Einfingersystem.
In Marokko gibt es Schreibstuben, da tippen des Lesens und Schreibens kundige Männer mit dem Einfingersystem auf alten mechanischen Schreibmaschinen und mit mehreren Durchschlägen Texte und Dokumente für weniger Lese- und Schreibkundige. Davon gibt es offenbar genug, sonst hätten die Schreibstuben nichts zu tun.
Im Film von Merième Addou sind diese Schreibstuben unvermeidbare Anlaufstelle für Frauen, denen die Männer schon vor Jahren weggelaufen sind. Die Frauen sind mit dem Kind oder den Kindern zurückgelassen worden. Sie wollen die Scheidung vor Gericht einreichen. Denn ohne Erlaubnis des Gatten ist keine Arbeit gestattet. Oder eben nur prekäre Jobs wie Küchenhilfe oder Erntehelferin oder Weben von Tüchern und Teppichen.
Um die Scheidung vor Gericht einzureichen, ist Papierkram nötig. Das Einfingersystem ist ein schönes Symbol für die Schwierigkeit bei der Beschaffung von Dokumenten für diese Frauen. Auch das ist nicht marokkospezifisch, dass immer noch irgendwas fehlt bei den Papieren, irgendwas unvollständig ist.
Aber in Marokko ist es für diese Frauen vielleicht noch härter. Sie sind glücklich, wenn endlich im Radio ihre Namen durchgegeben werden und die Namen ihrer entlaufenen Gatten mit dem Hinweis, dieser möge sich binnen eines Monats melden, sonst würde die Ehe geschieden.
Es gibt andere Hürden. Ein Gericht verlangt von der Klägerin, sie soll binnen vier Tagen ein Dutzend Zeugen beibringen, die bestätigten, dass der Mann verschwunden ist. Ebenfalls eine kaum zu bewältigende Hürde; denn wie soll man etwas beweisen, was man nicht gesehen hat.
Addous Film bleibt nah dran an ihren Protagonistinnen, gibt so einen Einblick in deren einfaches Leben, in einem garantiert nichttouristischen, eher ärmlichen Marokko. Und am liebsten würde man sich sofort als Zeuge zur Verfügung stellen. Wir bekommen es ja mit, wie hart diese Frauen für ihr Leben und das ihrer Kinder kämpfen. Eine schafft es immerhin, auf diese Art ein eigenes Haus zu bauen und eine Einweihung zu feiern. Und die Männer? Die arbeiten in Schreibstuben, als Verkäufer von Damenkleidung oder vergnügen sich bei einem traditionellen Reiterfest in ihren teppichbelegten Zelt-Lounges und witzel bequem hingeflezt darüber, wie viele Frauen sie wohl haben dürfen. Die Herren der Schöpfung, die sich offenbar gerne und schnell aus dem Staub machen und dann nie wieder von sich hören lassen.