Auf die Dächer!
Zufall oder Welle, nobody knows, Schauspieler auf Dächern sind in.
Bei Bird steht Franz Rogowsky auf britischen Provinzdächern, verkörpert die Übersichtsperspektive für die Einsicht, bei den Oslo-Stories-Sehnsucht sind es Kaminkehrer, die Oslo von oben und durch die Schornsteine betrachten, allfällige Risse zu entdecken (in der Gesellschaft).
Bei Anatol Schuster (Luft, Frau Stern) ist es Sabine Timoteo als Klara, die sich Darmstadt von oben anschaut, aber nicht deswegen steigt sie auf‘ s Dach, sie hat genug vom Lärm des heutigen Lebens, sie will Ruhe. Regisseur und Autor Antatol Schuster schickt sie dort hinauf, um über sie ironisch am Lack dieser Gesellschaft zu kratzen, wie wenig es doch braucht, um sie aus ihrem Konzept zu bringen, sie zu irritieren.
Damit ist nicht primär die Feuerwehr gemeint, die von aufmerksamen Nachbarn alarmiert wird. Es ist die Auffälligkeit der Unauffälligkeit, die Stille, die Kreise zieht, die die Menschen aus ihrem Alltagstrott aufschrecken lässt.
Es gibt Reaktionen, die das Erschrecken in Verehrung umdeuten, Gruppierungen, die sie als eine Heilige sehen, eine schweigende Gruppierung, die sich den Mund verklebt oder mit den Händen ein Schweigezeichen macht; sie verharren ruhig im Treppenhaus vor dem Dach.
Sein Hauptaugenmerk legt Anatol Schuster auf die akademisch-kulturell gebildete Klasse. Sein Protagonist ist Jean (Anton von Lucke), alles andere als ein Macho-Man. Ein feinsinniger Komponist, der mit seiner Frau Helene (Maria Spanring), einer Konzertpianistin, in einer Wohnung von Klara zur Miete lebt.
Finanziell hat die Künstler-Familie Probleme, Jean lässt anschreiben und Klara zeigt sich großzügig, wenn er die Miete nicht zahlen kann, ja sie erlässt sie ihm sogar.
Klara wird in einem urchristlichen oder urkommunistischen Akt auf all ihr Hab und Gut verzichten, sie hebt ihr Geld von der Bank ab. Sie stellt ihre leere Wohnung Künstlern zur Verfügung und sie will nur noch auf dem Dach sein. Den Flügel verschenkt sich dem Musiker.
Wieder hat der Regisseur wie schon in den Vorgängerfilmen eine ausgezeichente Schauspielerauswahl getroffen (Casting: Susanne Ritter). Grade der Dr. Wunderlich von Michael Wittenborn entspricht so gar nicht dem Klischee des Film- oder Fernseharztes.
Die Frage ist, ob Anatol Schuster sich jetzt mehr dem Mainstream angepasst hat; es gibt einen Redakteur, Chrstian Bauer, im Abspann. Auf jeden Fall ist der Film more sophisticated, subtiler legt er Bruchstellen in der Gesellschaft offen. Dass er die Geburt der Tochter von Jean und Helena – dazu noch als eine besondere Gebärvariante – erzählt, das könnte eine Konzession ans TV sein. Geburt hat wenig mit dem Titelthema „Chaos und Stille“ zu tun; das wäre doch besser unter „Werden und Vergehen“ untergebracht. Da es, wie mir scheint, darum geht, was die Menschen an Radau und Chaos als bewusst handelnde verurusachen und nicht aus naturgemäßen Zusammenhängen heraus. Auch der Junge Djamal, der sich schminkt, könnte als Konzession an das Immigranten- als auch an das Diversitythema im öffentlich-rechtlichen Rundfunkkontext gelesen werden; auch dieser Vorgang hat wenig mit Chaos oder mit Stille zu tun. Zum Titelthema dagegen passt der Musikunterricht für Taubstumme in einer Turnhalle wieder besser.