Averroes & Rosa Parks

Lebendiges Aktenstudium –
Abgründe tun sich auf

in den hier dokumentierten Gesprächen zwischen Patienten und Psychiatern der Abteilungen „Averroès“ und „Rosa Parks“ der Klinik Paris Zentrum des „Hôpital Esquirol“.

Abgründe zwischen den Realitäten, die diese teils hochgebildeten und belesenen Patienten mit ihrer Sprache herstellen und der Realität, mit der Sprache Alltagstauglichkeit beweist im Sinne der Ärzte, so ist zu vermuten.

Es sind Gespräche an diesem Graben zwischen Patientenrealität und Alltagsrealität, die die Patienten auf eine Entlassung vorbereiten sollen, die testen sollen, wie weit ihnen ein Leben wieder ohne Hospitalisierung zuzumuten ist beispielsweise in einer offenen WG oder bei einer Gastfamilie.

Oft wird in den Gesprächen auf die Genese der psychischen Erkrankung eingegangen, der Schizophrenie, des Burnouts, des Verfolgungswahns, von Visionen und Verschwörungstheorien. Es sind Gespräche, die erschreckend zeigen, wie schmal der Grat zwischen „normal“ und „krank“ ist. Gerade, weil sich beide Sprachwelten so oft und so verblüffend überschneiden. Wo ist der Unterschied? Wann ist einer ein Patient, wann darf einer als selbstverantwortlicher Bürger in die freie Wildbahn des Lebens entlassen werden? Kann einer, der schon jahrzehntelang in Kliniken steckt, überhaupt noch ein selbständiges, selbstverantwortliches Erwerbsleben führen? Hat die Sprache der Psychiater überhaupt eine Verbindlichkeit für die Sprachwelt des Patienten?

Dieser Film von Nicolas Philibert enthält Querverweise zu seinem Vorgängerfilm Auf der Adamant. In Deutschland gab es kürzlich einen Einblick in eine Außenstelle der Psychiatrie Emmendingen: Irre oder der Hahn ist tot.

Philibert fängt schön klassisch mit dem Vorstellen der Örtlichkeit an. Er oder sein Kameramann und Patienten betrachten Drohnenaufnahmen des Klinikgeländes. Es ist ein Areal, das genau so gut ein Gefängnis beherbergen könnte mit seinen Blocks, den geraden Linien und den quadratischen Innenhöfen.

Die Gespräche finden in nüchterner Umgebung statt. Philibert verzichtet auf die affige Methode der Verzopfung und der Sprunghaftigkeit der Erzählung. Das macht den Film so dicht und die fast zweieinhalb Stunden spannend.

Es ist eine Art lebendiges Aktenstudium wie es die Ermittlung (startet ebenfalls heute) auch praktiziert. Wortkino, wenn man so will, Kino mit starkem geistigem Faden oder gar: Kino als geistiger Drahtseilakt. Denn Worte können auch Emotionen auslösen, es kann laut und aggressiv werden. Worte können belastet sein. Aber auch befreiend. Sie können auch positive Gefühle ausdrücken. Wobei das mit den „Hugs“, die angesprochen werden, so eine Sache ist.

Die Frage, was macht den mündigen Menschen aus. Es sind ja nicht nur Texte von Patienten, wie hier präsentiert, es gibt ja oft auch Texte im Alltag von Politikerreden bis hin zu Verschwörungstheorien, die einen verzweifeln lassen können. Hinzu kommt, dass einige dieser Patienten enorm selbstreflexiv sind, aber genau so gut sich über Demokratie unterhalten können.

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