Alles verkantet
Wenn in der sorgfältig gepflegten Hypokriten-Welt einer kleinen menschlichen Einheit, hier eines Bergdorfes in Südtirol, ein Lügenstein aus diesem Gebäude herausgebrochen wird, so droht die ganze Chose einzustürzen.
Der Film von Evi Romen erzählt in Stimmungsbildern und in angenehm knappen Dialogen einen Ausschnitt aus der Geschichte von Mario (Thomas Prenn). Der ist hier aufgewachsen, seine Mutter betreibt mit dem Stiefvater eine Metzgerei. Der leibliche Vater hat grade einen Job als Hausmeister bei der Schule. Es ist Weihnachtszeit. Die Jugend, die auswärts arbeitet oder studiert, kehrt zu den Familien zurück.
Mario wird vorgestellt mit einer Szene wild ekstatischen Tanzes in der Turnhalle mit Theatersaal. Auch sein Jugendfreund Lenz (Noah Saavedra), der Schauspieler in Wien ist und nach Rom möchte, ist im Dorf. Alte, sensible Gefühle werden wach, die im Bergdorf nichts zu suchen haben. Sehnsüchte und Träume melden sich.
Mario möchte als Tänzer auftreten, aber er hat keine Ausbildung, er hat lediglich eine Lehre als Konditor. Er hat aber auch ein Drogenproblem. Er treibt sich oft am Bahnhof von Bozen rum.
Rauf – runter. Immer wieder findet sich der Film in der Bergbahn, die das Dorf mit dem Tal verbindet. Der Fahrer der Seilbahn gibt seine Kommentare ab. Sie sprechen für das intakte Lügengebäude der Berggemeinschaft, die klar in Gut und Böse zu unterscheiden weiß; die das Böse selber treibt, aber unter dem Deckel hält. So ein Dorf kann nicht umgehen mit einem, der offen seine Verzweiflung am Wahnsinn der Welt demonstriert.
Lenz nimmt Mario mit auf eine Spritztour nach Rom in eine bunte Disco. Mario lernt auch den Agenten von Lenz kennen, der ihn mustert und ihm seine Visitenkarte gibt.
Es wird jetzt zu einem verstörenden Ereignis kommen, das den Film weitertreiben wird in eine Richtung, die den Einblick in die Berggemeinschaft gnadenloser macht durch Probleme, mit denen umzugehen sie weder vorbereitet noch irgendwie fähig ist. Allerdings sollte jetzt nicht weiterlesen, wer den Film nicht gesehen hat und wer die Geschichte nicht verraten haben möchte.
Es passiert in Rom etwas, was zum Glück nicht allzu viele Menschen erleben. Muslimische Terroristen richten ein Blutbad an in der Disco. Mario überlebt. Lenz nicht. Das stellt die Dorfgemeinschaft vor eine Prüfung, der sie nicht gewachsen ist und Mario noch weniger; labile, empfindsame Menschen mit Außenseiterstatus, drogenabhängig dazu, können mit solchen Schicksalsschlägen noch weniger umgehen; warum gerade Lenz und warum nicht Mario? Für Mario ist das Erlebnis nicht dazu angetan, von den Drogen loszukommen.
Aber Evi Romen gibt dem Film einen verrückteren Drall. Mario kommt am Bahnhof von Bozen mit missionierenden Muslimen in Kontakt. Er kennt Nadim (Josef Mohamed) von seiner Konditorlehre her. Die Muslimgemeinschaft nimmt ihn auf. Hier hört er die Geschichte von den großen Herzen. Hier lernt er einen humanen Islam kennen, der nichts mit dem IS zu tun haban will und der Mario verständnisvoller begegnet als die gestresste Dorfgemeinschaft.
Die Dorfgemeinschaft wird noch mehr herausgefordert, wie Mario als Muslim gekleidet beim Dorffest auftaucht. Maximale Überforderung, maximaler Tabubruch.
Evi Romen erliegt gar nicht erst der Versuchung eines irgendwie hingezurrten Happy Endes, sie setzt auf Marios wilden Tanz vom Anfang des Filmes noch eins drauf, auf dieses packende Soziodram im einzigartigen Südtiroler Dialekt.