Fantasien eines alten Sackes und Kinomeisters.
Es erhöht den Reiz dieses Filmes von Abel Ferrara, der mit Christ Zois auch das Drehbuch geschrieben hat, vorher Tommaso und der Tanz der Geister gesehen zu haben.
In „Tommaso“ liefert er den Zugang durch die Hintertür zum Schreiben des Drehbuches von Siberia. Es ist das Porträt des Künstlers als eines alten Mannes, der in Rom in komfortabler Wohnung ein spießiges Leben lebt. Er ist mit einer jungen Fau verheiratet, gibt Yoga-Kurse, nimmt Italienisch-Unterricht und frequentiert regelmäßig die Anonymen Alkoholiker. Sonst kümmert er sich um das kleine Mädchen, das er mit der jungen Frau hat, regt sich auf über grölende Penner oder will nicht, dass die Frau mit dem Kind U-Bahn fährt aus Angst, es könnte ihnen etwas zustoßen. Er hat ständig Visionen von sich als verkanntem, charismatischen, Heilsbringer-Künstler, Märtyrer-Künstler und geilem Bock dazu.
Künstlerisch versucht Defoe in „Tommaso“ sich an einem Drehbuch. Es ist genau das, was Abel Ferrara hier verfilmt. Es sind seine künstlerischen Altherren-Fantasien, die eng mit Kindheits- und Vatererlebnissen verbunden sind.
Im ersten Film spielt Willem Defoe den Filmmenschen, den Drehbuchautor. Die Frau von Abel Ferrara dessen Frau und des Regisseurs gemeinsames Kind mit der jungen Frau das Kind von Defoe und des Regisseurs Frau. Der Regisseur lässt den vier Jahre jüngeren Schauspieler an seine Frau ran. Das ändert sich nicht in diesem neuen Film.
Hier spielt Ferraras Tochter den Sohn von Clint, wie die Projektionsfläche Defoe für Ferrara heißt. Dieser hat sich in eine einsame Gegend zurückgezogen, füllt die Indigenen, die Eskimos, mit Alkohol ab, kann von einer Russin (Cristina Chiriac, die Frau von Ferrara) nicht lassen.
Ferrara lässt indigen sprechen, Clint versteht nichts. Dann macht er sich auf mit einem Huskygespann in die verschneiten Berge. Es sind archetypische oder prototypische Männerfantasien, unausgegoren wie am ersten Tag, die Ferrara kunstvoll zu einem Film verwebt, bei dem man einfach zuschauen muss, er entführt einen in die Innereien, in die inneren Schweinereien von Altherrenfantasien, Frau, Mann, Sex, Blut, Fleisch, Schönheit, Hässlichkeit, Höhle, Feuer, frischer Fisch, der ausgenommen wird.
Mit kühnen Drohnenfahrten gibt Ferrara der Montage zusätzlichen Schmiss. Und der Mann „an sich“ steht da als arme Kreatur, die nicht zurecht kommt mit seiner Männlichkeit, mit seinem Sex oder damit, dass er Sohn eines nicht allzu verständigen Vaters war, die Leidfantasien, die Gewaltfantsien, Kriegsfantasien, die Opferfantasien, was in so einem Kopf vor sich geht, auch die Identitätsfrage wird gestellt, die Vernunftfrage ebenso; erstaunlich für so alte Herren, dass sie immer noch vom Trapperleben oder vom Cowboytum träumen; letzteres zeigt sich beim Spielen mit kleinen Figürchen an einem Tisch.
In einem Interview der beiden befreundeten, in Rom wohnenden Amerikaner meinten sie, sie hätten Lust mal einen Western zu drehen.
Was ist das für ein Männerbild, wie einsam müssen die Cowboyträumer sein; sind es vielleicht doch vor allem egomanische, egozentrische Typen? Der Film ist auch als ein Paradox zu sehen zum Tommaso-Film, dem brav-bürgerlichen Leben des Künstlers und hier das, was sich in seinem römischen caput tut.
Alternativ zur Schneelandschaft lässt Ferrara Clint auch in der Wüste, Sanddünen mit Beduinen und auch in romantischer Waldlandschaft umherziehen. Das sind doch mehr Bubenträume als die eines verantwortungsvollen Bürgers im Sinne des Citizens (lat. civis), der in der Großstadt wohnt. Siberia für männliche Gefühlskälte? Oder das, was Jack London mit dem Ruf der Wildnis meint?