Auslegung der Wirklichkeit / Interpretation of Reality – Georg Stefan Troller (DOK.fest)

Plauderstündchen mit einem wachen 99-Jährigen

Protagonist dieses Dokumentarporträts von Ruth Rieser ist Georg Stefan Troller

Protagonist beschreibt die Situation nicht zutreffend, eher ist es ein sehr vertrautes Gespräch zwischen zwei Personen, denn das Sich-In-Szene-Setzen liegt dem 99-Jährigen nicht. Der Film verzichtet bewusst auf den typischen Bio-Zugang mit Aufzählung all der Meriten und Palmares, der „obituary Values“, all der Bücher, die er geschrieben hat, all der TV-Interviews, die er mit unendlich vielen Berühmtheiten geführt hat, ohne dem Name-Dropping einen besonderen Stellenwert zu geben. Das war Teil seiner Arbeit als Journalist, als Dokumentarist. 

Der Film verzichtet auch bewusst darauf, die Namen der Persönlichkeiten einzublenden. Nicht so wichtig. Wichtiger dürfte die Essenz der Gespräche sein, die Verwunderung von ihm, dass er den Holocaust überlebt hat als Teen in einer Buchbinderwerkstatt in Wien, dass er den furchtbaren Bruch in seinem Leben mit 16, 17 nutzen konnte für eine beachtliche Karriere, mit der er, wie er heute noch sagt, seinen Vater wohl zufrieden gestellt hätte. 

Sein Vater war ein Pelzhändler in Wien aus dem Distrikt, das etwa ein Viertel des Steueraufkommens für das ganze Land aufgebracht hat, wohlhabend also und es mutet seltsam an, wenn Georg Stefan Troller jetzt wieder in die Wohnung seiner Familie zurückkehrt und dort einen dreiteiligen Bücherschrank vorfindet, der damals schon da war und von dem die nette heutige Besitzerin nicht so genau wissen will, wo der herkommt.

Ruth Rieser betreibt mit Georg Stefan Troller den Rückblick auf ein reiches Leben, ein Leben mit einem tiefen Identitäts- oder Zugehörigkeitsproblem, mit einer unerschöpflichen Motivation, durch die Interviews den Menschen näher zu kommen, etwas von ihnen zu erfahren, von ihnen das Fühlen wieder zu erlernen, sich von ihnen etwas geben zu lassen, Selbstsicherheit zu finden über das Erforschen anderer und damit bildlich sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. 

Da könnte manch ein Filmstudent was lernen, auch darüber gibt es Philosopheme, was den Dokumentarfilm ausmache, was seine Realität, seine Wahrheit sei, was überhaupt Realität sei, mit einer Schnittmenge zur Erkenntnisphilosophie. 

Der Film bedient sich bekannter dokumentarischer Lebenslinien-Muster wie das Aufsuchen von früheren Lebensorten, das Stadtpalais, das neue Haus mit dem Gartenhäuschen, in welchem er das erste Liebesgedicht geschrieben habe, die Schule, aus der er mit 16 aus Rassengründen expelliert wurde, das Haus mit den früheren Geschäftsräumen. 

Aber auch das Durchblättern alter Photos gehört zu diesem geistreichen und gleichzeitig intimen Plauderstündchen, Fotos, die wiederum Erinnerungen auslösen, die Fotos von all den Verwandten, die Opfer des Holocaust wurden. 

Und immer wieder gibt es Clips aus Tollers Filmen (Sumerset Maugham startet das Interview mit der Rezitation eines deutschen Gedichts). Beiläufig ist einiges über die Interviewtaktik von Troller zu erfahren und wie weit ein Drehbuch für einen Dokumentarfilm überhaupt Sinn mache und was herauszuarbeiten bei der Montage der Hauptzweck sei. Ruth Rieser dürfte das mit diesem ganz speziellen Biopic gelungen sein. 

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