Grand Jeté

Nicht das gediegene Ganze.
Ödipus lässt grüßen.

Das gediegene Ganze, das wäre die perfekte Aufführung eines Ballettes wie Schwansee oder Nußknacker, das wäre ein „Grand Jeté“ der Prima-Ballerina, ein Sprung in die Höhe mit wie beim Spagat gespreizten Beinen, das wäre diese Sekunde Stilland in der Schwerelosgikeit. Das gediegene Ganze wäre ein Film, bei dem die Kamera sozusagen immer den Überblick bewahrt und nichts auslässt.

Dieses gediegene Ganze ist aber just weder Idee noch Ziel von Isabelle Stever in ihrem Film nach dem Drehbuch von Anna Melikova nach dem Roman von Anke Stelling. Sie interessiert der Blick haarscharf vorbei an diesem traumhaft Perfekten, Gediegenen, an der perfekten Ballettaufführung oder an der perfekten Familie. Sie interessiert der Blick haarscharf daneben – inklusive der Voraussetzung, dass dem Zuschauer in jedem Moment klar ist, in welchen Zusammenhang die Details gehören.

Nadja (Sarah Nevada Grether) ist Primaballerina in Berlin. Sie unterrichtet auch Ballett. Sie ist eine extrem harte Lehrerin mit aller Brutalität. Das zeigen Details aus ihrem Unterricht, wie sie sich einer Schülerin, die mit gebeugtem Rücken da sitzt mit vollem Gewicht auf die Schultern setzt. Sie macht ihren Job unter Schmerzen. Ihre Zehen sind blutig vom Spitzentanz. Sie hat Ekzeme am Hals. Sie nimmt Schmerzmittel.

Die Kamera liebt auch ihren harten, muskulösen Rücken. Nadja fährt zu ihrer Mutter aufs Land. Dort lebt Sohn Mario (Emil von Schönfels). Der ist wunderhübsch, dürfte 17 oder 18 sein, Mutter ist sich nicht sicher, ob er schon den Führerschein hat; er jobbt in einem Gym.

Zwischen Mutter und Sohn entwickelt sich das, was einsten dem König Ödipus vorausgesagt worden ist. Nur, dass hier die Mutter die Aktive ist. Der Sohn lässt es sich widerstandslos gefallen, ja er lässt sich aktiv auf die Beziehung ein. Und das in der Wohnung seiner Oma, der Mutter von Mama.

Am Schluss singt die Ballerina das Lied vom Mocking Bird. Das ist jetzt schon in kurzer Zeit der dritte Film, der von Protagonisten der Hochkultur in der Stadt zu ihren Wurzeln auf dem Land zurückkehrt. In MITTAGSSTUNDE kehrt ein Professor zur Pflege seiner Eltern auf den Gasthof im flachen Land zurück, wo Plattdeutsch gesprochen wird und in ALLE REDEN ÜBERS WETTER kehrt eine Hochschuldozentin in ihre ostdeutsches Dorf zurück.

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