Journalismus 1961
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht aktuell im Kreuzfeuer der Kritik nicht nur wegen der Zwangsgebühr, die unfair zu Lasten einkommensschwacher Haushalte erhoben wird, er steht auch in der Kritik wegen Qualitätsabfall, wegen zu vieler Wiederholungen, von einigen Seiten wird er gar als Lügenfunk bezeichnet (das wäre wohl anno 1961 kaum vorstellbar gewesen); er steht in der Kritik wegen zu komplizierter und ineffizienter Strukturen, er steht in der Kritik wegen exorbitanter Pensionsverpflichtungen und der Sprecher der ARD Anstalten, der WDR-Mann Tom Buhrow, fällt vor allem durch ein Gehalt höher als das der Bundeskanzlerin auf und dass er es nicht schafft, im Land Gehör und Vertrauen für die Sache des öffentlich-rechtlichen Rundfunks herzustellen.
Jetzt tut der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen Griff tief in sein Archiv und erinnert an eine Zeit, als solche Angriffe und Kritik an ihm nicht vorstellbar gewesen sind.
1961 gab es kein Internet, die Journalisten waren noch echte Berichterstatter von Ereignissen rund um die Welt; einer Welt nicht wie heute, in der jeder an seinem PC oder auf seinem Smartphone oder was auch immer längst die Bilder von Katastrophen oder Demos senden oder empfangen kann, bevor der öffentlich-rechtliche Rundfunk überhaupt darüber berichtet.
Damals waren die Journalisten von Zeitungen, Funk und Fernsehen die einzigen mit größerer Öffentlichkeit. Die Berichterstattung aus Jerusalem über den Prozess gegen den SS-Mann Adolf Eichmann war eine logistische Herausforderung für den deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, denn in Israel selbst gab es noch gar kein Fernsehen zu der Zeit; zum Prozess wurde lediglich eine Art Public Viewing veranstaltet.
Im Gerichtssaal selbst hatte eine amerikanische Fernsehgesellschaft das Monopol auf die Bilder; es war ein Non-Profit-Geschäft. Aufgezeichnet wurde mit einem Magnetverfahren, was nicht kompatibel mit dem deutschen System war, so dass die Bilder für Deutschland erst in London umkopiert werden mussten – mit deutlichen Qualitäts- und Zeitverlusten. Um keine Unruhe im Gerichtssaal aufkommen zu lassen, waren nur wenige Kameras an festen Positionen platziert.
Der deutsche Moderator entschuldigt sich ausdrücklich für die technischen Probleme, auch mit der Begründung des Ehrgeizes, ein Zeitdokument zu erstellen, das nicht nach drei Tagen schon wieder veraltet sei. Das Behelfsstudio im Kings Hotel in Jerusalem sei leider nur mangelhaft gegen Straßengeräusche abgedichtet. Kaum vorstellbar aus heutiger Sicht, wie Studiogäste ungeniert rauchen. Die Moderation erklärt, dass die meisten deutschen Stimmen von Simultandolmetschern stammen. Ob dieses Zeitdokument seither oft angeschaut worden ist?
Faszinierend ist auch, dass Journalisten als Berufskleidung fürs Fernsehen Anzug mit Hemd, Krawatte und sogar Manschettenknöpfen für passend hielten.
Eichmann selbst wohnt dem Prozess in einem kugelsicheren Glaskabäuschen bei in Anzug, weißem Hemd, Krawatte, perfekt wie der Buchhalter vom Dienst. Er sieht sich als einen gewissenhaften Menschen, als einen unbedeutenden Bürokraten. Der Ausrottungsbeschluss war für ihn nur ein Stück Papier, dessen Inhalt es auszuführen galt, er hatte die Leitung für die gesamte jüdische „Auswanderung“.
Hochspannend ist Eichmanns innerer Monolog bei Schilderungen von Zeugen; man sieht diesen pedantischen Buchhalter des Todes förmlich den Vergleich ziehen zwischen seiner Anleitung vom Schreibtisch aus und dem, was laut Schilderungen real passiert sein muss; manchmal scheint man eine Unzufriedenheit zu entdecken, manchmal ein süffisantes Lächeln, gar Strahlen, wenn er das Gefühl hat, dass genau nach seinen Anweisungen gehandelt worden ist, da glaubt man in seinen Augen Zufriedenheit, Stolz, Triumph ablesen zu können. Er ist das perfekte Bild für das Bluthandwerk vom Schreibtisch aus, für die Banalität des Bösen, wie Hannah Arendt es nannte.
