Neben den Gleisen

Boizenburg liegt im norddeutschen Flachland an der Elbe auf ehemaligem DDR-Gebiet im mecklenburgischen Elbtal.

Es hat einen Bahnhof. Durch diesen rauschen pausenlos ICEs oder auch Güterzüge in Richtung Hamburg oder Schwerin. Regionalzüge halten regelmäßig. Am Bahnhof gibt es einen Kiosk, der sich zur Stammkneipe des Ortes entwickelt hat, eine Idee seines jetzigen Betreibers, der nach Jobverlust sich nach neuen Möglichkeiten umgesehen hat.

In Boizenburg gibt es eine Schlachterei (12’500 Schweine werden in einer Schicht zerlegt), es gibt Süßwarenfabriken, einen Ikea und in Sichtweite des Bahnhofskiosks einen Supermarkt. Im Kiosk hat auch der Fanclub des Hamburger SV 1887 seinen Sitz. Hamburg Bergedorf ist in einer halben Stunde erreichbar, ähnlich schnell wie vom anderen Ende von der Hansestadt her.

Der Filmemacher Dieter Schumann hat Feldforschung zum Stand der Meinungen an diesem Ort betrieben im Hinblick auf die Themen Arbeitslosigkeit, Flüchtlingszuzug (er war dort in der Zeit des ungebremsten Flüchtlingszustromes von 2015). Mentalitätsforschung am Bodensatz einer solchen Kneipe.

Je länger er – das Wort durchaus positiv gesetzt – in und an dieser Kneipe herumgelümmelt oder herumgehängt ist, desto mehr wird er zu einem von den Stammgästen. Er befragt sie ungeniert. Zusehends äußern sie Dinge, die die Meinungsforscher so gerne hören oder hören würden, um Angst vor der AfD zu machen; nämlich, dass Deutschland keine Demokratie sei, dass Merkel voll abhängig von der USA sei, dass man seine Meinung nicht äußern dürfe und dass man in einem gewissen Rahmen schon mit den Flüchtlingen rede, so lange sie sich anständig verhielten.

Denn in der Nähe von Boizenburg ist ein Flüchltingscamp errichtet worden. Ein einträgliches Geschäft für den Taxifahrer, der kaum Pausen einlegt mit seinem Großraumtaxi.

Manche Leute hat es nach Boizenburg verschlagen und sie sind da hängen geblieben und da hängen sie nun und wollen auch nicht weg. Denn die Atmosphäre ist familiär, man kennt sich und wenn ein Stammgast stirbt, so werden Kerzen für ihn oder sie angesteckt.

Der Betrieb geht in der Früh los, wenn die Schichtarbeiter von der Nachtschicht vorbeikommen, um noch ein Feierabendbierchen zu zwitschern. Der Betrieb geht bis spät abends. Jeder Stammgast hat sein Schicksal, die meisten haben einen Beruf gelernt, haben Jobverlust hinter sich, kaputte Beziehungen oder gar keine, die Polen arbeiten ohne Feiertage, ohne Pause, andere kommen gerade mal über eine Zeitarbeitsfirma an ein Jobangebot und dann noch mit 30 Cent unterm Mindestlohn, was zu Wut führt.

Hass hat auch ein 19-jähriger mit beschissener Familiengeschichte und der nicht alles, was er denkt, vor der Kamera äußert, aber jedes Mal einen Hass auf die Bullen bekommt, wenn die ihn wieder kontrollieren.

Im Kiosk sind Beziehungen entstanden, Familien mit Kindern, Trennungen. Fußball oder Nachrichten schauen gehört zu den Aktivitäten oder bloss stur am Spielautomat stehen.

Syrische Flüchtlinge kommen zu Wort, die alles verloren haben, Angehörige, die strapaziöse Märsche der Flucht hinter sich haben und ausgebildete Handwerker sind. Wie eine Frau, die zu später Stunde die Männer am Stammtisch erotisch anmacht sagt, Boizenburg sei nicht öde, aber, meint ein anderer, wegen der Flüchtlinge sei es ein „Negerdorf“ geworden.

Es gibt den Bayern aus Boizenburg und einen Lothar. Der Bayer war in New York gewesen und auch München hat ihn beeindruckt. Aber das ist alles nicht mehr. Und es gibt den Enttäuschten, der die Demütigungen von HartzIV erlebt hat und jetzt jene der Grundsicherung.

Der Mikrokosmos, der „Durchlauf“ vom Bahnhofkiosk, bei dem, wie der Wirt sagt, es nicht „so vornehm“ zu und her gehe mit Tischtuch und Blümchen und so, ist auf der großen Leinwand ein quirliges Stück deutscher Realität. Geradezu skurril mutet der Auftritt jenes polnischen Hilfsarbeiters aus der Süßwarenfabrik an, der in Polen Arzt für manuelle Therapie sei und der den Menschen mit chiropraktischen Griffen die Köpfe zurechtdreht, was – zumindest physiologisch – hilft und zu großer Bewunderung führt .

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