Emi
ist die Hauptfigur in diesem neuen Film von Radu Jude (Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen, Scarred Hearts, Vernarbte Herzen).
Emi (Katia Pascariu) ist Lehrerin in Bukarest. Sie ist beliebt, ihre Schüler schaffen überdurchschnittliche Resultate, sie scheint eine begnadete und wissende Pädagogin zu sein. Emi ist ein ganz normaler Mensch, eine ganz normale Frau, auch sexuell. Sie treibt lust- und fantasievollen Sex mit ihrem Freund Eugen (Stefan Steel). So wie viele Leute, so wie die Freiheiten heute sind.
Was vielleicht nicht alle machen, ist, den Sex auch zu filmen; so unüblich aber dürfte das auch nicht sein. Dumm nur, aber sonst hätte es diesen Hammerfilm aus Rumänien nie gegeben, jemand hat das 3-minütige Hard-Core-Sexvideo ins Internet gestellt, auf eine Seite, die nur für Erwachsene ist.
Da das Internet aber unter Inkontinenz leidet, dauert es nicht lange, bis das Video, mit dem der Film knallig eröffnet wird, schnelle Verbreitung in den Schülern zugänglichen sozialen Medien findet.
Eine explosive Ausgangssituation, die Radu Jude hier erfindet, um in einem Triptichon-Film ein schillerndes Licht auf das heutige Rumänien inklusive seiner Geschichte (Ingredienzien tauchen aus seinem Vorgängerfilm „Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren die Geschichte eingehen“ auf, vom Judenmassacker in Odessa, das Rumänen begangen haben, über die bis heute anhaltende Verehrung von General Antonescu und den geistigen Input von Isaak Babel bis Hannah Arendt).
Triptichon. Im ersten Teil wird die Ausgangslage geschildert. Emi ist hektisch in Bukarest unterwegs. Diesen Teil könnte man einen Rumania-Realismo nennen; das Stadtleben von Bukarest pulsiert. Jude bleibt auf Bildern der Stadt hängen, filmt Nicht-Inszeniertes, streift Wahlplakate, Werbung, Kinoaushänge (La Strada als verwandtschaftlichen Gruß an den italienischen Neorealismo) oder die Nacktstatuen hoch oben auf der Fassade des Bukarest Kinos, der Seifenblasen-Künstler vor dem Kinoaushang, Autoverkehr, Passanten und inszenierte Szenen in Läden, Apotheken, Supermärkten, Buchhandlungen, Cafés. Die sind mit pointierten Texten zum heutigen Leben und Denken in Rumänien gewürzt.
Der zweite Teil ist ein essayistischer Film mit der Haltung eines skeptischen Philosophen, der sich nur wundern kann über das, was die Geschichte, die Menschheitsgeschichte, die Kulturgeschichte an Spuren hinterlässt vom Grauen, zu dem der Mensch fähig ist, zur Medusa-Geschichte, der Haltung der Kirche unter den aberwitzigsten Regimes.
Es ist ein Kaleidoskop das nach Begriffen arbeitet wie Kirche, Mathematik, Heimat und zu jedem Begriff eine filmische Anekdote bietet, ein filmisches Apercu, einen Aphorismus, ein Archivstück, zynisch-satirische Witze, ein Bonmot, einen weisen Spruch, die die Vielfalt und moralische Skrupellosigkeit so vieler menschlicher und politischer Handlungen illustrieren; ein skeptisches Sammelsurium.
Im dritten Teil kommt es zur früh angekündigten Elternversammlung an der Schule. Die wird zum Diskussionsstück, wobei auch hier wie im übrigen Film unter aktuellen Corona-Bedingungen gearbeitet wird, die ab und an thematisiert werden, wenn es sich ergibt.
Hier wird Moralität verhandelt mit starken Argumenten und oft auch so, als ob eine Lehrerin kein Privatleben und keinen Sex haben dürfte und auch die Verantwortung der Eltern dafür, was den Kindern im Internet anzuschauen erlaubt oder nicht erlaubt sein soll.
Auf sein Gesamtthema weist Radu Jude im Titelzusatz „Skizze zu einem Heimatfilm“ hin: auf die Grundfragen des menschlichen Seins ausgerichtet und dazu gehört die Heimat, da, wo ein Mensch sich zuhause fühlt, frei und nicht unterdrückt, oder auch: was alles an furchtbaren Flecken auf einer Heimat liegen können.
Eine Szene, bei der nicht ganz klar ist, ob sie inszeniert oder gerade passiert ist: Emi kommt von hinten und soll einen Überweg über die Straße in Richtung Kamera gehen. Da fährt ein absurdes, schwarzes SUV-Gefährt vor, hält mitten auf dem Fußgängerstreifen, so ein Auto mit extrem hoch gelagerter Fahrkabine und Riesenpneus wie bei einem Traktor; ihr entsteigt ein dürres Männlein, das unsicher auf seinen Beiden steht und wackelig die hohen Tritte zur Straße runterklettert; schräges Symbol menschlicher Paradoxie.