Die kurzen Beine des schnellen Humanismus.
Unser Mitleid und unsere Hilfsbereitschaft sind schnell, ja großspurig, wenn wir menschlichem Elend und Unglück begegnen und noch schneller und großzügiger sind sie bei Gisella (Elma Lisa Gunnarsdóttir).
Gisella ist Lokaljournalisten in Island, lebt allein, ihr Lover Andrés (Sveinn Ólafur Gunnarsson) hat sich immer noch nicht scheiden lassen und sie hat ihm ihr ganzes Geld zum Investieren in eine sichere Anlage überlassen.
Giesella lebt allein in ihrem großzügig, fast wie ein Museum für bürgerlich-isländische Wohnkultur eingerichteten Haus in einer frappanten Ästhetik der Ordentlichkeit. Und sie hat Schulden. In dieser Situation schmeißt sie auch noch ihren Journalistinnenjob hin, weil sie des Textverdrehens durch den Redakteur überdrüssig ist. Gleichzeitig beobachtet sie täglich einen Flaschensammler, der die leeren Flaschen, die sie in einem Plastikbeutel neben dem Gartentor deponiert, abholt.
Der Herausgeber oder Redakteur eines Konkurrenzblattes macht ihr den Vorschlag, einen Text über Migranten – es gibt auch viele Illegale in Island – zu schreiben. Sie fängt die Recherche damit an, dass sie ihrem Flaschensammler folgt. In dessen schäbiger, ausbeuterischer Unterkunft lernt sie Abeba (Enid Mbabazi) mit Tochter Luna (Claire Harpa Kristinsdóttir) und Maria (Raffaella Brizuela Sigurdardóttir) kennen. Ihr schneller Humanismusimpuls ist der: diese armen Geschöpfe dürfen so nicht hausen. Sie stellt den zwei Frauen mit dem Mädchen Hals über Kopf ihr Haus als gleichberechtigten Mitbewohnerinnen zur Verfügung.
In bedächtigen Schritten entwickelt Drehbuchautorin und Regisseurin Ásthildur Kjartansdóttir – nach dem Roman von Audur Jónsdóttir – die Rückentwicklung des vorgeblichen Humanismus und der vorgeblich grenzenlosen Toleranz zurück zu einem recht spießigen Zusammenleben nach Regeln im Sinne der Hausbesitzerin und Logisgeberin; ein schmerzlich enthüllender Prozess, der gleichzeitig auf die prinzipiellen Schwierigkeiten von Integration unterschiedlichster Lebensentwürfe, Lebenserfahrungen und -hintergründe und Lebenserwartungen hinweist und der daran erinnert, wie euphorisch 2015 die Flüchtlinge in Deutschland empfangen wurden und wie diese Euphorie einer deutlichen Ernüchterung bei gleichzeitig überhitzter Emotionalität der unschönsten Form gewichen ist.