grob runterzubrechen, ist als Material, als Substrat für Gangsterfilme, sonst taugen sie zu nichts und wieder nichts, sie sind ein Furz in der Geschichte, ihre Namen braucht man sich nicht merken, ihre Persönlichkeiten sind nicht weiter von Belang. Sie sind Outlaws, die sich ihren Reibach unter Umgehung der Gesetze machen und sonst weiter nicht von Interesse. Man kann und muss sich ihre Namen nicht mal merken.

So besehen ist der russische Despot genau die richtige Figur für Patryk Vega oder ist Patryk Vega wie vielleicht wie wenige sonst prädestiniert, einen Film über diesen skrupellosen, politischen Geschäftemacher und Menschenrechtsverachter zu machen, der wohl kaum als mehr als ein Pups in die Geschichte eingehen dürfte.

Die Gefahr, dass auch nur entfernt etwas wie ein Propagandafilm für diesen Winzling entsteht, besteht schon mal gar nicht. Patryk Vega traut sich sogar, einen Hoffnungsschimmer am Horizont aufzuzeigen. Er fängt im Jahr 2026 in einer Klinik in Moskau an. Der russische Diktator ist bereits siech, liegt am Boden, trägt einzig eine Windel, beherrscht seine Zitteranfälle nicht mehr. An ihm nagt der Zahn der Zeit.

Ab da arbeitet der Regisseur mit Rücklenden und springt in der Chronologie der Machtusurpation hin und her. Schnell bebildert er eine grauenhafte Kindheit, grau in grau, dicke Jacke gegen die Kälte. Dieser Bub wird eine der Erzählerfindungen sein, die den Helden der Geschichte ständig als Einflüsterer begleiten. Dieser Bub ist absolut gefühls- und skrupellos und nur am Machtgewinn und -erhalt interessiert.

Am Anfang dieser Verbrecherkarriere steht der Wechsel in die Administration um den alkoholkranken Jelzin. Dann die gewaltlose Machtübernahme. Vega zeigt seinen Protagonisten als einen penetranten Einflüsterer selbst, der dem Personal um ihn herum suggeriert, was er von ihnen hören will.

Später bekommt er noch eine Einflüsterin, eine Frau, die vorne dabei ist, wenn es um das Attentatsspektakel im Theater geht, das den Tschetschenen untergeschoben wird.

Einmal mehr tischt Vega filmisch spektakulär auf, dazu gehört das besondere Augenmerk auf das Training des Protagonisten, wie er das Zittern in der Hand in den Griff bekommt. Tschetschenien ist wichtig, Tschernobyl, der Krim-Überfall, der Ukraine-Überfall und einige Attentate vorgeblich von den Tschetschenen.

Der Film läuft nicht Gefahr, auch nur eine Sekunde lang einen falschen Respekt vor dem Drittklass-Ganoven zu erzeugen oder gar Bewunderung und Angst, wie sie im Westen teils immer noch vorhanden zu sein scheinen, wenn man die oft zögerliche Haltung zur Ukraine-Unterstützung betrachtet.

Das Mädchen mit der Nadel

Die Welt ist ein schrecklicher Ort

und sie ist es besonders gern im Kino, vom Kriegsfilm über den Psychothriller und das Seelendrama bis zum Horrorfilm und das dänische Kino ist kein schlechter Ort dafür von Dreyer über Bergman, Lars von Trier.

In dieser Kultur bewegt sich Magnus von Horn stilsicher mit seinem schauderlich-schönen Schwarz-Weiß-Film, zu dem er mit Line Langebek Knudsen auch das Drehbuch geschrieben hat.

Irgendwo in Dänemark um das Ende des ersten Weltkrieges herum. In der Textilfabrik Kitzler werden von Hunderten von Arbeiterinnen Uniformen hergestellt. Eine davon ist Karoline (Vic Carmen Sonne). Von ihrem Mann Peter (Besir Zeciri) hat sie nichts mehr gehört. Sie hält ihn für tot. Selber kommt sie mit dem Leben nicht gut zurecht. Sie verliert ihre Wohnung, weil sie die Miete schuldet.

Sie fragt ihren Chef Jorgen (Joachim Fjelstrup) um eine Witwenzuzahlung. Er ist von ihr angetan. Me Too, als es den Begriff noch nicht gab. Sie lässt sich von ihm ein Kind machen. Ihr Mann kehrt entstellt aus dem Krieg zurück zur Schwangeren. Sein Gesicht erinnert an den Elephant Man.

Magnus von Horn erzählt die Geschichte ganz einfach, ohne Zwischentöne, ohne Rückblenden oder Einschübe, ohne Klammern, ohne das Andeuten verschiedener Ebenen. Es ist eine Geschichte, wie Menschen im Zusammenhang mit ihrer wirtschaftlichen Situation und ihrem Liebesbedürfnis handeln aber auch im Zusammenhang mit dem Erhalt oder der Verbesserung ihres Status oder im Kampf gegen den Verlust desselben.

Jorgen jedenfalls ist ein Waschlappen, er wagt nicht, seiner Mutter (Benedikte Hansen) zu widersprechen, die ihn zwar heiraten lässt, wen er will, aber nicht mit ihrem Geld und der Fabrik. Fall klar.

