Ray & Liz

Und immer wieder die Fliegen, diese Fliegen. Fliegen in einer Wohnung zeigen an, dass es hier Nahrung gibt für sie. Das heißt, dass hier zum einen Fliegen offenbar nicht getötet werden, also Respekt vor jeglichem Leben, vor der Kreatur, heißt aber auch gleichzeitig, dass nicht ständig sauber gemacht und mit scharfen Putzmitteln die Flächen gewischt werden.

Immer wieder kommen sie vor, die Fliegen, in diesem Erinnerungsfilm von Richard Billingham. Wobei es aus erzählökonomischen Gründen vollkommen reicht, jeweils einer Fliege, die groß im Bild ist, zuzuschauen; ein Film, der seine Substanz aus solch faszinierenden Details bezieht.

Das Bild ist im quadratischen Format gehalten, erinnert an die Hingabe von Super-8-Filmern und eine Fliege wirkt hier gar nicht verloren. Oder nicht weniger verloren, als die Menschen, die mit den Fliegen ihren Lebensraum teilen, eine einfache Wohnung in einem Sozialwohnhochhaus, es sind Menschen und Befindlichkeiten aus der eigenen Kindheit des Regisseurs und Drehbuchautors in den englischen Midlands, keiner besonders exotischen Gegend.

Vater hat seine Abfindung für den Jobverlust in Alkohol investiert, den er im Keller hortet (erst wohnt die Familie noch in einem einfachen Häuschen). Die korpulente Mutter verzettelt sich in Puzzles, Tierliebe kommt dazu, ein Hamster, ein Wellensittich, ein Hund. Die Tiere sollen wohl den Kreaturzustand spiegeln, in dem sich die Eltern, Ray (Patrick Romer) und Liz (Ella Smith), sehen.

Im späteren Zustand der Verwahrlosung führen die Eltern ein Kaninchen in einem Kinderwagen in einem Park spazieren, ihren jüngsten Sohn haben sie da schon aus den Augen verloren, der übernachtet auswärts, wird durchkühlt gefunden, soll in ein Kinderheim. Er ist den Eltern mit dem Kinderwagen im Park begegnet. Die kurze Unterhaltung lässt nicht darauf schließen, dass es sich um eine Familie handelt, sie wirkt wie die zwischen fernen Bekannten. In ihren leeren Tagen in der Hochhauswohnung ist den Eltern der Blick und das Bewusstsein für die Erziehung des Buben abhanden gekommen.

Der Film von Richard Billingham bezieht seine berührende und fesselnde Intensität aus der minutiösen Rekonstruktion der Erinnerung an seine Kindheit. Es sind filmische Miniaturen, die nahen Blicke, die die Details in den engen, vollgestopften Räumen groß machen und so mit jeder Einstellung etwas über das Leben dieser Menschen berichten, wie Ray in seinen alten Tagen das dunkle Selbstgebraute in eine Glas schenkt und es zum Mund führt.

Kinderstreiche, ziemlich heftige, werden auch erinnernd erzählt, was der Untermieter dem wabbligen Onkel für einen Streich spielt und was der Alkohol mit diesem anstellt, da fehlen zum Horror- oder Trashmovie nur wenige Bilder.

Die Kamera entdeckt die Ausstattung als Kunstwerk von eigener Gemäldehaftigkeit, als ein Storyteller erster Güte, die Tapeten, das Bettzeugs, die Bilder an den Wänden (von Naturidylle bis zu Leoparden), die flirrende Beziehung zwischen dem Blumenmuster der Bluse von Liz und den bunten Puzzleteilen vor ihr, der ganz kleine Bruder, wie er auf Klötzchen rumhämmert und nervt.

Der Film wechselt in den Episoden dieses Familienlebens, das kein Familienleben ist, hin und her, geht vor bis zu dem Zeitpunkt, an dem Ray allein in der Hochhauswohnung lebt, Liz hat ihn verlassen, aber der gutmütige Sid (Richard Ashton) versorgt Ray, der sich praktisch nicht mehr aus dem Bett hinausbewegt mit der nötigen Flüssigkeit in Form eines selbstgebrauten dunklen Bieres. Sid sieht aus wie Jesus und holt auch die Stütze für Ray, besorgt die notwendigen Zahlungen.

Die hohe Authentizität verdankt der Film auch einer exzellenten Auswahl von Schauspielern und der präzisen Arbeit des Regisseurs mit ihnen nebst der ureigenen Geschichte, die die Ausstattung über diese Menschen erzählt. Verblüffende Stimmigkeit in der Relation von Story und Bild.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert