Nix da mit heimlich schwul
So hätten es die Eltern von Jürgen Baldiga wohl gern gehabt, Bergmannsleut aus Essen, dann hätten sie erzählen können, er habe halt keine Frau gefunden oder kein Glück gehabt und wäre weiter nicht aufgefallen. So erzählt es die Schwester.
Aber so waren Jürgen nicht. Er war freie Schnauze, gerade heraus, die Dinge auf den Punkt bringen. Er ging mit 15 in Essen am Bahnhof auf den Strich. Das fiel nicht weiter auf, mit dem Freier ins Auto, er bläst ihm einen, bekommt 50 Mark dafür und ab nach Hause, wo Mama und Papa vor dem Fernseher hocken und rein gar nichts mitbekommen.
Für so einen Jungen, der eine Kochlehre macht und künstlerische Ambitionen hat, ist Essen nichts. Berlin zieht ihn magisch an. Es ist 1979. Hier kann er sich kleiden wie er will, kann als Koch jobben, kann auf den Strich gehen und vor allem kann er sich seinen künstlerischen Ambitionen hingeben, sich selbst ausdrücken, malen, fotografieren und unverblümt Tagebuch führen; Kunst und Ficken sind die Erfüllung im Hier und im Jetzt.
Das Tagebuch ist eine der Quellen, aus denen sich das Drehbuch von Ringo Rösener für den Film von Markus Stein nährt. Diese verfügen auch über Fotos, Kontaktbögen und Super-8-Aufnahmen von Jürgen Baldiga. Es gibt nachgestellte Szenen mit Schauspielern (Franziskus Claus als Baldiga) und es gibt Talking Heads mit Leuten, die den Künstler gut kannten, eine Schwester, ein Lover, Ärzte, Aktivisten.
In Berlin kann Baldiga seine Schwulität voll ausleben bis zum Aufkommen von AIDS, die die ganze Sorglosigkeit der Lust zunichte machte. Er selbst wird infiziert, sein Freund Eros auch. Er macht das öffentlich, pflegt einen offensiven Umgang damit. Gleichzeitig bringt er Fotobücher heraus.
Ihn interessieren und faszinieren „Menschen am Rande der Gesellschaft, die ihre Mitte gefunden haben“. Eines der Bücher, die hier samt ihren Modellen breiteren Raum einnehmen, ist „Tunten“. Und wie er das Leben vorurteilsfrei betrachtet und gelebt hat, so hält er es mit dem plötzlich schweren Verlauf seiner Krankheit. Als Suspens vor dem Ende gibt es noch eine Reihe mit Fotos von einer Reise mit seinem letzten Freund nach New York. Auch dieser kommt zu Wort.