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Kommentar zu den Reviews vom 23. März 2023

Filme von elementarer Wucht. In Skandinavien treibt der Geschlechterneid groteske Blüten. In Paris kennen die sich mit dem gepflegten Seitensprung bestens aus. Durch Flucht in Berlin gelandet und zur Aktivistin geworden; es geht um elementare Menschenrechte. Der Wahnsinn deutschen Kolonialismus‘ in Namibia. Ein rund um die Welt gejagter Killer. Wenn Storch und Spatz in einer Animation zusammenspannen. Die politische Macht im Römerreich und das Getue des Philosophen. Die zähen Rückbleibsel und Erbschaften des Holocaust in Deutschland. Bei einer dank Feminismus erfolgreichen Schriftstellerin in New York. Ein deutscher Mime, der auf der Bühne und vor der Kamera die Sau rauslässt. Auf DVD geht es um deutsches Gelehrtentum, um unvergessliche Tanzchoreographien, um Hokuspokus-Schulunterricht, und um schillernde Mode im Sozialismus. Im TV versuchten Paare es mit künstlicher Befruchtung.

Kino
SICK OF MYSELF
Hier reichen ein Riechfläschchen und eine gespielte Ohnmacht nicht mehr aus, um Aufmerksamkeit zu generieren.

TAGEBUCH EINER PARISER AFFÄRE
Der alte Traum von einer Sexbeziehung ohne Beziehungsprobleme

SARA MARDINI – GEGEN DEN STROM
Durchs Kriegsschicksal zur Kämpferin gewordene Ex-Sportlerin

DER VERMESSENE MENSCH
Deutscher Rassismus vor 120 Jahren

JOHN WICK – KAPITEL 4
Ein paar männliche Grundfragen in elegantem Milieu

ÜBERFLIEGER – DAS GEHEIMNIS DES GROSSEN JUWELS
Ungleich und Ungleich wird erfolgreich.

SENECA
Es lebe der Suizid, wenn er denn endlich gelingt.

LIEBE ANGST
Die schleichend nachwirkenden Traumata des Holocaust

ERICA JONG – BREAKING THE WALL
Aus einer New-Yorker Luxuswohnung

LARS EIDINGER – SEIN ODER NICHT SEIN
Hier flicht der Dokumentarist dem Mimen ein Kränzchen.

DVD
ALLE REDEN ÜBERS WETTER
Einer dieser nicht uninteressanten neueren deutschen Filme, die einen Zusammenhang zwischen städtischem Intellektuellentum und dessen ländlicher Herkunft herstellen.

DANCING PINA
Auflebenlassen beeindruckender Choreographien von Pina Bausch

DIE SCHULE DER MAGISCHEN TIERE 2
Einwand zwecklos, wenn die Kids schon mal freiwillig hingehen.

IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT
So aufregend war die Modeszene in der DDR!

TV
3 PAARE, EIN ZIEL – MÄDCHEN ODER JUNGE
als billige Spannungsfrage

3 PAARE, EIN ZIEL – ZUSAMMEN SCHAFFEN WIR DAS
Enttäuscht von der deutschen Schulmedizin

3 PAARE, EIN ZIEL – UNSER GROSSER TRAUM
Berge von Pillen, einzunehmen als Vorbereitung für die künstliche Befruchtung.

Tagebuch einer Pariser Affäre

Diese Liebeständeleien!

Die Franzosen können es und lieben es im Leben wie in der Kunst, erst recht im Kino: die Geschichten von Affären zu erzählen, immer wieder erfrischend, immer wieder schön und immer wieder möchte man wissen wie es ausgeht.

Immer wieder lässt man sich im Kino gerne verführen und sowieso, wenn noch ab und an ein französisches Chanson de l‘ amour drübergelegt wird.

Emmanuel Mouret, der mit Pierre Giraud auch das Drehbuch geschrieben hat, erzählt die Affäre von Simon (Vincent Macaigne). Er ist alles andere als ein Affärentyp, etwas bauchig, eher ängstlich, verheiratet mit Kind, treu bisher, treu seit Jahren, allenfalls Seitensprünge mit dem Kopf.

Simon lernt Charlotte (Sandrine Kiberlain) kennen. Sie wollen dezidiert eine Affäre eingehen: eine ohne Verpflichtungen, eine, die alle Schönheiten der Liebe und den Genuss enthält, aber die ohne die Beziehungsprobleme auskommt, ohne die Berechnungen, ohne die Verträge, die zu so schlimmen Scheidungen führen.

