Bildnis einer durchtriebenen Frau
Kell-Anne (Juliette Gariépy) ist eine widersprüchliche, wenn nicht gar verdächtige Frau. Sie nächtigt wie eine Obdachlose in den Straßenschluchten Montreals; hat aber in einem Hochglanzloft in einem der Glaspaläste der City ein topmodern eingerichtetes Büro; sie scheint auch ein Model zu sein.
Kell-Anne hat ein besonderes Interesse am Prozess gegen den Massenmörder Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos). Dieser soll drei junge Frauen bestialisch ermordet und die Taten live ins Darknet übertragen haben. Bezahlung in Bitcoins, das wird noch wichtig werden.
Pascal Plante nimmt sich viel Zeit für die Eröffnungsplädoyers der Staatsanwältin Chedid-Couronne (Natalie-Tannous) und des Verteidigers Maître Fortin-Défense (Pierre Chagnon). Die Anklage der Staatsanwaltschaft kommt einer Vorverurteilung gleich, so zwingend scheinen die Argumente, während die Verteidigung immerhin auf die Unschuldsvermutung hinweist, aber auch auf die Möglichkeit von Manipulation speziell von Internetbeweisen.
Im sicherheitskontrollierten Publikum befindet sich auch Clementine (Laurie Babin). Sie spricht nach der Verhandlung Kelly-Anne an. Sie ist von der Unschuld des Angeklagten überzeugt. Die beiden Frauen freunden sich an. Schlafen gemeinsam in der Nische an der Straße. Später wird Kelly-Anne Clementine in ihr Loft mitnehmen und ihr Dinge aus dem Internet zeigt.
Der Film lässt durchblicken, dass er von Kelly-Anne als der wahren Täterin ausgeht und ergeht sich darin, diese Frau nach und nach als höchst durchtrieben darzustellen. Das erzeugt eine verstörende Stimmung.
Von Serienkillerinnen ist selten zu lesen und auch Filme – gibt es überhaupt welche darüber? Clementine übernimmt schnell die Position des Filmemachers, zu erkennen, dass Kelly-Anne die Täterin ist und trennt sich von ihr.
Und der Zuschauer fragt sich, bei aller Realismusbemühung des Filmes, ob das, was Kelly-Anne alles können soll, nämlich nebst der Sadistin noch eine ausgezeichnete Pokerspielerin im Internet zu sein und noch mehr, ob das nicht alles ein reichlich theoretisches Konstrukt männlicher Fantasie ist, vor allem, da dem Zuschauer der Grund für ihre abgrundtiefe Verdorbenheit nicht im leisesten Ansatz angedeutet wird. Womit sich der Haupteindruck auf denjenigen einer reichlich verstörenden Atmosphäre reduzierte.