Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber

Durchgeknalltes Russland
Russexzess
Russenwahn

In diesem neuen Film von Kirill Serebrennikov nach dem Roman von Alexey Salnikov sprengt das russische Leben schier die Leinwand. Es wird geflucht, gehustet, geschimpft (über Barbaren), angerempelt, gekillt, gekotzt, geraucht, vergewaltigt, gefickt, gesoffen.

Es ist Winter, Weihnachten steht bevor. Schnee überall in der russischen Stadt, keine Sonne, Nebel, Düsternis. Im Autobus geht es ruppig zu und her. Ein Alter, der wagt den Mund aufzumachen, wird brutal rausgeworfen, dabei verliert er sein Gebiss, ein Requisit, das durch den Film uns erhalten bleibt.

Das Gebiss landet beim Protagonisten Petrov (Semon Serzin). Der ist sowohl Automechaniker als auch Comic-Zeichner, einer, der sich gehen lässt, der sich durch diese Nacht schieben und treiben lässt. Im Bus, in einer Bibliothek (hier eskaliert eine Dichterlesung in Rangelei), in einem Buchverlag, in der Autowerkstätte, in einem Leichenauto, dem die Leiche wegläuft, und schließlich soll er noch sein Söhnchen, das fiebrige, zur Weihnachtsfeier begleiten. Seine Frau Petrova (Chulpan Khamatova) arbeitet bei der Stadtbibliothek. Messer lösen in ihrem Kopf Mordfantasien aus. Außerdem fickt sie während der Lesungen zwischen den Bücherregalen.

So chaotisch wie Serebrennikov das Leben im Autobus schildert, gerade hier wird extrem auf die Politik und die Politiker geschimpft, so chaotisch läuft die Weihnachtsfeier mit den Kindern, den Häschen und all den Kostümierungen ab, mit dem Nikolaus, ob im Hier oder in der Rückblinde in Schwarz-Weiß, die den letzten Teil des Winters ausmacht. Hier ist noch UdSSR-Zeit. Jahrestag der Oktoberrevolution wird gefeiert, 60 Jahre Revolution. Die Jugend kümmert es nicht weiter, sie ist jung und verliebt und denkt an ihre eigene Zukunft, ist sorglos, muss sich deshalb mit dem Thema Abtreibung beschäftigen.

Ein Autor kommt vor, der ein Manuskript im Buchverlag unterbringen will, auch hier chaotische Zustände, der Verleger nimmt den Autor zur Seite, erklärt ihm seine Untauglichkeit. Darauf will er Selbstmord begehen, Petrov soll ihm dabei assistieren; das wird eine seiner Anekdoten dieser Nacht; die er wohl für sich behalten wird.

Es ist eine Welt, in der auch ein vertikaler Regenbogen nicht weiter verwundert, so wenig wie ein Aspirin von 1977 mit besonderen Wirkungen. Serebrennikov zeichnet ein Russland in Fieberträumen, ein Russland, dem der Boden ständig entzogen wird, ein Russland aber auch, das wunderbar darüber hinweg Musik machen kann und die biedere Kunst des Super-8-Familienfilmes genau so gelten lässt. Ein Russland am Rande des Wahnsinns, ein Russland zum Verzweifeln. Ein Russland, das den Flu erwischt hat.

Auf seine Art durchaus wesensverwandt mit dem Irrsins-Porträt Bardo von Innarritu.
Oder mehr noch mit dem russischen Monumentalklassiker Komm und Sieh.

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