Der Gymnasiast

Du kannst mir alles erzählen,

meint Isabelle (Juliette Binoche) zu ihrem 17-jährigen Sohn Lucas (Paul Kircher). Darauf fragt er sie, ob der Vater vielleicht bewusst auf schnurgerader Landstraße in einen entgegenkommenden LKW gefahren sei (mit Todesfolge).

Die Frage setzt eine Ohrfeige von Seiten der Mutter, die empört davonläuft. So viel zum Vertrauensverhältnis und der bürgerlichen Toleranz in der Familie Ronis. Sie lebt in der französischen Provinz, in den Alpen, in Chambéry.

Vater war Zahnarzt, selten zuhause. Das Verhältnis zu Sohn Lucas war ein Nichtverhältnis. Lucas meint später, der Vater habe schon viel früher als er gespürt, dass er schwul sei.

Die Geschichte könnte eine Fortschreibung der Geschichte von Close sein, die eine zarte, unschuldige Jungenfreundschaft mit 13 beschreibt.

Mit 17 macht Lucas mit Oscar (Adrien Casse) praktische Liebeserfahrungen. Der Tod des Vaters erschüttert seine Welt und die der Mutter als auch die seines Bruders Quentin (Ronis).

Quentin ist Künstler in Paris und bietet seinem kleinen Bruder an, mit ihm dorthin zu fahren. In Paris kennt Lucas‘ Hunger nach Männerliebe keinen Halt und keine Grenzen mehr. Anonymer Sex. Und auch vom Kumpel seines Bruders, Lilio (Erwan Kepoa Falé), fühlt er sich angezogen.

Lucas macht in Paris Erfahrungen, die er so wohl nie seiner Mutter noch seinem Bruder erzählen könnte. Er entdeckt auch Dates von Lilio, die ihn faszinieren. Auch hier rundum null Verständnis von Bruder Quentin, der dahinterkommt; es setzt den Rauswurf.

Man kann über alles reden. Aber eben doch nicht. Es gibt Abgründe in einer Familie. Es gibt Abgründe, die ein Ende jeden Verständnisses markieren. Es gibt Vorstellungen von Sex und vielleicht auch Liebe, die jenseits der Begreifbarkeit des Bürgertums liegen. Da kann die Welt noch so modern sein und gendern und divers sein wollen; ihr sind die Erlebnisse, die Lucas sucht, nicht zu vermitteln. Das wiederum führt zur Verzweiflung von Lucas.

Er wird in eine Klinik in seiner Heimat eingewiesen. Er spricht nicht mehr. Ein starkes Symbol für die Sprachlosigkeit, die selbst in solch gebildeten Verhältnissen herrscht, sobald die Norm der Hetero-Einehe unterlaufen wird. Wobei diese Ehe nun nicht gerade als eine Attraktion und zur Nachahmung zu empfehlen gezeichnet ist.

Man ist theoretisch und von der Lebenseinstellung her offen und tolerant, man kann über alles reden, aber sobald eine gewisse Schwelle überschritten wird, fängt der Irrationalismus an. Die soziale Kontrolle, die Offenheit behauptet, ist es eben nicht.

Christophe Honoré zaubert mit leichten Pinselstrichen wie beiläufig und mit der wie zufällig anwesenden Handkamera dieses eindrückliche Porträt eines jungen Mannes, dem sich riesige Zwiespalte eröffnen, denn damit, was er will und tut, verspielt er es sich mit seiner Mutter und seinem Bruder.

Aber da wir im Film sind, findet sich eine beinah poetische Lösung, wie die Menschen wieder zueinanderfinden.

Zum starken Eindruck des Filmes tragen die exzellent besetzten Schauspieler bei. Mehr wie ein Aufflackern hingeflasht, nie erweckt der Film den Eindruck schwerfälliger, bedeutungshafter Inszenierung. Es gibt einen kleinen Strang, in welchem zuerst der Protagonist, später die Mutter aus Distanz direkt in die Kamera sprechen.

Es scheint, dass mit dem Tod des Vaters bei Lucas alle Dämme bezüglich Hunger auf Männer geborsten sind.

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