Aitas und Shaikitas
Shaikitas sind Frauen, die Aitas singen. Das ist eine Liedkunst mit einer eigenen Sprache, also nicht Arabisch, wie in Marokko üblich. Mit dieser Sprache haben die aufmüpfigen Frauen ein Verständigungsmittel, das andere nicht verstehen. Das stärkt die Widerstandskraft. Vielleicht gibt es kulturell gesehen eine gewisse Parallele oder geistige Verwandtschaft zum Rembetiko, man versucht ja immer, Bekanntes zu finden, wenn man Neues und Unbekanntes irgendwie einordnen will.
Bei dem verführerischen Kino von Nabil Ayouch, der mit Maryam Touzani auch das Drehbuch geschrieben hat, wiederum wäre man verführt von einem Realismo marrochino zu sprechen in Anlehnung an den italienischen Neo-Realismus, aber ohne das Wort Neo.
Eher denkt man an märchenhafte orientalische Erzählungen bei dem wunderbaren Fluss der Geschichte, mit dem Ayouch seine Zuschauer einwickelt.
Touda (Nisrin Erradi) lebt im gebirgigen Landesinneren von Marokko. Sie ist alleinerziehend und lebt mit ihrem Sohn Yassine (Joud Chamihy). Sie ist Sängerin und lernt nebst bekannten populären Liedern jede Menge Aitas. Sie lässt sich diese von ihrer Mitbewohnerin Rquiya (Jalil Talemsi) beibringen.
Es sind diese Auftritte, bei denen die Männer tanzen und den Sängerinnen Geldscheine ins Haar oder ins Kostüm stecken. Toudas Sohn ist taubstumm und müsste dringend in eine Gehörlosenschule. Die gibt es nach ihrem Geschmack sowieso nur in Casablanca. Auch sieht sie für sich wenig Zukunft als Sängerin auf dem Land. Sie erhofft sich von Auftritten in der City den Sprung ins größere Geschäft, ins Fernsehen, mehr Bekanntheit und eine gute Zukunft für sich und ihren Sohn.
Touda macht sich auf den Weg. Sie kennt niemanden in der Stadt. Sie deponiert den Buben bei ihren Eltern auf dem Land. Casablanca wartet nicht auf sie. Die erste Absteige ist wenig freundlich. Das Lokal, in dem sie als erstes auftreten will, seit 30 Jahren geschlossen. Aber sie kommt zum Singen. Sie wird geschätzt in einem Lokal, macht Umsatz. Und sie weigert sich, den Herren zu mehr als zur Animation zu Diensten zu sein. Damit verdirbt sie es sich mit den Lokalbetreibern.
Touda hält an ihrer Idee, Aitas zu singen, eine echte Shaikita zu werden, fest, künstlerischer Eigensinn, der nicht auf das Geschäft schaut. Das trägt ihr die Sympathie eines altgedienten Geigers (El Moustafa Boutankite) ein. Der verschafft ihr einen Auftritt in der feinen Society von Casablanca.
Allein wie der Film sie dorthin begleitet, ist atemberaubend. Sie kommen in dem Hochhaus an, gehen in einen Lift, die Kamera mit. Es stellt sich heraus, es ist ein gläserner Außenlift, aus dem man bis zum 37. Stockwerk fahrend immer mehr die Lichter von Casablanca sieht.
Touda schafft es, diese exklusive Gesellschaft zu elektrisieren. Wie den Zuschauer auch. Aber sie bleibt ihren künstlerischen Werten treu.
Der Film lässt vom ersten Moment an aufhorchen, noch mit Schwarzbild wundert man sich, diese Musik, die kommt nicht routiniert daher, diese Musik, da hat sich einer was gedacht dabei. Und auch später erlaubt sich der Film, keinen gängigen, impermeablen Zudecksound einzusetzen, es mischen sich realistische Alltagsgeräusche dazu. Das bringt den Aita näher an die Menschen, so nah, wie die Kamera der faszinierenden Protagonistin folgt.