Polizeiruf 110: Bis Mitternacht (ARD, Sonntag, 5. September 2021, 20.15 Uhr)

Selbsttäuschung und Systemversagen.

Die Geschichte um diesen Polizeiruf herum ist garantiert lustiger, komischer, absurder oder vielleicht auch nur seldwylahafter als der Polizeiruf selbst. Es ist eine Geschichte von Abhängigkeit, Selbsttäuschung und Selbstvorgemache.

Vorab: das sei jedem Filmfeuilletonchef einer großen Tageszeitung unbenommen, in der Freizeit gegen gutes Zwangsgebührengeld ein Drehbuch für einen Tatort oder einen Polizeiruf des öffentlich-rechtlichen Rundfunkes zu schreiben.

ABER: es gibt Abhängigkeiten. Der Autor dieses BR-Polizeirufes in der Regie von Dominik Graf ist Tobias Kniebe, seines Zeichens Chef des Filmfeuilletons der SZ. Den Zeitungen geht es nicht gut. Die SZ hängt am Tropf des öffentlich-rechtlichen Rundfunkes, welcher täglich Annoncen bei ihr schaltet. Andererseits ist die SZ nach wie vor eine wichtige überregionale Tageszeitung. Sie kann durchaus zur Meinungsbildung beitragen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk dagegen kämpft auf seine Art mit Überlebens- und Imageproblemen: trotz über 9 Milliarden-Budget und trotz lädierten Rufes muss er auch noch sparen – und kann es nur auf Kosten der Qualität. Sein Ansehen in der Öffentlichkeit ist nicht das beste. Dieses wiederum macht es für die Politik zusehends schwieriger, Erhöhungen der Haushaltszwangsgebühr durchzusetzen. Wenn also die SZ günstig über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk berichtet, so nützt es dessen Ansehen, kann es einer der Punkte sein, die der Politik Erhöhungen der Zwangsgebühr leichter machen. Es ist in diesem besonderen Fall nicht zu erwarten, dass die SZ kritisch über den hier zu besprechenden Polizeiruf schreibt (sie findet ihn vorbehaltlos spannend auf der Medienseite der Wochenendausgabe). Man will ja einen eigenen Mitarbeiter nicht in einer anderen Funktion desavouieren.

Die SZ hat vorgebaut. Schon vor Wochen durfte der renommierte Fritz Göttler im Porträt auf Seite vier der SZ Dominik Graf ein Kränzchen winden, als sei dieser in etwa der größte lebende Regisseur Deutschlands; Göttler erledigte die heikle Aufgabe souverän aus dem Handgelenk. Und Grafs Boutiquenarbeit FABIAN – ODER DER GANG VOR DIE HUNDE wurde beim Kinostart gar fett als Meisterwerk des Kinos apostrophiert. Wobei Graf bestimmte Qualitäten als Regisseur nicht abzusprechen sind, der gute Geschmack, die Vorliebe für das Giallohafte, das ausgereift Kunstgewerbliche, auch die pflegliche Behandlung der Schauspieler.

Das ist jedoch auch der Punkt, wo das Seldwylahafte greift: also wie toll die verantwortlichen Redakteure Claudia Simionescu und Tobias Schulze es gefunden haben werden, dass Tobias Kniebe, der als Zeitungsmensch für sie eminente Bedeutung hat, wenn er, resp. seine Zeitung, ihre Arbeit loben, dass der jetzt für den von dessen Zeitung in den Himmel gehobenen Regisseur Dominik Graf ein Drehbuch schreibt; das dürfte zu einer Selbsttäuschung im Sinne einer Begeisterung führen, die nicht unbedingt durch Fakten gedeckt ist.

Kniebe hatte als Grundlage für sein Drehbuch „Abgründe – Wenn aus Menschen Mörder werden“ von Josef Willing. In dem Fall geht es um ein einziges Verhör eines zweimal des Mordes Verdächtigten (Thomas Schubert). Das ist mutig, sich für ein Verhör als Tatortgeschichte zu entscheiden; denn das kann hier sicher nicht so gebracht werden, wie Romuald Karmakar vor 25 Jahren Götz George den Totmacher hat spielen lassen.

So geht es jedenfalls nicht. Deswegen hat Dominik Graf auch fleissig und gewohnt gediegen in typischer Fernsehschnappatmung nicht nur im Verhörraum und dem dazu gehörenden Überwachungsraum gedreht, sondern auch zu Außenlocations und Rückblenden gegriffen.

Der Verdächtige ist ein überdrehtes, intellektuelles Schwatzmaul, fühlt sich den Interviewern überlegen. So eine Figur hat den Nachteil, dass dadurch Geschwätzigkeit statt Handlung dominieren. Den Zuschauer mit Geschwätz bei der Stange zu halten, dürfte nicht unbedingt leicht sein.

Es gibt die eine kleine Geschichte innerhalb des Verhörs, die trägt, ist übersichtlich und gut nachvollziehbar, die Szene mit dem Kriminalbeamten, der tätlich gegen den Verdächtigen vorgeht und die Folgen davon. Das ist eine der Sequenzen, in der weder erklärt, noch erörtert, noch eine Handlung erzählt wird, ist eine der Sequenzen, die einen kinematographisch schlüssigen Drive haben. Was vom übrigen Polizeiruf hier wenig behauptet werden kann.

Der Film beginnt mit einem Jubelbilderbogen auf die Isar und das Menschenglück in München. Frauenstimme mit Glücksvergleich, die auch mal so begehrt und strahlend sein möchte. Anmachthema wie im Studentenfilm. Domingrafgeschmackssicher. Graf perfektioniert das Kunstgewerbliche, montiert schneller, eleganter, kühner. Ellenlang wird das Anrecht auf individuelles Glück phrasenreich erklärt. In einem Kino, das an die Kraft der Bilder glaubt, könnte man diesen Info-Gehalt in 30 Sekunden zeigen und ganz ohne Statements.

