Kalle Kosmonaut

„Wenn er sich nicht am Schlüpfer reißt“,

dann dürfte die Sozialprognose für den Protagonisten dieser Langzeitdokumentation von Tine Kugler und Günther Kurth nichts Gutes verheißen.

Es geht um Kalle, der über zehn Jahre immer wieder begleitet, befragt, beobachtet wird.

Mit zehn Jahren das erste Mal. Mit 20 hat er bereits über zwei Jahre Knast hinter sich, hat eine Frau und ein Kind, einen Job und er macht Rap. Er wächts in Berlin da auf, wo große Sonnenblumen auf die Megawohnblöcke gemalt sind und um die herum es auch Natur gibt, die der Kamera idyllische Bilder entlockt. Aber die Sozialprognose.

Man muss zurückgehen zur Wende. Die Großeltern haben in der DDR ein ordentliches Leben geführt, konnten sich Urlaub leisten und ein Bier, haben eine Arbeit gehabt, ein Auto. Auf die Wende folgt der Absturz, Jobverlust, Alkohol („alles schief gelaufen“). Da dürften sie in ihrem Milieu nicht negativ aufgefallen sein.

So kämpft auch die Mutter von Kalle, ihre Ehe ist kaputt. Mit vielleicht neun Jahren hat Kalle den Vater zum letzten Mal gesehen, der hat sich nicht mehr gemeldet; Kalle fehlt die Vaterfigur. So scheint der Einstieg in die kriminelle Laufbahn vorprogrammiert „die Leiter bis ganz nach unten“. Es folgt was folgen muss: Knast („Ich bin nur noch kalt“).

Der Film wirft kein gutes Licht auf den Strafvollzug in Deutschland. An einer Stelle schildert Kalle, was er alles unternommen hat, um aus der Zelle rauszukommen, um der Langeweile zu entkommen. Wie er seine Strafe abgesessen hat, steht er ohne Geld und dafür mit einem Berg Schulden da.

Das Dokuteam spielt einerseits Mäuschen, ist also in den engen Wohnverhältnissen dabei, tut aber so, als sei es nicht vorhanden. Das scheint mir immer etwas problematisch, weil auf so engem Raum ein einziger zusätzlicher Mensch die Situation spürbar verändert. Das Dokuteam befragt aber auch hörbar und mit spürbarer Anwesenheit den Protagonisten.

Die Wahl eines geeigneten Protagonisten kann über die Qualität einer Dokumentation entscheiden. Tine Kugler und Günther Kurth haben entweder ein feines Näschen mit dem Entscheid für Kalle gehabt oder zumindest Glück. Er ist ein Mensch, der keine Scheu vor der Kamera hat, sich aber offenbar auch nicht anders verhält, wenn keine Kamera da ist. Er ist ein Mensch, der nachdenkt und – natürlich auch durch die Dokumentation – lernt, sich auszudrücken, in Sprache zu gießen, was ihn beschäftigt. Das wird sich später in den Rap-Texten zeigen. Zudem ist der Film mit bestechenden Animationen angereichert, die die Atmosphäre, in der Kalle lebt, überzeugend erfassen.

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