Es gibt eine Krämerin im Ort – allein das Bild dieser Gasse, eng, kurvig, leicht ansteigend, dann dieser winklige Laden mit den zwei Türen -, es ist Dagmar (Trine Dyrholm). Die verkauft nicht nur Spezereien über die Theke. Im Hinterzimmer kümmert sie sich um ungewollte Kinder. Sie betont, dass sie keine Menschenfreundin, sondern eine Geschäftsfrau sei. Sie nimmt ungewollte Kinder gegen Zahlung und garantiert, dafür Pflegeeltern zu organisieren.

Da Karoline nicht genügend Geld hat für ihr Kind, das sie an einem unwirtlichen Drecksort zur Welt bringt, kann sie bei Dagmar mitarbeiten. Hier lernt sie Narkotika kennen, mit denen Dagmar ihr Leben erträglich macht. Bei ihr lebt ebenfalls das 7-jährige Mädchen (Ava Knox Martin) Erena. Hier wendet sich der Film, der in bestechendem Schwarz-Weiß gedreht ist, mit leicht schalkhaftem Zugriff dem Horrorgenre zu.

Bird

Warmherziges von den Rändern der britischen Gesellschaft

Hier sind wir nicht bei König Charles zuhause, nicht in irgend einem Schloss bei spleenigen britischen Adeligen, nicht in einem eleganten Viertel in London, hier im Film von Andrea Arnold (American Honey) sind wir irgendwo an der Peripherie der multikulturellen britischen Gesellschaft.

Aber wir sind es mit Liebe, mit Zuneigung, mit Nähe und ein Hochzeitsfilm, das darf ruhig verraten werden, wird auch noch draus.

Bug (Harry Keoghan) erzählt von Beginn des Filmes an, dass er Kayleigh (Frankie Box) heiraten will. Seine Tochter Bailey ist 12, behauptet, nicht mehr Jungfrau zu sein und will partout nicht das vom Papa besorgte Kleid auch nur anprobieren. Bruder Hunter (Jason Buda) hat eben seine Moon geschwängert, beide 14, und Papa will nicht wahrhaben, dass er bei der Zeugung seines Sohnes genau so alt gewesen ist.

Die Mama von Bailey und Hunter lebt mit dem brutalen Skate (James Nelson-Joyce) und den zwei kleiner Schwesterchen zusammen. Das ist vielleicht das größte Problem für den unvorbereiteten Zuschauer, diese genaue Familienkonstellation zu kapieren. Das hängt allerdings mit einem Qualitätsmerkmal des Filmes zusammen, nämlich der Kamera, die sich sozusagen ganz in die Seelenstimmung der Protagonistin Bailey hineinversetzt, die die Welt so fahrig wahrnimmt, so hochsensibel, so wach, so leicht ablenkbar wie es eine spürende 12-Jährige tut, die noch dazu in so unstabilem Umfeld wohnt und dringend einer Stütze, einer Verlässlichkeit bedürfte. Die mag nun eingebildet oder real sein. Das bleibt dem Zuschauer überlassen.

Diese Figur ist Bird. Franz Rogowski spielt ihn mit Grazie, mit Charme, leicht und mit Seele. Wunderbar zu sehen, wie er in internationalen Kinogewässern zu Kinogröße heranblüht. Oft steht er nur auf Hausdächern, Kaminen oder anderen Erhöhungen, wie Vögel es tun. Er kommt in Kontakt mit Bailey. Eine traumhafte Szene, wie er auf freiem Feld auf sie zutänzelt – und nichts Böses im Sinn hat, sondern nur nach einer Adresse fragt. Ihm wird eine realistische Geschichte zugeschrieben, er ist auf der Suche nach seiner eigenen Herkunft. Passender Stoff für ein Soziodram wie diesem.

Kommentar zu den Reviews vom 2. Januar 2025

Ruhig geht das Kino das Jahr an mit einem amerikanischen Remake eines deutschen Klassikers, mit einem nicht mit Action überladenen chinesischen Kinderfilm-Eklektizismus, mit einem behäbigen italo-amerikanischen Schwulenfilm, mit dem Biopic eines Stars aus einer synthetisch aus dem Boden gestampften Boygroup und mit einer anekdotenlastigen deutschen Gesellschaftskomödie. Das Neujahrskino überrennt den Zuschauer nicht, es dröhnt ihn nicht zu, es lässt ihn leben und schnaufen, es respektiert ihn als einen, den man als solchen sein lassen kann, dem man nichts beibringen muss, den man aber auch mitnehmen kann auf eine Reise. Noch ruhiger ging es das Fernsehen an: es ist gleich doppelt mit einem Fossil unterwegs und bringt Sex and Crime nach dem Gusto zweier alter weißer Männer – nicht gerade atemberaubend oder umwerfend, eher vorher- und absehbar.

Kino
NOSFERATU – DER UNTOTE
Ist hier die Untote nicht eher eine Frau?

BERNHARD BÄR – MISSION MARS
Sich in eine Raumfahrtsmission einschleichen generiert Abenteuer.

QUEER
Queer oder embodied?

BETTER MAN – DIE ROBBIE WILLIAMS STORY
Ein gelecktes PR-Vehikel, musikalisch volle Pulle

FESTE & FREUNDE
Tu rum, aber pass auf, mit wem aus Deinem Freundeskreis!

TV
POLIZEIFRUF 110: JENSEITS DES RECHTS
Lüsterner Altherren öffentlich-rechtliche Softpornofantasien

GERNSTL UNTERWEGS: VON KOCHSÜNDEN UND LUFTSCHLÖSSERN
Das ist jetzt der Grabgang der Reihe.

GERNSTLS REISEN – AUF DER SUCHE NACH IRGENDWAS
Er hat gesucht – und er hat gefunden.