Interessant ist auch die Figur des Verteidigers, der seine Sache ernst nimmt, damit ein fairer Prozess daraus wird, ein rechtsstaatlicher im Gegensatz zu den Verfahren der NS-Justiz; er beantragt sogar, Entlastungszeugen aus Deutschland oder Österreich einzuladen und ihnen freies Geleit zu garantieren; was teilweise auch gelingt und einen bemerkenswerten Seitenblick auf den Angeklagten eröffnet, der anfangs Auswanderung noch nicht im Vernichtungssinne verstanden habe; der aber in kurzer Zeit eine brutale Wandlung durchgemacht haben muss vom Menschenretter zum Spediteur des Todes.
Jede Folge berichtet über eine halbe Verhandlungswoche, die Deutschen laden deutsche Journalisten in ihr Studio ein, aber auch israelische Gäste, sie sehen sich in Jerusalem um, sie befragen Korrespondenten aus aller Welt. Und sie haben zwei Sonderkorrespondenten vor Ort. Mit Axel Schildts „Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik“ im Hinterkopf fragt man sich unwillkürlich, wie denn diese deutschen Medienleute selbst die Nazi-Zeit wohl überbrückt haben. Da könnte die ARD nachlegen, allenfalls sogar Aufarbeitung betreiben und wenn sie schon dabei ist, dann wäre auch interessant zu erfahren, wie in der DDR über den Prozess berichtet worden ist.
Der westdeutschen Öffentlichkeit wurde durch die Berichterstattung über den Eichmann-Prozess das Ausmaß und die unmenschliche Grausamkeit der Nazivernichtungsmaschinerie das erste Mal so drastisch vor Augen geführt, speziell mit Augenzeugenberichten, bei denen selbst die Simultandolmetscher emotional gerührt mitgehen.
In unseren dämlichen Corona-Zeiten kommt dieser dreistündige Archiv-Fund wie gerufen. Er wirft einen prägnanten Blick nicht nur auf die Medienvergangenheit, er spricht direkt die brandaktuelle Problematik an, wie die Welt mit Potentaten, Antidemokraten, Diktatoren umgehen soll und die Frage, ob sie etwas dazugelernt hat? Immerhin können inzwischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit allüberall geahndet werden (in Jerusalem musste damals juristisch trickreich nachjustiert werden). Verabscheuungswürdige Gräuel passieren weiter in China, Syrien, Myanmar und und und und gerade deswegen darf diese ganze Tötungsmaschinerie nie vergessen werden. Auch nicht, dass Menschen wie ich und du zu solchen Dingen fähig sind.
Hier wird die Erinnerung von einem historischen Prozess ins Gedächtnis gerufen, der damals weltweit Aufsehen erregt hat; er war ein Weltmedienereignis. Die Erinnerung daran muss dazu dienen, jegliche Art von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus immer wieder laut anzuprangern, nicht darüber hinwegzusehen, bei Handelsbeziehungen mitzuberücksichtigen, auf höchster politischer Ebene offen anzusprechen; da scheint es, hat die neuere deutsche Politik viel zu oft Kreide gefressen, wenn es darum ging, Autos zu verkaufen oder U-Boote oder Kraftwerksturbinen.
Das würde bedeuten, nicht aus der Geschichte gelernt zu haben. Aus der Geschichte gelernt haben heißt doch, sensibilisiert sein für die Missachtung von Menschenrechten, ohne gleich als Weltmoralpolizist aufzutreten. Es ist zwar richtig, das ist eine gute Maxime der deutschen Außenpolitik, im Dialog zu bleiben. Aber es ist genau so wichtig, Verbrecher gegen die Menschenrechte nicht mit militärischen Ehren zu empfangen oder sich von solchen pompös einladen und für Propaganda missbrauchen zu lassen (wie gerade diese Woche die EU-Spitze in Ankara); Arbeitsebene genügt. Im Moment hat Corona zwar die politische Reisetätigkeit etwas in den Hintergrund treten lassen, aber den Spitzen, ob Verbrecher oder nicht, schweben bestimmt jede Menge Nachholbegegnungen vor – und damit ergibt sich Gelegenheit, die entsprechenden Dinge offen anzusprechen.
Ach Stefe, Auf das benötige ich erstmal einen Scotch mit Soda! Ist das dein blutiger Ernst? Vielleicht hast du doch einen etwas verstellten Blick auf manche Bereiche der Filmindustrie …
Vielen Dank Herr Marquard und Gesundheit auf den Scotch! Blutig ist bei mir gar nichts. Des weiteren müsste ich um konkrete Hinweise bitten, was den „verstellten Blick auf die Filmindustrie“ betrifft, abgesehen davon, dass es hier um Fernsehen geht.