Vor mir der Süden

Mediterraneità –

oder: Stiefelumrundung mit zwei Paar Stiefeln. 

Die größeren Stiefel sind die von Pier Paolo Pasolini. Der hatte anno 1959 mit einem Fiat Millecento eine Stiefelumrundung (also: Italienrundfahrt) gemacht ausgehend von Ventimiglia über die Westseite Italiens runter bis Sizilien und dann an der Ostseite wieder hoch bis Triest. 

Pasolini war fasziniert von den Veränderungen des Landes im Zuge des industriellen Nachkriegs-Booms. Zu dieser Reise hat Pasolini auch ein Tagebuch geschrieben. 

Die kleineren, fernsehkonformen Stiefel sind die von Pepe Danquart. Der hat die Pasolini-Reise mit Fernseh- und Filmfördergeld stilgerecht in einem Fiat Millecento mit einem Kamerateam und mit einem Blick für unsere Traumvorstellung von kinoaffiner Mediterranitá und rechtzeitig vor Corona als ‚Reenactment‘ nachvollzogen. 

Von einer schnöden Touristenreise unterscheidet er sich immerhin dadurch, dass er versucht, die Pasolini-Optik aufzusetzen, also eine geistig-intellektuelle Haltung zu zeigen, speziell zu Themen wie Kapitalismus, Ausbeutung, Migration. 

Diese Absicht wird unterstützt durch Voice-Over-Einspieler von Tagebuchtexten. In der deutschen Fassung spricht diese Ulrich Tukur, für mich im Zusammenhang mit Pasolini gewöhnungsbedürftig mangels entsprechender Schnittmenge. 

Fürs Kapitalismus-Bashing hat Genua Danquart eine prima Morgengabe in den Film geliefert. Da ist gerade zwei Wochen bevor er dort drehte, die von privaten Kapitalisten betriebene und schlecht gepflegte Autobahnbrücken mitten in der Stadt zusammengebrochen. 

Fürs leidige Massentourismus-Bashing gibt fast jeder Strand in Italien genügend her an Endlos-Reihen von Liegen, Sonnenschirmen und fettleibigen, unästhetischen Badehosen- und Bikini-Träger*innen. 

Danquart versucht auch filmisch 1959-er Atmosphäre herzustellen mit immer wieder reingeschnittenem Schmalfilmformat ergänzt mit Archivfootage.

Ein weiterer Zugang zu Pasolini zeigt Danquart dadurch auf, dass er das einfache Volk und nicht Experten, Spezialisten, Eliten zu Wort kommen lässt. Teils schildern einfache Menschen von der Straße, aus dem Wohnquartier, von der Arbeit, Bewohner, Arbeiter – die Danquart auch gerne ruhig vor der Kamera stehen lässt – ihr Verhältnis zu Pasolini. Das zeigt, wie tief verwurzelt der Filmemacher in breiten Bevölkerungsschichten in Italien ist. Einer rezitiert sogar frei ein Gedicht von Pasolini. 

Danquart findet auch Menschen, die Pasolini als Buben noch gekannt und mit ihm Fußball gespielt hatten. Solcher Art von Dokumentation haftet immer auch etwas Zufällig-Beliebiges an, speziell wenn auf der Straße aufgegabelte Menschen sich politisch äußern. So bietet sich für so einen Film selbstverständlich Salvini-Bashing an, was überall leicht zu finden ist. 

Je südlicher die Reise geht, desto öfter macht sich das Bootsflüchtlings-Thema bemerkbar. Nach der Kehrtwende am südlichsten Punkt in Porto Polo und wieder auf dem Festland ist ein Halt in Matera unumgänglich. Darum – und auch den Bezug von Pasolini dazu – gab es unlängst eine facettenreiche Fernseh-Dokumentation: Matera – verborgene Heimat.

Die Reise endet nach Zwischenstation im verfallenden Rimini im trüben Triest. 

Das Problem, was die Attraktivität des Filmes meiner Ansicht nach mindert, ist, dass der Dokumentarist sich selbst raushält; er tut quasi objektiv; wobei er es ideologisch überhaupt nicht ist, sondern genau die Themen rauspickt, die für Pasolini wichtig waren, was an sich nicht zu kritisieren ist. Aber der Filmemacher selbst hält sich mit seinem persönlichen Engagement raus, was ein Pasolini just nicht getan hat und was ihn so wirkungsvoll hat werden lassen. So wird aber auch krass deutlich der Unterschied zwischen dem kleinen und den großen Paar Stiefel. 

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