Kammerspiele – Jammerspiele (BR, Dienstag, 19. Januar 2021, 22.50)

Die Kränkungen der Münchner

Diese dreiviertelstündige Doku von Chiara Grabmayr und Juno Meinecke mit dem Zusatztitel: „5 Jahre Münchner Kammerspiele mit Matthias Lilienthal“ bringt nicht die distanzierte Gesamtbetrachtung dieser Intendanz, auch nicht, was gar nicht möglich wäre, einen Ausblick auf die Folgen. 

Die Dokumentation bringt Einblicke in Produktionen der letzten Lilienthal-Saison und lässt die Münchner, die auf ihn so gekränkt reagiert haben, dass sie ihm eine Vertragsverlängerung verweigerten, nicht besonders gut aussehen.

Es war natürlich nicht Tout Munich gekränkt, es waren vermutlich eher Politiker, die sich aus ihrer kulturellen Komfortzone herausgerissen fühlten, die die Notbremse gezogen haben, nachdem einige Schauspieler publikumswirksam gekündigt hatten. Wobei die Münchner ja wussten, auf was sie sich mit Lilienthal eingelassen haben; der war kein unbeschriebenes Blatt. 

Lilienthal wollte Internationalisierung einerseits und Eintrag der Freien Szene andererseits in seinen melting Pot einbringen; er konterkarierte das künstlerische Hierarchie- und Prestige-Denken. Das stieß in München anfänglich auf heftige Ablehnung. An sich ist das nichts Neues, dass neue Impulse altes Publikum verschrecken und die Erfahrung zeigt, dass die anfängliche Ablehnung bald in heiße Liebe sich verwandeln kann, so wie auch hier. Aber da war es schon zu spät. 

Vielleicht war der Einstieg (das ist in der Doku nur kurz erwähnt) auf dem falschen Fuß erfolgt. Lilienthal hatte eine Aktion, die er früher schon in Mannheim gemacht hat, als Visitenkarte gewählt: an den luxuriöstesten Plätzen hatten Künstler Notunterkünfte hingestellt, in denen der Zuschauer gegen Entgelt eine Nacht verbringen konnte. Dummerweise kamen just zu der Zeit die ersten Züge mit Flüchtlingen (2015) im Hauptbahnhof München an, Lilienthal konnte nicht mehr reagieren und die Musik spielte am Hauptbahnhof. 

Grabmayer und Meinecke berichten erst von dem gigantischen Projekt im Olympiastadion, das fantastische Diskrepanzen zwischen Kunst und Massensport, Größe und Intimität, Kleinheit und Gigantismus in Dialog bringt, ein Projekt von einem japanischen Regisseur, das neugierig macht. 

Das schaffen die Dokumentaristen mit ihren Adabei-Berichten auch bei den anderen Stücken. Sie bringen Impressionen aus der Entwicklung und von Vorstellungen von „Die Räuberinnen“, es folgt eine akkurate Re-Inszenierung von „Mittelreich“, statt mit weißen mit schwarzhäutigen Darstellern. Als besonderer Gag wird ein Blick auf die Inszenierung von „Kränkung der Menschheit“ geworfen, indem eine Darstellerin sich als SZ-Kritiker, als Lilienthal, als Jurypräsident verkleidet und Statements der Originale vorträgt. 

Es scheint, dass Lilienthal erfolgreich Verkrustungen aufgebrochen hat, die Scholle umgeackert und nur ein paar Körnchen der Ernte einfahren konnte. Jetzt sind neue Leute am Werk. Die haben es nicht mehr mit gekränkten Münchnern zu tun, die sind von Corona herausgefordert. Vielleicht wird uns eine weitere Doku in einigen Jahren darüber aufklären, was schlimmer ist. 

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