MATERA. Verborgene Heimat (SWR, Sonntag, 13. September 2020, 09.35 Uhr)

Der geplünderte Prunkwagen

Einmal im Jahr gibt es in Matera den heidnisch-christlichen Brauch, dass in monatelanger Arbeit hergestellte Prunkwagen (Materialien überwiegend Pappe) durch die Menge fahren und dann geplündert werden. Die Menschen gehen mit den Trophäen als Reliquien nach Hause, mit Heiligenfiguren oder Teilen davon, mit malerischen Verkleidungen, alles wird auseinandergenommen.

Der Brauch erzählt einiges über die Mentalität der Bewohner dieser seit 9’000 Jahren durchgehend bewohnten Stadt an der Via Appia, einer Schnittstelle zwischen Orient und Okzident. 

Berühmt geworden ist Matera, die Höhlenstadt durch Filme von Pasolini oder Mel Gibson. Die Höhlen sind hervorragend geeignet zur Darstellung des Heiligen Landes. 

Auch das ist eine Spezialität dieser von tiefen Schluchten flankierten Stadt auf Tuffstein: die Bewohner waren anfänglich Höhlenbewohner, dann nutzen sie den Aushub der Höhlen zum Bau von Häusern direkt über den Höhlen (darauf spielt der Titel des Filmes an; was hier im Verborgenen alles zu entdecken sei); auch hier eine Art Recycling wie beim Prunkwagen, der wird zerstört, damit im nächsten Jahr alles noch schöner neu entsteht. 

Ganz so war die Geschichte der Stadt in großen Wellen besehen. Vor der Industrialisierung in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts muss dort eine unglaubliche Armut geherrscht haben in den Sassi, den Höhlenhäusern, was zu absurden Aussiedlungen führte, katastrophale städtplanerische Fehler. Inzwischen ist die Stadt Weltkulturerbe geworden, ein Touristenmagnet. 

Alessandro Soetje, der mit Andrea Tognasca auch das Drehbuch geschrieben hat, präsentiert die Stadt in einem magazinhaften Mix aus Blicken zurück, Drohnenaufnahmen, Impressionen aus der Stadt mit Statements von Leuten, die sich auskennen: Journalisten, Künstler, Archivare, Restauratoren, Kulturmanagerin, Bürgermeister geben den Begleittenor zu dieser angenehm kulinarischen TV-Sonntags-Matinee.

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