Gleich beim ersten Date in der Wohnung von Charlotte überfordert sie ihren ausersehenen Lover mit Direktheit, es sei sicher in der Wohnung, Mann weg, Kinder weg, Vorhänge offen, sie wolle sich gleich nackt ausziehen.

Aber es ist kein Film der Nuditäten und der Rangeleien und Keuchereien im Bett. Es ist ein Film, der seinen erotischen Reiz aus den pausenlosen Dialogen über die Beziehung, über die Liebe, über Affären und wie sie weitergehen sollen, bezieht.

Der Film geht davon aus, dass der höchste Reiz von Liebe die mentale Fundierung ist, das gedankliche Spiel. Dem kommt Simon mit seinem pausenlosen (Ersatz)reden entgegen; es dauert, bis sie so weit sind.

Der Film bleibt konsequent bei der Affäre, skizziert in Sprüngen, die grosso modo über eine Woche gehen und über einige Monate den Fortgang. Die beiden treffen sich, gehen ins Museum, spazieren im Park, spielen Tennis. Etwas scheint doch zu fehlen. Sie treffen sich mit Louise (Georgia Scalliet), die selber Mann und Kind hat und sich nach erotischer Erfüllung sehnt, die sich etwas von dem Treffen mit einem Paar verspricht.

Es ist ein Film, der von der complicité de l‘ ésprit der Figuren lebt, von der Offenheit, wie es weitergeht, der mit Floskeln gespickt die Erotik in Höhen der Vorstellung treibt, ein Film, der von intelligenten Beziehungen träumt, ein Film, der mit seiner diskret vornehmen Farbgestaltung der Gepflegtheit den Vorrang einräumt, ein Film, der der ewigen Frage nachgeht, wie Liebe lebendig bleiben kann.

Überflieger – Das Geheimnis des großen Juwels

Inkommensurabilität als kreatives Modell

Es gibt nichts Faderes als lauter Gleiche, erst recht für eine Abenteuerreise. Eine Mischung aus Verschiedenen macht erst den besonderen Kitzel aus, verschiedene Arten der Weltsicht und der Weltbewältigung.

Richard ist ein Spatzenfindelkind, das von Störchen aufgezogen wird. Das kann problematisch werden: die Ungleichheit zu Bruder Max, dem echten Kind der Störche, beispielsweise, wenn es um den Klippensturzsprung geht, da ist ein Spatz einfach geeigneter.

Gemeinsam bewerben sie sich um die Position des Schwarmanführerlehrlings für den großen Überflug der Störche. Sicher, das bietet sich nicht auf Anhieb an, dass ein Spatz die Störche bei der riesigen Reise führe. So wird denn Richard disqualifiziert. Das bereitet ihm solches Unbehagen, dass er in die Wüste abhaut. Ihn sucht der bunte Papagei Kiki, der Showmensch und die Eule Olga, die ihre Selbstgespräche als Gespräch mit ihrem imaginierten Partner Oleg führt.

Es wird eine abenteuerliche Reise und dann gilt es auch noch, eine arabische Stadt mitsamt dem bunten Markt zu entdecken. Andererseits drängt die Zeit für den großen Überflug der Zugvögel. Zu allem Malheur begegnen sie auch noch der Spatzengang, die Juwelen klaut für den despotischen Hof von Pfau Zamano mit den diamantgierigen, buckligen Marabus von Hofschranzen; also auch das Thema der Freiheit ist in die Abenteuerreise eingebaut; damit auch die Themen von Solidarität und Befreiung von Willkürherrschaft.

Bei der Suche nach dem großen Juwel ist Verschiedenheit unter der Gruppe der Suchenden von kreativem Vorteil, weil jeder die Welt anders sieht und damit zu Problemen auch andere Lösungsvorschläge hat.

Die Animationen der Vögel sind fantasievoll stilisiert und abstrahiert, was für die Aktivität des Zuschauerhirns von Vorteil ist. Die deutsche Synchro hört sich plausbiel an. Nun ja, und da ist auch noch Spätzin Samia.

Rap- und Tanznummern sind eingebautd und was ist ein Spatz, der als Storch aufgezogen worden ist? Ein Sp….

Sick of Myself

Plakative Bebilderung von (Penis-?)Neid
oder
Ein Riechfläschchen bitte!

