Wenn man nicht darüber reden kann,
dass man anders empfindet, als von einem erwartet, wenn man ständig am Rande des Suizides steht, dann ist das nicht unbedingt ein befreiendes, starkes Coming-of-Age. Wenn zuhause ein Vater ist, der in betrunkenem Zustand gewalttätig wird. Wenn bei den Gleichaltrigen im Schwimmclub verächtlich über Schwuchteln gesprochen wird und das in Ingolstadt, so verwundert es nicht, dass es den Protagonisten Dietmar Holzapfel von zu Hause weg nach München zog, wo in Nischen ein liberaleres Klima herrschte.
Der Name des Protagonisten dieser Lebenslinien von Tanja von Ungern-Sternberg unter der redaktionellen Obhut von Martin Kowalczyk ist untrennbar mit dem Kultlokal und der berühmten Männersauna Deutsche Eiche verbunden. Insofern liegt die Verführung zur Produktwerbung nahe.
Aber Tanja von Ungern-Sternberg umgeht diese Falle vorbildlich, wenn man beispielsweise mit der unverblümten Produktwerbung für Madame Chutney des BR vergleicht (wobei es dort allerdings um eine Kochsendung gingt).
Durch Holzapfels Reflektiertheit werden dies ungewöhnlich spannende Lebenslinien. Es ist eine schwule Emanzipationsgeschichte, die immer wieder auch den Stand der Anerkennung resp. Diskriminierung in der deutschen Gesellschaft spiegelt.
Holzapfel erzählt von seinem Kampf um Gerechtigkeit, das meint auch das Recht auf eine Liebe und dass er Ungerechtigkeit nicht ertragen kann. Diese Lebenslinien berichten auch von einer großen Liebe, derjenigen zu Sepp, der eine nicht ganz leichte Ménage à trois vorausgegangen ist, der mit Nicky. Dieser hat Dietmar adoptiert und ihm seinen heutigen Familiennamen gegeben; hat ihm die Deutsche Eiche hinterlassen und Dietmar und Sepp zu Wirten gemacht.
Diese Lebenslinien machen einen mit einem wachen Menschen bekannt, den offenbar nie persönlicher Ehrgeiz getrieben hat, der zuerst sein eigenes Glück gesucht (und gefunden) hat, was er dann mit der Gesellschaft in Einklang zu bringen versuchte; der an seinem Ort Verantwortung übernimmt und vor allem, der nicht einer ist, der jammert und ständig die Schuld bei irgendwem anderen sucht oder mit Pauschalsätzen die Welt verändern will. Es entsteht der Eindruck eines vorbildlichen Bürgers, der sich in keiner Weise über andere erhebt.