La Condition Humaine
Was macht den Menschen aus? Aufzuwachsen, sich zu lösen von zuhause, die Liebe kennenzulernen, sie zu finden, sich zu ernähren, sich auszutauschen, zu reden, Bewusstsein zu schaffen über sich und die anderen, zu diskutieren, Streit zu bekommen, sich zu versöhnen, ein Mensch zu sein, keinen nur für einen Trottel zu halten, zu bereuen, zu trinken, Träume zu haben. All dies und vieles mehr packt Emin Alper in sein neues Meisterwerk nach Abluka, der beim Filmfest München noch Frenzy geheißen hat.
Dieses Menschsein kann auch ganz ohne Mobiltelephon, ohne Internet, ohne Apps, ohne TV und Radio stattfinden. Das kann pur wie bei Tschechow passieren, die Menschen setzen sich ihrer Gegenwart aus und diskutieren, sie kommen mit guten Vorsätzen und gehen im Streit auseinander; sie mögen sich oder nicht, sie umkreisen sich, sie sind einander ausgeliefert.
Die Erörterung dieser menschlichen Grundsituation verlegt Alper diesmal nach Zentralanatolien in ein Dorf auf einer Hochebene mit Steinhäusern. Eine ungeteerte Straße führt hinauf.
Alper konzentriert sich auf die Personen, die in die Auseinandersetzung eingebunden sind, er verzichtet auf dekorative Komparserie. Wenige Glühbirnen dienen der nächtlichen Beleuchtung, gekocht und geheizt wird mit Holz. Selten finden Autos den Weg in das Dorf.
Veysl (Kayhan Acikgöz) ist der Hirte. Er gilt als außenseiterisch, beschränkt. Er ist mit der ältesten der drei Schwestern zusammen, mit Reyhan (Cemre Ebuzziya). Auch sie wurde nach dem Tod der Mutter zu Ersatzeltern in die Stadt gebracht. Sie wird ihrer kleinere Schwester Nurhan (Ece Yükset) erzählen, dass der honorige Arzt Dr. Necati (Kubilay Tuncer) sie zur Frau gemacht habe. Von dort hat sie ein Kind mitgebracht. Über dessen Herkunft zirkulieren Geschichten von einem Apothekerlehrling.
Wegen eines Todesfalls sind alle Schwestern zurück ins Dorf gekommen, aber auch Havva (Helin Kandemir) sehnt sich nach der Stadt.
Reden, zusammensitzen, sich beraten, das gehört zur menschlichen Grundsituation. Die Männer können das bei nächtlichem Lagerfeuer tun. Mit Alkohol, der seine nicht nur freundliche Wirkung zeigt.
Zur menschlichen Grundkonstellation gehört auch das Beobachten, das Teilnehmen am Leben der anderen, der Töchter des Dorfes und von deren Kindern. Da kann nicht jeder/jede machen, was er, was sie will.
Auch dass der Hirte Veysel lieber in der Stadt bei einer Tankstelle arbeiten möchte, um Geld zu verdienen, statt Schafe und Ziegen zu hüten, was nächtens zu unangenehmen Begegnungen führen kann, muss thematisiert werden.
Bei der Herstellung von Ayran kann die erfahrenere ihrer noch unaufgeklärten Schwester Details über die Liebe preisgeben und dass das Teil vom Mann, auch wenn es noch so groß aussehe, kein Knochen sei und wie das mit dem Schmerz sich verhalte.
Wo Menschen sind und miteinander auskommen müssen und sich genau beäugen, ist das Drama nicht fern, denn nicht alle Menschen ticken gleich und Menschen machen Fehler und das muss wiederum besprochen werden, wobei an zentraler Stelle eine ungwöhnliche Versöhnlichkeit mit unerfreulicher Folge vorkommt in diesem berauschend epischen Kino, zu dem auch eine Purzelbaumfrau gehört.