Im klassischen Theater fielen Damen, um die Kavaliere auf sich aufmerksam zu machen, gerne halb in Ohnmacht mit dem gehauchten Text nach dem Riechfläschchen.

So dezent wird die Geschlechterdifferenz und die Bemühung um deren Überbrückung heutzutage nicht mehr zelebriert, schon gar nicht in Skandinavien, was natürlich eine heillose Verallgemeinerung ist, sicher aber nicht bei Kristoffer Borgli, dem Autor und Regisseur dieses Filmes.

Und schon gar nicht wird ein Grund auch nur suggeriert, warum Signe (Kristine Kujath Thorp), die mit dem erfolgreichen Künstler Thomas (Eirik Saether) zusammen ist, warum sie mit schicksalshafter Penetranz (ähnlich wie der Vorgang in The Banshees of Inisherin) vor keinen Mitteln zurückschreckt, systemsprengerhaft auf sich aufmerksam zu machen mit Steigerungen ad infinitum.

Eine chronische Lügnerin ist sie dazu. Gleichzeitig macht sie mit ihrem Künstlerfreund wilde Diebestouren, sie klauen teuren Wein oder Stühle und Sofas für dessen Ausstellungen. Dass sie diese Dinge mitmacht ist verwunderlich, erhöht aber offenbar den Zwang, dagegenzusetzen, soweit, bis sie mit Hilfe eines auf nicht ganz sauberem Weg erworbenen russischen Medikamentes zu einer Elephant-Women wird; die dann grotesker Weise plötzlich für die Werbung interessant wird, welche die Inklusion entdeckt.

Ob eine Heilung trotz Therapiegruppe möglich ist, sei hintangestellt.

Kristoffer Borgli schildert dieses Phänomen, von einer Geschichte im engeren Sinne kann hier nicht die Rede sein, als ob er schnell ein Buch durchblättert, er bleibt bei keiner Szene hängen, geht über von der filmischen Realität in den filmischen Traum oder in die subjektive Vorstellung der Protagonistin, sei es Angst oder Erfolg. Er kleckst mit beinah fragmentarischen Szenen sein Bild auf die Leinwand. Eine Frau, die Krankheit als Waffe zur Überbrückung des Geschlechterunterschiedes einsetzt. Mit bitter-galligem, vielleicht leicht alkoholisiert-narkotisiertem Humor seziert und auf die Leinwand geschleudert.

Seneca

Vom Suizid der Eloquentia

Aussichtslos ist die Position des Geistes in der Auseinandersetzung mit der politischen Macht.

Diese These bebildert Robert Schwentke (Der Hauptmann, R.e.d. – Älter, härter, besser), der mit Matthew Wilder auch das Drehbuch geschrieben hat, mit einem brillanten, farcefratzenhaft schillernden Kino über die Auseinandersetzung zwischen dem Philosophen Seneca (John Malkovich) und König Nero (Tom Xander).

Seneca ist der bonzenhaft gut verdienende In-Philosph (Bonzen-Seneca) der römischen Gesellschaft und bereitet Nero auf seine Reden vor. Das Wort ELOQUENTIA prangt in goldenen Buchstaben an einer Wand seines Landsitzes und die Gäste erhalten, wenn sie ihn wieder verlassen, eine kleine, goldene Büste von ihm als Souvenir; frühes Merchandising.

Der Film lässt von Anfang an keinen Zweifel, wie er den Ausgang des Kampfes Geist gegen politische Macht sieht und schildert diese ungleiche Auseinandersetzung mit energievollem Cinematographie-Furor, mit experimentellen Einschüben, Farbfiltern und auch mal mit einer Texttafel. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die Philosophie in der Form der Eloquentia dem Untergang geweiht ist, Opfer der politischen Tyrannei wird.

Dies malt Schwentke so dratisch auf die Leinwand, dass einem jede Menge aktueller Terrormenschen an Staatsspitzen in den Sinn kommen, zuvörderst der russische, der wohl an Grausamkeiten, die er über die Ukraine kommen lässt, in nichts seinem römischen Vorbild nachsteht. Und er ist aktuell nicht der einzige auf der Welt. Der Geist hat da nichts berichten.

Genial ist die Besetzung der Rolle von Seneca mit John Malkovich. Dieser ist bekannt dafür, dass er das Gegenteil eines Method-Actors ist. Er ist ein reiner Text-Actor. Er lernt die Texte Wort für Wort und reproduziert sie in einer gewissen Monotonie, aber immer gut verständlich vor der Kamera, egal um was für eine Rolle es sich handelt.

