Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft

Sozialisierung in aller japanischen Härte.

Die ersten Minuten dieser meisterlichen Animation von Mamoru Hosoda (Der Junge und das Biest) schildern das runde, zufriedene Leben des vierjährigen Buben Kun.

Kun wohnt in einem Einfamilienhaus moderner Architektur in einem Wohnviertel von Yokohama. Ein Drohne hat die Stadt im Fokus und nähert sich dem Anwesen. Der Bub wird gehütet von seiner eleganten Oma. Er spielt, die Oma soll die Unordnung aufräumen. Ein Hund ist auch vorhanden. Das Leben in dieser Großstadtidylle ist beinah langweilig zu nennen, ruhig und gewöhnlich.

Das wird nicht lange so weitergehen. Schon stehen Mama und Papa vor der Tür. Schwesterchen Mirai wurde geboren. Damit fängt die Dramatik im Film, speziell im Leben von Kun, an. Etwas gerät in Unordnung.

Kun ist jetzt nicht mehr der Prinz, ist nicht mehr das Ein und Alles. Er muss die Härten des Abgebens, Verzichtens und Teilens lernen. Er macht das durch, was viele Erstgeborene als extistenziellen Bruch erfahren, was aber auch den Weg zu einer breiteren Sozialisation ebnet.

Der Film schildert diesen alles andere als komfortablen Prozess aus der Sicht des Jungen. Insofern ist er kein Erziehungsfilm, sondern er fühlt und denkt sich hinein in die Lage eines Menschen, der durch sein verändertes Verhalten für die Umwelt plötzlich schwierig und unerträglich wird.

Kun mag die kleine Schwester nicht, er trotzt, er mag die Mutter nicht. Er schreit, er verweigert sich. Hosoda schildert das mit aller japanischen Härte. Diese macht er aber erträglich durch Extrapolationen in Traum- und Fantasiewelten, in Zeitreisen, die die Koordinaten der Entwicklung abstecken, in kompensatorischen Wutfantasien (die Mutter eine Hexe wie im Bilderbuch), in die Kun sich flüchtet, die zentral mit der Verarbeitung des Geschwisterschocks zu tun haben. Ergänzt werden diese Elemente durch einen Blick in die Familiengeschichte, in die am Rande die japanische Geschichte mit einfließt. Kun trifft auch auf eine Leidensgenossin, ein Mädel mit dem gleichen Schicksal.

Kun begegnet seiner kleinere Schwester als größeren, oder er begegnet sich selbst als großem Prinzen, als Abenteurer, Reiter oder Motorradfahrer, oder auch sich selbst als Halbwüchsigem mit seiner ebenfalls halbwüchsigen Schwester, er hat Horrorfantasien des Ausbüchsens, der Erfahrung der Fremdheit im Shinkansen (wenn die Sessel sich drehen, sitzen lauter Gerippe darin). Und der vom Haushalt überforderte Vater (Mutter arbeitet nach kurzer Geburtspause wieder), bemüht sich, Kun das Fahrradfahren beizubringen.

Mit all diesen vielfältigen filmisch und erzählerisch ergiebigen und gerne auch turbulent ausgeschlachteten Mitteln führt Hosoda die Geschichte dahin, dass die Familie nach den ersten Härten mit dem neuen Geschwisterchen sich richtig auf den Familienurlaub freuen kann.

Die deutsche Synchro ist passabel, könnte einen Tick persönlicher sein.

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