Was macht Ihr mit Euerm Geist?
Ihr seid gebildet, seid für die Weitergabe der Kultur verantwortlich, damit für die Humanität. Ihr seid Lehrer, damit auch Vorbilder, Repräsentanten für den geistigen Zustand eines Landes, für die Türkei mit ihrer menschen- und demokrativerachtenden Politik.
Was tut Ihr, handelt Ihr, verändert Ihr etwas? Und womit beschäftigt Ihr Euch, auch wenn Ihr im Osten der Türkei lebt, da wo die Kurden unterdrückt werden, da, wo es Attentate gibt und bis vor kurzem richtig Krieg?
Das sind Fragen, auch, was Charakter sei, die man aus diesem neuen Meisterwerk von Nuri Bilge Ceyland (Once upon a time in Anatolia, Winterschlaf, The Wild Pear Tree) ablesen kann.
Die politische Situation der Türkei spielt nur am Rande mit, sie wird nicht explizit, bis auf vielleicht eine Diskussion, angesprochen. Der Film schildert das, womit sich diese Lehrer in der Provinz in diesem Winterhalbjahr, in dem der Film spielt, beschäftigen.
Es fällt der Name der Ortschaft Incesu als geographischer Orientierunspunkt. Es sind nicht die Probleme der Weltveränderung, sondern des persönlichen Sich-Einrichtens, die Frage der Versetzung, hier vielleicht der Traum von Istanbul, der Kauf eines neuen Autos, das Problem mit der Mutter, die möchte, dass ihr Sohn, der Lehrer ist, endlich heiratet oder es geht auch darum, Kleider an die Kinder zu verteilen.
Größeren Erzählraum nimmt die Geschichte des Lehrers – und Protagonisten – Samet (Deniz Celiloglu) mit der frühreifen Schülerin Sevim (Ece Bagci) ein. Sie hat einen Liebesbrief an ihn in ihrer Schultasche. Er schenkt ihr einen Taschenspiegel. Es kommt zu Denunziationen und merkwürdigen Verfahren in der Schule. Es wird aber nicht so sensationsheischerisch aufbereitet wie das Lehrer-Schülerinnenverhältnis in Millers Girl. Ja, die Causa wird stillschweigend ad acta gelegt.
Viel Augenmerk legt der Film auf die Lehrer-WG in der Lehrerwohnung von Samet und mit dem Kollegen Kenan (Musab Ekici). Kenan ist eher der unkomplizierte, gewinnende Typ, während Samet mehr in Richtung das Lehrers Paul von Paul Gamatti aus The Holdovers geht, mit einer Tendenz zum Grüblerischen, Selbstreflektorischen.
Die beiden Kollegen wohnen in einer Schulwohnung. Sie unterhalten sich oft über das Leben, die Frauen, die Schule, das Verhältnis zu den Eltern, die Träume des Ortswechsels. Einige dieser Gespräche finden filmschön an einer Qelle in der verschneiten Winterlandschaft Anatoliens statt, wenn die WG-Kumpels Wasser holen.
In diesem 2-Männer-Geschichtsstrang taucht unvermittelt eine Frau auf. Sie ist ebenfalls Lehrerin, Nuray (Merve Dizdar). Sie scheint mir eine dieser 7-W-Schauspielerinnen zu sein, die vor jedem Auftritt sich sieben Fragen durch den Kopf gehen lassen, wer bin ich, wo komme ich her, wo gehe ich hin, was will ich usw.
Diese Beherrschtheit kann auch mit der Rolle zu tun haben. Sie hat bei einem Attentat ein Bein verloren, läuft jetzt mit einer High-Tech-Prothese herum. In dieser Dreier-Konstellation sind Melodram und RomCom zugleich angelegt. Klar ist, dass ihre Sympathien eindeutig zu Kenan neigen. Samet dagegen macht sich seine Überlegungen.
Es ist ein Winterfilm, der ganz nebenbei auch die nicht unbedingt vorbildlichen Zustände an türkischen Schulen schildert. Es ist ein Film, der sowohl seinen Titel als auch sein Plakatbild von einer angehängten Szene holt, die eine Kinofantasie vor dem Hintergrund eines romantischen Nihilismus sein mag.
Und noch einen Kunstgriff hat Nure Bilge Ceylan sich ausgedacht. Kurz vor der möglicherweise heißesten Liebesszenen im Film verlässt der Protagonist das Set des anatolischen
Elternhauses von Nuray, landet in vielfältigen Studiokulissen einer riesigen Halle, sucht gezielt das WC auf.
Diesen Riss in der Erzählung mag sich erklären, wer will. Oder er mag das Geheimnis des Meisters bleiben. Aber das sind oft die Dinge, an denen sich die Erinnerung am leichtesten festklammert, gerade bei einem Film, der mit so einer detaillierten Fülle, auch der Charakterisierung der Figuren, die Nähe des Lebens sucht und auch findet. Und dann gibt es da, als weiteren Kunstgriff, Einsprengsel hervorragender Porträtfotografie.