Allerdings begeht der Film später mit dieser Besetzung und auch dank dem Drehbuch mit Seneca zusammen Selbstmord. Bis dahin ist längst klar, dass alles nur leeres Geschwätz ist. Damit füllt der Film seine lange Endstrecke vom Moment des ersten Auftrittes von Killer Felix in Senecas Villa bis zum erfüllten Selbstmord anderen Tages nach unendlich viel Gewimmere des doch sonst so wortgewandten Philosphen.

Zu den Highlights vorher gehört auch die Theateraufführung des Stückes von Seneca über Tiberius, was die These des Filmes auf der Metaebene vorführt. Bis dahin ist man ganz happy, dass trotz deutscher Fernsehkoproduktion auf Moralisches verzichtet wurde; aber dann kommt es doch noch zu einem apokalyptischen Appell. Der Film verbreitet eine geschichtsphilosophisch pessimistische Sicht.

Sara Mardini – Gegen den Strom

Modern Warrior
Peinlich für Europa
Eine moderne Frau

Dieser Film ist mehreres in einem.

Dieser schnelle, schlanke Film von Charly W. Feldman ist das Porträt einer modernen, jungen, hochenergetischen (und hyperaktiven) Frau, die ihr Leben wach und aktiv angeht, die Party feiern will. Es ist das Porträt einer jungen Frau, Sara Mardini, über die wohl nie jemand einen Film gedreht hätte, wenn in Syrien nicht der blutige Bürgerkrieg ausgebrochen wäre. Sie ist mit einer Schwester, Yusra, als Tochter eines Schwimmmeisters aufgewachsen und von klein auf war das Wasser ihr und ihrer Schwester Element. Sie trainierten für Meisterschaften.

Der Film ist aber auch eine Flüchtlingsgeschichte. Wegen dem Bürgerkrieg sind die beiden Schwestern aus Syrien geflohen, setzen mit einem Boot mit etwa 20 Leuten von der Türkei nach Griechenland über, das Boot kentert, und – da werden die Schwestern zu Heldinnen – sie schieben das Boot über drei Stunden lang mit den Menschen drin vor sich her bis zur griechischen Küste und werden dort gerettet.

Der Film ist ein Stück weit auch ein Porträt der beiden Schwestern. Sara ist die hyperaktive, die nach dem Schiffbruch die Schwimmkarriere nicht mehr fortsetzen kann und sich selbst der Rettung Schiffbrüchiger in Griechenland widmet, sie wird zur Aktivistin. Yusra ist die weniger mitteilsame; sie setzt ihre Schwimmkarriere fort, schafft es bis zu Olympiateilnahmen in Rio und in Tokyo.

Porträt einer Aktivistin.

Im Zuge der Kriminalisierung humanitärer Hilfe für Schiffbrüchige durch die Europäische Union wird Sara in Griechenland festgenommen, verbringt Monate im Gefängnis, bis sie gegen Kaution vorläufig freigelassen wird. Seither lebt sie in Berlin, fühlt sich mit Studieren nicht ausgefüllt. Sie wartet auf Prozesstermine. Das zieht sich hin. Covid sorgt für weitere Verzögerung.

So wie hier dargestellt, scheint der Prozess gegen sie und weitere Mitangeklagte eine Farce zu sein als Mosaikstein einer verpeilten Politik der EU, die Flucht nach Europa als nicht empfehlenswert erscheinen zu lassen. Einen Menschen aus Seenot zu retten kann nie und nimmer ein krimineller Akt sein, darf es nie werden, so die Erkenntnis des Films.

Diese Doku trägt zu einem schweren Imageschaden der europäischen Union bei, besonders deren Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Überfall, die ja so breit ist, weil es sich bei der russischen Invasion um einen offensichtlichen Völkerrechtsbruch handelt, man also auf Seiten derer steht, die Menschen- und Völkerrecht respektieren und es verteidigen. Die Glaubwürdigkeit ist dahin, wenn die EU mit der anderen Hand humanes Weltrecht oder Völkerrecht, Seenotrettungsrecht im Umgang mit Gestrandeten selber massiv und vorsätzlich verletzt. Auf den Vorsatz lassen die Verhaftungen und der Gerichtsprozess selber schließen.

Liebe Angst

Geschichten, die man erzählen muss, solange sie noch greifbar, abrufbar, dokumentierbar sind und die an die furchtbare braune Zeit erinnern, an eine Diktatur des Antisemitismus, des Rassismus, des Hasses, der Hetze, der Denunziation, der systematischen Elimination.

