Plötzlich Heimweh

Zweite Heimat

würde Edgar Reitz das wohl bezeichnen, was sich die chinesische Dokumentaristin Hao Yu im Appenzellerland in der Schweiz geschaffen hat und was sie hier mit diesem Film autobiographisch dokumentiert in einem Prozess, der über zehn Jahre dauerte. 

Im Anspann erzählt sie kurz in der Art eines chinesischen Schattentheaters, scherenschnittartig, ihren Lebensweg vom Mädchen, das auf dem Land geboren wurde, früher als die anderen zur Schule ging, immer einen Kopf kleiner war als alle anderen, der Weg in die Stadt gegangen ist, die Arbeit bei verschiedenen Fernsehstationen in Peking. 

Über diese Arbeit ist sie in die Schweiz gekommen mit einem Fernsehteam, als eine rastlos Reisende. Sie versteht erst kein Wort. Aber sie hat auf einer Appenzeller Alp beim Besuch des Alphirten Johann Hautle, der in der Freizeit naive Bauernmalerei malt und der wie vor 100 Jahren lebt, ein Erlebnis, das man vielleicht als mystisch bezeichnen könnte, das sie nicht loslässt, das sie, wie sie in China zurück ist, wieder in die Schweiz zieht. 

Sie verliebt sich in Ernst. Kehrt wieder zurück, erst für einige Monate, daraus werden Jahre, sie lernt Deutsch. Und immer wieder ist sie mit ihrer Kamera unterwegs im Appenzellerland. 

Es wirkt, als habe sie den Blick aus den Bildern der Bauernmalerei verinnerlicht und sehe dieses hügelige Gebiet so. Ihr Auge ist unbefangen und dokumentiert das malerische Brauchtum von Alpaufzügen, Zauren, Sylvesterchlausen, Fronleichnamsprozessionen, Landsgemeinden und die Gegend auf ganz eigene eindrückliche Art. 

Was sie am Appenzeller Bauerntum fasziniert, das ist die eineindeutig gelöste Identitätsfrage. Schon für den 13-jährigen Buben gibt es, seit er denken kann, keine andere Existenz für sich, als wie schon sein Vater und Großvater und Urgroßvater sein Land und seine Kühe zu bewirten, im Sommer für vier Monate auf die Alp zu ziehen und das später hoffentlich mit den eigenen Kindern. 

Es spricht aus einem solchen Bauern beim Interview (das leider nicht untertitelt ist im Gegensatz zu den chinesischen Texten, während die Dokumentaristin ein verständliches Hochdeutsch spricht) fast eine religiöse Andacht, wenn er befragt wird, was für ihn die Alpauffahrt bedeute; es gebe nichts Größeres. Das fasziniert Hao Yu, dieser nicht zu hinterfragende Heimatbegriff; wobei sie sich als Zuschauerin sieht; andererseits fühlt sie sich inzwischen in Peking wie eine Touristin; sie hat Kontakt zu Familienmitgliedern und Freundinnen von früher. 

Solche interkulturellen Brückenbauerfilme über 8000 Kilometer und einen Kontinent hinweg sind heut wichtiger denn je, gerade wie in Peking immer autokratischer und diktatorischer regiert, der Demokratiebegriff in China zertrümmert wird mit brutaler Unterdrückung von Minderheiten, zB der Uiguren. So eine Appenzeller Bauernkultur, die keine Zentralmacht braucht, wäre Peking wohl auch ein massiver Dorn im Auge. 

Eine Pointe: beim Besuch von Chinesen auf der Alp, meint einer der Touristen zur Ziege: „Du bist ein guter Funktionär“. Und so ein Bieber von Frau Preisig, der sieht besonders verführerisch aus.

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