Neapel sehen und sterben
Die Millionenstadt Neapel müsste eigentlich groß genug sein, um zwei starke Planeten, wenn man mal zwei unzertrennliche Jugendfreunde als solche bezeichnen möchte, zu verkraften.
Aber nein, es hat nicht sollen sein. Felice (Pierfranceso Favino) und Oreste (Tommaso Ragno) waren vor 40 Jahren solche Jugendfreunde, die zusammen mehr als nur Pferde stehlen wollten, die eng umschlungen auf dem Motorrad durch das verwinkelte Neapel kurvten. Als Jungs werden sie dargestellt von Emanuele Palumbo und von Artem.
Bei so einem Abenteuer ist etwas schief gelaufen. Das führte dazu, dass Felice Hals über Kopf nicht nur Neapel, sondern auch Italien verlassen und 40 Jahre nicht mehr betreten hat. Er hat sich über den Libanon und weitere Stationen in Kairo eine solide Geschäftsexistenz aufgebaut.
Der Film von Mario Martone, der mit Ippolita die Majo auch das Drehbuch nach dem Roman von Ermanno Rea geschrieben hat, setzt mit dem Rückflug von Felice nach Neapel ein und etabliert ihn als fließend Arabisch sprechend. Er besucht seine alte Mutter (Aurora Quattrocchi), kümmert sich liebevoll um die zerbrechliche Dame. Er wird sie beerdigen.
Hier kommt das Haupt-Showgewicht des Filmes zum Tragen: dieses bullige Aussehen des Darstellers Pierfrancesco Favino, der schon in Il Tradiere – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra beeinruckt hat, der gleichzeitig ein massives Reservoir an Sensibilität bereit hält; dieses aber nie zur Schau stellt. Es passiert einfach. Er scheint nicht verführbar von gewissen äußeren Einflüssen. Ein Mann mit Innen- und Eigenleben, bei dem auch rätselhaft bleibt, warum er nach der langen Zeit überhaupt zurückkehrt.
Es stellt sich im Hinterkopf die Frage, ob das Leben eine Einbahn sei, wie eine Bahnreise von A nach B mit wechselnden Passagieren vielleicht oder ob ein Zirkelschluss möglich und nötig ist, ob so eine heiße Jungsfreundschaft fürs Leben gemacht sei, die Grundlage für eine Sinngebung des Lebens, oder ob sie nur von schnöder und vorübergehender Vergänglichkeit sei.
Felice jedenfalls möchte anknüpfen an den Startpunkt seines Erwachsenenlebens. Er sucht Oreste. Der ist inzwischen ein berüchtigter Mafia-Boss; es sei unmöglich an ihn heranzukommen; auch gibt er Felice indirekt zu verstehen, dass er hier nicht willkommen sei.
Die Mittlerfigur auf dem Weg zu Oreste ist Padre Luigi Rega (Francesco Di Leva). Er ist das Zentrum eines eigenen Neapel-Kosmos, der aktiven und sozial engagierten, pragmatischen Kirche, die aber sehr wohl die realen Machtverhältnisse – also, dass nicht die Polizei das Sagen hat – respektiert, akzeptiert.
Der Film verwendet viel Zeit auf die Schilderung der Welt um die Kirche, den Pater, seine unkonventionelle Jugendarbeit, seinen Umgang mit den herrschenden Verhältnissen. Er wird der Guide für Felice, an Oreste heranzukommen.
Der Film besticht durch eine wunderschöne Kinoerzählweise. Zu reflektieren wäre noch der Titel, er scheint der Hinweis darauf, dass das Handlungsmotiv von Felice die Nostalgie, nicht unbedingt im deutsch-nostalgischen Sinne, sondern eher im Sinne einer Sehnsucht zu sein. Und, ja, Andrei Tarkovsky hat in Italien Nostalghia gedreht!