Frühe Verstörung
Protagonistin Lore hat als sechsjähriges Mädchen erlebt, wie ihre Mutter abgeholt wurde. Sie überlebte, weil sie versteckt wurde.

Der Film von Sandra Prechtel, die mit Kim Seligsohn auch das Drehbuch geschrieben hat unter redaktioneller Betreuung durch Rolf Bergemann vom RBB und Britta-Susann Lübke von Radio Bremen und unter dramaturgischer Beratung durch Andres Veiel und Alexandra Sell, zeigt besonders deutlich auf, wie so eine frühkindliche Verstörung, unerklärlicher Verlust der Mutter, sich auf den Rest des Lebens eines Menschen und vor allem auf die nächste Generation auswirkt. Die Traumata des Holocaust.

Die werden besonders deutlich auch bei Lores Bruder Tom, gerade seine Zeichnungen sind ein starkes Symbol seiner Zerrissenheit. Bruder Tom Kübler, Suizid; Trauma der zweiten Generation.
Auch die Lebensläufe der beiden Brüder von Lore kommen ins Spiel, beide sind ausgewandert bis Australien und Papua-Neuguinea; auch ihre Lebensläufe waren beeinträchtigt durch die Traumata.

Lore selbst lebt wie ein Messi inmitten von Stapeln und Behältnissen von Büchern, Notizen, handgeschriebenen Karten mit aus der Zeitung abgeschriebenen Artikeln aller Art; sie wolle ihrer Stadt Bremen etwas zurückgeben für die Rente, sei ihre Begründung für diese Aktivität gewesen. Was Menschen so alles machen.

A motherless Child – Ich grolle nicht,
das singt Kim Seligsohn, die zweite Protagonistin, die Tochter von Lore, sie ist die Tochter einer motherless Mother und dürfte einiges von der Verstörung der Mutter ungeöffnet übertragen bekommen haben. Sicher, das sind Vermutungen, aber naheliegende. Sie hat künstlerische Talente, für das Konservatorium reicht es nicht. Der Vater war bald nicht mehr vorhanden. Missbrauch als Teen im Tanzunterricht.

Double-Feature: Der Film ist nicht nur Holocaust-Aufarbeitungsfilm, er ist auch ein Porträt der Sängerin Kim Seligsohn, die am Drehbuch mitbeteiligt war, die zu sehen ist bei einer Erinnerungsperformance „Berlin erinnert sich, 9. November 1938“, in der die Namen von jüdischen Holocaustopfern vorgelesen werden. Kim setzt auch Textfragmente von Bruder und Mutter musikalisch um.

Dritte Geschichte: Lores Umzug ins Altenheim aus der Messi-Wohnung.

Eine jüdische Familiengeschichte, weit entfernt von dem prallen Leben und dem Erfolg wie es zuletzt in Die Fabelmans zu sehen war oder wie es in Zeiten des Umbruchs geschildert wird. In Deutschland kein Glamour-Faktor, Sozialhilfe, soziale Randfiguren, Psychosen, eine Künstlerin, die sich mit Hundesitten über Wasser hält.

Lars Eidinger – Sein oder nicht sein

Powerbündel

Der Schauspieler Lars Eidinger ist ein Kraftbündel, ein Mann voll unerschöpflicher Energie, mit enormer Kondition, der sich mit jeder Faser in seine Rollen, auf die Bühne oder vor die Leinwand wirft.

Eidinger zertrümmert Stühle und Tische, er kämpft mit dem Degen, er schreit, er weint, er schmeißt sich in den Dreck, er spielt einen elend langen Bühnentod, bei dem er noch einmal und noch einmal in Agonie hochspringt oder er ringt sich bei einem Interview Tränen ab. Er ist ein begnadeter Darsteller und ein ebensolcher Selbstdarsteller, ideal für eine Doku, bei dem Talking Heads ein elementarer Bestandteil sind.

Eidinger ist in keiner Sekunde einer jener Beamtenschauspieler, wie sie ab und an noch auf deutschen Bühnen anzutreffen sind, er lebt in jeder Sekunde und kostet diese aus. Es ist immer was los auf der Leinwand, wenn ein Lars Eidinger dabei ist.