Es gibt mehr Einwände, überflüssige Szenen, die keinesfalls hilfreich sind, tiefer in die Psyche des vermuteten Täters heineinzuschauen.

Es ergibt wenig Plausibilität, dass gezeigt wird, wie ein Exkommissar (Michael Roll) extra per Helikopter eingeflogen hier landet. Diese Bilderstrecke ist biederer Durchschnitt und trägt weder zur Charakterisierung der Figur noch zum Inhalt des Filmes bei und noch weniger zur Beleuchtung des Tatverdächtigen; sie wirkt wie Zeit schinden in einem dünnen Drehbuch. Wobei vom Drehbuch her klar ist, was für ein Typ das sein könnte (Kniebe dürfte einige Filme mit solchen Figuren gesehen haben); gegenüber dieser filmgeschichtlich fundierten Rollenidee scheint Michael Roll eine Fehlbesetzung, er wirkt für die Texte, die er sagt, nicht souverän genug.

Ähnlich ergeht es mir mit Verena Altenberg, der Kommissarin. Wenn ich zurückdenke an die flirrenden Szenen zwischen ihr und Ilse Neubauer in Frau Schrödingers Katze. Jetzt wirkt sie angestrengt, wenn sie die verünftelnden Drehbuchtexte abliefert, besonders mit Michael Roll, da spielt sie wie gegen eine Wand. Aber die Casterin An Dorthe Braker wird der Produktion vorgegaukelt haben, es handle sich um die best mögliche Besetzung im Subventionstümpel; es ist nicht zu erwarten, dass es einen Wettbewerb um die Rolle gegeben hat; somit ist die Gunstvermutung nicht neutralisiert.

Es gibt einen ziemlich platten und vor allem wenig nachvollziehbaren „Einfall“ des Drehbuches. Mitten in der nächtlichen Verhandlung stört durchdringender Bohrlärm das Verhör. Ein durchgeknallter Hausmeister? Das zu klären gehen Minuten TV-Zeit drauf, die außer allgemeingültigen Banalitäten (dass Lärm stören kann) grad gar nichts zum Sachverhalt des Verhörs beitragen, nichts zu einem allfälligen Täterverständnis. Auch hier wird Sendezeit ohne Gegenwert vertan; Zeit, die der Genauigkeit der Analyse des Falles abhanden kommt.

Wie wär es, Romuald Karmakar einen Tatort drehen zu lassen?

Drehbuch: eine Aneinanderreihung wenig belastbarer Werweißereien. Es wird nur darüber geredet, nur erzählt und von Dominik Graf nett und abwechslungsreich illustriert. Schwerfälliger Diskurs der Kommissare über Fortführung der Befragung. Diese wirkt erfunden. ein unharmonischer Cast, ein hackeliger Cast.

Ein Drehbuch, das seine eigene Idee brillant findet, den pensionierten Kommissar zurückzuholen. Sprachlich kein Münchner Cachet. Und dann die Standardfrage in der darniederliegenden deutschen Drehbuchkultur: „Was ist hier los?“, die einen zuverlässigen Hinweis auf ein notleidendes Drehbuch liefert.

Wobei auch Tobias Kniebe, so ist zu vermuten, sich bezüglich seines Einkommens weit unterproportional an der Finanzierung des demokratischen Gemeinschaftswerkes öffentlich-rechtlicher Rundfunk beteiligt, absolut legal dank der Haushaltzwangsgebühr.

„Wir brauchen jetzt alle an Bord“. „Absolut“. „Keine Frage“. … abgedroschene Füll-Sätze. „Wir brauchen jetzt hier vollen Einsatz!“ – eine Phrase, die weder eine Figur charakterisiert noch Münchner Kolorit in den Film bringt noch für Handlung oder Spannung förderlich ist.

Raumumzug mit zu viel Floskel-Text, langatmig, zu brav runtergespult.

Witzlos der Dialog zwischen Eyckhoff und Murnau, so überernst, so eindimensional. Hier sprüht gar nix, wenn man daran denkt, wie die Szene zwischen ihr und Ilse Neubauer gefunkelt hat.

Künstlerisch angedachte Mehrtonmusik.
Wenn schon ein Schuh aus der Medikamentensuche gemacht wird, dann bittschön richtig schräg. So ist das nur öd.

„Aber der Versuch war trotzdem wichtig“.

Einmal mehr beweist dieser Film, dass Drehbuchschreiben kein Spaziergang ist. Nach einer Stunde hat man das Gefühl, es waren gefühlte drei.

„Ergreif doch die Chance, ergreife sie jetzt, jetzt“. Das sind Sätze, die passen nicht zu Verena Altenberger, sie fasziniert dadurch, dass sie eben nicht der vernünftelnde Normalo ist. Zu ihrem zupackend-pragmatischen Typ passen Bauchgefühl, Herz, gesunder Menschenverstand und nicht Vernünftelei.

Der 12-Uhr-Schlag ist der Punkt, der zehn Minuten vor Schluss noch eine Hektik auslösen soll im Polizeiruf, dann rasen gerne alle los, tatütata. Stattdessen kommt hier eine nicht allzu überzeugende Lösung des Falles. Es sei dem Polizeiruf-Team unbenommen, zu feiern. Sie haben in einer knapp bemessenen Drehzeit 90 Minuten bewegtes Bild zustande gebracht, das am Sonntagabend über die Bildschirme flimmert.

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers!

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