The Wild Pear Tree

Nach Wasser graben,

da, wo keines zu finden ist oder die Frage nach der Sinnhaftigkeit menschlichen Tuns, da der Mensch doch Geist hat, eine Bildung, Sprache, Literatur. 

Als Sinnbild für diese menschlichen Errungenschaften stehen die beiden Hauptfiguren, sie sind Lehrer oder werden es. Sinan (Dogu Demirkol) ist gerade dabei, sein Studium in der 90 Minuten von Can entfernten, größeren Stadt Canakkale zu beenden. 

Sein Vater Idris (Murat Cemcir) ist Volksschullehrer in Can und der Opa von Sinan ist Imam. Also auch die Religion steht vorerst vorurteilslos für diese positiven Errungenschaften der Menschheit. 

Aber wie steht es in der heutigen Türkei um diese Dinge? Das ist die Frage, die sich Nuri Bilge Ceylan (Winterschlaf, Once upon a Time in Anatolia) in diesem, seinem neuen Film, Meisterwerk, stellt. Wieder ist er in der heutigen Türkei unterwegs, am Marmarameer und in dessen Hinterland. 

Der Ort, in dem die Hauptfiguren wohnen, ist eine mittlere Stadt mit Industrie. Sie wirkt in manchen Aufnahmen, wenn etwas trübere Stimmung ist, wie ein englischer Industrieort, diese Gesichtslosigkeit, diese anonym Postmoderne von Bauten und Industrie – und gibt mit diesen Bildern einen Querverweis auf die genauen sozialen Studien eines Ken Loach. 

Von Can aus fährt Sinan mit dem Bus nach Canakkale, wo er sein Studium abschließt. Er hat literarische Ambitionen, hier kommt der Titel des Filmes zum Tragen, sein Erstling heißt „The Wild Pear Tree“, ein Buch das er nach erfolgloser Suche selbst verlegt; auch das ist wie Graben nach Wasser auf einem Hügel. 

Den Brunnen für das Wasser will der Vater von Sinan auf dem Grundstück von dessen Vater graben; die Nachbarn raten davon ab. Zu Recht. 

Den literarischen Strang benutzt Ceylan nicht nur, um ein Porträt des Künstlers als eines jungen Mannes zu zeichnen, sondern auch um köstliche Seitenblicke auf lokales und regionales literarisches Treiben und Getue zu werfen, zum Beispiel das Thema der Autorenbiographien zu Präsentationszwecken, worüber sich Sinan wundert. Die gewichtige lokale Literaturgröße Suleyman (Serkan Keskin) gibt Bücher heraus mit dem Titel „Die Kinder von Ida“ (dabei dürfte es sich um eine Geschichte handeln, die in einem Satz zusammenzufassen ist); eine mehr als kuriose Begegnung für einen hoffnugsvollen Nachwuchsliteraten; die lokale Literaturgröße hat wenig Verständnis für Literatur, die eine Metaebene sucht, die Tieferes erzählen will.

Der Titel des Buches ist inspiriert von einer Schulstunde bei Sinans Vater, in welchem dieser auf die Wildheit dieser seltenen Birnen aufmerksam macht. Das ist ein Punch gegen das heutige Bildungssystem unter Erdogan: damals musste sich ein Lehrer noch nicht so philiströs an den Lehrplan halten, konnte auch ein abwegiges Thema wie das des wilden Birnbaumes behandeln, der sich nicht leicht kategorisieren lässt, sich nicht leicht etwas vorschreiben lässt. 

Aber wie ist der Befund über die Erdogan-Türkei? Verheerend. Es kommen die Nachfolger des Imam-Opas vor. Die verstehen unter Religion nicht nur, Äpfel auf fremden Bäumen zu ernten, sondern vor allem den Ritus als ein Geschäft, wo immer eine religiöse Handlung gefragt ist, sind sie da mit offenen Händen für Goldstücke. 

Das Fernsehen? Das sendet Serien, die Mutter und Schwester von Sinan schauen; oder eine eben ausgebildete Lehrerin mit Kopftuch schwärmt davon, dass sie jetzt im Osten der Türkei unterrichten dürfe. 

Das Militär? Da gibt ein Telefongespräch mit einem Kumpel von Sinan erhellenden Einblick. Der Kumpel ist lieber dem Militär beigetreten, statt den Schuldienst anzutreten; er ist in einer speziellen Eingreiftruppe der Polizei und schildert deren Spaß an gesetzeswidrigen Aktionen, wenn es keiner sieht; ein Horror für jeden Demokratiefreund; aber der Soldat macht sich ein Vergnügen daraus. 

Auch Sinan wird nach dem Ende des Studiums den Militärdienst ableisten. Dafür reicht die Charakterisierung, dass währenddessen Winter ist mit frieren machenden Winterbildern, ganz kurz, ganz knapp. 

Und wie steht es überhaupt um den Lehrerstand, der doch das Humanitäre, die Bildung, die Werte des Menschen an die künftige Generation weitergeben soll? Dafür steht der Vater von Sinan: der ist hochverschuldet, verjubelt all sein Geld bei Pferdewetten oder er behält ein von einem Schüler konfisziertes Feuerzeug für sich; hat den anfänglichen pädagogischen Idealismus längst begraben. Er wird vorzeitig in Rente gehen, um Schafe zu züchten. 

Bleiben noch die Frauen. Hatice (Hazar Ergüclü) war ein Schulschwarm von Sinan. Aber sie verliebte sich in einen Freund von ihm. Wie ein Geldiger, ein Juwelier auftaucht, da ist schnell klar, wen sie heiratet; schon gar nicht Sinan, der versucht hat, sie mit Literatur zu begeistern. So viel zu einer Moral, die längst nicht nur in der Türkei Gültigkeit hat. 

Nicht zu vergessen die Demokratie: wie agil die ist, davon legt ein Gespräch mit dem Bürgermeister von Can beredtes Zeugnis ab; das ist der mit der „offenen Tür“ – aber wohl nicht mit dem offenen Geist; Sinan sucht finanzielle Unterstützung für sein Buchprojekt, wie hoch Literatur da zählt, Literatur als solche, die nicht direkt für den Tourismus einsetzbar ist, die sich mit tieferen Fragen der Menschheit beschäftigt oder mit intimen Bekenntnissen, die noch dazu ideologiefrei ist; die nach dem Geheimnis von Liebe und Leben sucht; solche Literatur taugt gar nicht, politisch gesehen, die nicht mal das best erhaltene Schlachtfeld, eine Attraktion des Ortes, erwähnt und würdigt. 

Mit Dogu Demirkol hat Nuri Bilge Ceylan einen großartig vierschrötigen Landschaftstypen gecastet, dem man aber das Geistige, das Literarische abnimmt und mit Murat Cemcir als dessen Vater hat er einen exzellenten Gegenpol von Typen gefunden, der viel Leben hinter sich hat, der diesem nicht mehr viel abgewinnen kann, auch er hatte mal höhere (kulturelle) Ambitionen und weint schließlich nur noch um den Hund, ein Symbol modernen Nihilismus mit einer schräg-verschlagenen Lache. 

Als satirisches Symbol steht auf dem Hauptplatz von Canakkale eine Riesenstatue des trojanischen Pferdes; dieses schleicht sich in Sinans Alpträume.

Um den nicht gerade erbaulichen Türkei-Befund verdaulich zu machen, setzt Ceylan nicht nur einen erstklassigen Cast, eine überwältigend kinogenuine Kamera ein, ab und an bettet er Übergänge auf klassische Musikmotive von Bach. 

Education is great – but this is Turkey“. 

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