Nicht ganz so vehement geht Reiner Holzemer (Dries) dieses vom bayerischen Fernsehen finanzierte Biopic an. Ein paar Tage Salzburg, ein paar Tage Berlin, ein Ausflug nach Frankreich müssen einerseits finanziell drinliegen und andererseits schon fast genügen, um einen TV-90-Minüter zu füllen.

Holzemer als altgedienter Promi-Dokumentarist heftet sich an die Fersen von Eidinger, darf Mäuschen spielen in Salzburg, wo Eidinger den Jedermann probt und spielt, trifft in Berlin dessen Theaterchef Thomas Ostermeier und darf zugucken bei Hamlet und Richard, begeht wie in den Lebenslinien üblich die Schauspielschule von Eidinger oder schaut ihm beim Tennisspielen zu.

Diverse Archivausschnitte, bei deren Auswahl Eidinger sicherlich ein praktischer Tippgeber war, werden eingeflochten in diesen üblichen Dokumix aus Statements des Protagonisten wie anderer, die mit ihm zu tun haben, aus Begleitung bei Taxifahrten, aus einem Besuch eines Drehs mit Olivier Assayas in Paris.

Es dürfte ein Film sein, der weniger wegen seiner dokumentarischen Qualitäten auffallen dürfte als vor allem durch seinen Protagonisten, allenfalls im Kino als Zielpunkt für ein Sonntagsmatineepublikum aus eingefleischten Theaterfans.

Schmerzpunkt ist der Auftritt von Edith Clever als Tod bei den Salzburger Festspielen, einer Schauspielerin, die Geheimnis hat und von der auch Mitstreiter in Salzburg sagen, dass Eidinger eine Show sei, bis zum Auftritt dieser Grande Dame des deutschen Theaters und da kann Eidinger noch so oft sich nochmal zum Leben aufbäumen, Edith Clevers Tod ist allemal stärker.

John Wick: Kapitel 4

Männliche Grundfragen,

wie Freiheit, Konsequenz, wenn es um was geht oder worum geht es, Teil einer Hierarchie sein oder exkommuniziert, Wiedergutmachung, Bereitschaft zum Duell, gesucht sein (Kopfgeld; wieviel bin ich wert?) ventiliert Chad Stahelski nach dem Drehbuch von Shay Hatten und Michael Finch nach Charakteren von Derek Kolstad in einem berauschenden Bilderbogen aus Weltläufigkeit, Design, Stil, Eleganz, Fights und Killings.

Malerisch fängt der Film in einer arabischen Wüste an, Sand, bizarre Gesteins- und Felsformen, Reiter, ein vornehmes Setting aus Teppichen und Möbeln im Freien, ein Scheich und John Wick (Keanu Reeves), der kurzen Prozess macht. Ein Fehler, wie sich zeigen wird, der ihm nicht zum Vorteil gereicht und der ihm ganze Geschwader von Unterwelt und deren exklusiven Bossen auf den Hals hetzt.

Der Film suhlt sich förmlich in den eleganten Milieus, liebt Schießereien und Kämpfe in mit Vitrinenen vollgestopften Galerien, zerlegt lustvoll ein Luxushotel, springt von den USA nach Paris und nach Berlin, findet immer pittoreske Ansichten und das Innere eines althergebrachten Opernhauses; der Eiffelturm leuchtet so schön wie lange nicht und im Studio Babelsberg ist viel gedreht worden.

Das Diesseits ist die Hölle, wie in Anlehnung an den Eingang zu Dantes Inferno angedeutet wird. Diese Hölle ist feuerspeiend und gefährlich in jeder Sekunde, überall kann ein Killer oder Kopfgeldjäger auftauchen und Blinde können sehend sein.

Zu einem Duell sollte man pünktlich erscheinen, wenn aber da so eine lange Treppe vor dem Treffpunkt ist, auf der wie in einem John-Woo-Film stänig neue Gegner auftauchen …

Das macht die Reihe sympathisch, dass hier echt gekämpft wird, gestuntet und dass nicht Computer die Kämpfe bestreiten.

Dialoge werden prinzipiell ausgestellt bis zeremoniell zelebriert, was der Spannung dienlich ist, die Menschen gehen stilvoll miteinander um, haben Benimm, sind in Ritualen aufgehoben, selbst im Töten, gepflegtes Killertum, von irgendwas muss der Mensch ja leben. Und irgendwo, da gab es auch mal, um zu den Existenzialien zurückzukehren, eine Frau … und einen eierliebenden deutschen Schäferhund – den gibt es immer noch.