Anmaßung (Berlinale Summer Special)

Eine Anmaßung 

wäre es, zu behaupten, man kenne die ganze Wahrheit über einen Menschen und warum er zum Mörder geworden ist. Wir können immer nur Ansichten und Ausschnitte dieser Wahrheit erfahren, das meint ein Psychiater, der sich mit verurteilten Mördern beschäftigt. Sie nennen ihn Dr. Feelgood, schreiben aber im Abspann, dass die Namen geändert worden sind, vor allem der des Protagonisten, den sie Stefan nennen. 

Sie, das sind die Dokumentaristen Chris Wright und Stefan Kolbe, die versuchen unter annähernd wissenschaftlichen Laborbedingungen der Wahrheit ihres Protagonisten nahe zu kommen, indem sie auch den Rahmen ihre Filmes klar abstecken, was beinhaltet, dass das Grundproblem einer solchen Dokumentation, die Beziehung, die sich zwischen Protagonisten und Filmern entwickelt, thematisiert wird, denn diese wiederum beeinflusst durchaus die Geschichte; hier sind Parallelen zum DOK.fest-Film René zu sehen. 

Es wird offengelegt, dass Stefan für seine Mitwirkung eine Gage erhält, dass er zögerlich nur sich bereit erklärte, dass er keine Nahaufnahmen von seinem Gesicht haben möchte, dass zu einem späteren Zeitpunkt sich die Dreharbeiten erleichternd auf seine Gefangenschaft auswirken, indem ihm Freigänge und Ausflüge bewilligt werden. 

Ein weiteres Mittel zur Verfremdung ist der Einsatz einer Puppe, die von zwei professionellen Puppenspielerinnen nach dem Gesicht des Protagonisten angefertigt und dann zu Texten aus Gesprächen bewegt wird. 

Die dokumentarische Situation verdoppelt sich anfangs, indem sowohl das Dokuteam in Spiegeln zu sehen ist, dann die Puppenspielerinnen in einem studiohaften Raum und hinter Glas in einem weiteren Raum der Protagonist, eine Situation, die auch so deutlich macht, wie fragil das Thema des Filmes ist, wie behutsam und möglichst vorurteilsfrei sie sich ihrem Protagonisten und dessen Schuld nähern wollen. 

Die Dokumentaristen legen auch offen, wie sie ihren Protagonisten das erste Mal gesehen haben, dass er den Lauf um einen See nur wegen des Teams gemacht habe, weil mit zwei Polizisten als Aufsehern im Schlepp mache das keinen Sinn. Hierbei sind wesentliche biographisch Elemente ders Protagonisten zu erfahren. 

Es ist kein Film über Stefan, es ist ein Film darüber, wie wir uns ein Bild über Stefan machen.

Es ist vielleicht nicht ganz die verkorkste Jugend, aber sie ist mit Krankheit und daraus folgend mit Ausgrenzung versehen, mit Bettnässen noch im Schulurlaub und drastisch-brutaler Behandlung durch die Mitschüler. Es kommen Defekte von Geruchs- und Geschmackssinn hinzu, Zeiten, in denen er kaum spricht. 

Stefan, der nicht Stefan heißt, wird als eine Persönlichkeit mit autistischer Tendenz geschildert. Dem kommen Fabrikjobs in der Herstellung von Chemiefasern entgegen. Aus der ehemaligen DDR nach Oberbayern. Hier Anschluss zu Menschen, eine einerseits glückliche Zeit und genau daraus nimmt das Unglück seinen Lauf. 

Der Strafverlauf selber kommt insofern gut weg, als er wie eine große Bemühung des Staates zur Persönlichkeitsreparatur mit Programmen wie der verhaltenstherapeutischen Massnahme Männlichkeit und Identität, wie Motivation, Selbstmanagementprogramm, Zukunft des Ich, das Päckchen Geschichte, das einer mitträgt und das symbolisch als Garneinwicklung dargestellt wird, Anleitung zur Reflexion des eigenen Verhaltens und dass der Psychotherapeut versucht, die Straftat als Teil der gesamten Biographie zu sehen. 

Ein Film, der anregt, doch mal wieder grundsätzlich über den Strafvollzug nachzudenken, der generell zu sehr dazu tendiert, die Menschen wegzusperren. Und überhaupt schwebt mit die Frage, wie Menschen überhaupt über andere Menschen richten dürfen. 

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