Einfach das Ende der Welt

Xavier Dolan
Mommy
Sag nicht, wer du bist
Laurence Anyways
Herzensbrecher
I killed my Mother
bleibt seinem Thema treu: der Außenseiter, der Sensible, der Schwule, der Künstler im Schoße der Familie.

Höchst sensibel und theaterstückfundiert (von Jean-Luc Lagarce) umkreist er die Inkompatibilität eines solchen Außenseiters mit seiner Familie, die Disparität, die im Schosse der Familie nicht aufgehoben ist.

Familie heißt Vollzähligkeit, Kompaktheit; jeder Mensch ist in eine Familie hineingeboren, aber nicht jeder Mensch für die Familie, so könnte man es sehen.

Der typische Muttersatz, schön, dass wir alle beisammen sind, dass es zuhause am schönsten sei, erstickt im Keime der Absicht, ihn auszusprechen.

Wobei noch die Differenz Stadt und Land diskrepanzverstärkend hinzukommt.

Louis (Gaspard Ulliel) ist dieser Außenseiter. Er ist vor über zehn Jahren von zuhause ausgezogen, lebt in der Stadt, ist erfolgreicher Autor, in den Zeitungen wird über ihn geschrieben. Er ist nie wieder zuhause aufgetaucht. Vater ist abwesend, irgendwie. Der kleinen Schwester Suzann (Lé Seydoux) hat er über die Jahre immer wieder Ansichtskarten geschickt mit elliptischen Sätzen drauf. Aber er kennt sie nicht. Der ältere Bruder Antoine (Vincent Cassel) lebt noch da mit seiner Frau Catherine (Marion Cotillard) – sie siezt Antoine bei seinem Besuch, denn auch sie kannten sich nicht; über ihre Kinder gäbe es dringend etwas zu berichten; auch dazu kommt es nicht.

Mutter (Nathalie Baye) provoziert förmlich den Klatsch aus purer Angst und Abwehr, es könnten Dinge angesprochen werden. Es versteht sich von selbst, dass Louis nicht dazu kommt, das zu sagen, was er sagen möchte, nämlich, dass er sie einfach noch einmal wiedersehen möchte vor dem Ende und dass er das ihnen persönlich ausrichten möchte. Themen wie die Farbe des Fingernagellackes übertönen alles.

Dolan setzt solche gegenläufigen, doppelschienigen Prozesse auch filmisch meisterlich um, wie der Klatsch wie in einer eindimensionalen Welt abläuft und parallel dazu Louis immer mehr sich verabsentiert, in inneren Monolog versinkt.

Oder wie sich ein Gespräch zwischen ihm und seinem älteren Bruder, der offenbar auch die größte Panik vor persönlichen Äußerungen schiebt und vor Wahrheiten, festhakt am einführenden Satz von Louis, dass er früher angekommen sei und am Flughafen einen Kaffee getrunken habe und nachgedacht habe, da fällt ihm schon der Bruder ins Wort, ja, um ihm just dies zu sagen, das steigert sich schier ins Groteske, diese Ersatzdiskussion, bis zur Erschöpfung, bis sie endlich wieder ‚zuhause‘ sind und entbehrt nicht einer abgrundtiefen Komik.

Meisterlich auch, wie Dolan Erinnerungen einflicht, Bilder aus der Jugend von Louis, seine erste große Liebe und wie er in einem Abstellraum mit Gegenständen aus der Zeit sitzt, ganz nebenbei baut Dolan sein Faible für textile Strukturen als bildverdichtend ein.

Einen humoristischen Kommentar erlaubt er sich auch, den Gag mit der Kuckucksuhr, vielleicht etwas platt für das Kuckuckskind, aus dem, nachdem Louis schier schwindlig ist vor Familienverdrängungsmechanik und -getöse, tatsächlich ein kleiner Vogel zu fliegen kommt und am Boden liegen bleibt. So hatte er sich den Abschied nicht gedacht. Da war er wohl doch zu optimitisch, was Familie anlangt. Selbstredend, dass Dolan mit seinem erstklassigen Cast so umgeht, dass von einem Traumcast gesprochen werden kann!

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