Unheimlich perfekte Freunde

Die Sache mit dem Alter Ego

wird hier von den Drehbuchautorinnen Simone Höft und Nora Lämmermann sozusagen etwas eigenwillig behandelt.

Während das Alter Ego in der Psychologie den Schatten, das Dunkle, das Verdrängte einer Person bezeichnet, das hat kürzlich Jordan Peele mit Wir recht monströs erkundet, geht es in diesem von Marcus H. Rosenmüller kinobegeistert inszenierten Film eher um eine Ergänzung des Ich, um Defizitkompensation.

Fridolin (Luis Vorbach) ist nicht gut in der Schule. Seine Mutter (die immer verbindliche Marie Leuenberger) möchte, dass er es aufs Gymnasium schafft. Seine Begabungen sind nicht darnach.

Auf dem Rummel, im magischen Labyrinth Calpyso, begegnet Fridolin seinem Ebenbild. Das tritt aus dem Spiegel heraus. Spiegel-Fridolin ergänzt die fehlende Schulintelligenz von Fridolin, ist somit ein Ergänzungsego. Beide existieren physisch nebeneinander und das soll nicht entdeckt werden.

Der Gscheite geht zur Schule und vom Moment an weiß Fridolin alles, schreibt nur Bestnoten. Sein vergeistigter Freund Emil (Jona Gaensslen) kommt hinter das Geheimnis und möchte auch ein Doppel. Hier funktioniert es eher mit dem Alter-Ego-Prinzip. Er, der von der strengen Mutter (Maja Beckmann) nur Emil-Leopold gerufen wird, agiert plötzlich renitent, schnoddrig, wendet physische Gewalt an, eine eklatante Wandlung.

Der Verdoppelungsmechanismus wird auch hier entdeckt, zieht Kreise, bis die ganze Klasse nur noch im Chor und wie aus der Pistole geschossen die Antworten auf die Fragen der verdutzten Lehrerin (Margarita Broich) hersagt.

Da hat sich das Spiegelprinzip verselbständigt und irgendwie die Orientierung verloren, so dass die Rückverfrachtung der Doubles in den Spiegelschrank eine Berserkerei wird, schönes Bild für einen nicht ganz garen, dramaturgischen Einfall (die erfundenen Figuren werden die Autorinnen kaum mehr los, müssen zum schreiberischen Wallholz greifen).

Rosenmüller lässt sich von derlei nicht irritieren. Er arbeitet schönstens und enthusiastisch, speziell mit den beiden Jungs und lässt sie in je zwei verblüffend differenzierten Varianten aufspielen. Allerdings überschreitet er gelegentlich die Grenze zur Klamotte, wenn es zur Tortenschlacht mit Schülern und Eltern kommt. So wäre es denn schwierig, aus dem geheimnisvollen Spiegelschrank ein präzises Ebenbild für diesen Film herauszuzaubern, auch dort wäre wohl von diesem und jenem und von allem etwas, aber nicht alles da. Wobei schon die Charakterisierung dieser Spiegel-Freunde im Titel des Filmes als „unheimlich perfekt“ sprachkulturell wenig oder nur sperrigen Aufschluss bietet.

Im Land meiner Kinder

Auch die Kanadagans ruft Unmut hervor,
aber Künstler sind universell.

Dario Aguirre ist Künstler, Performer, Pantomime, Sänger, Filmemacher. Er sieht die Welt als Künstler. Genau so benutzt er sich und seine Umgebung für die Kunst. Er ist der Autoporträtist dieses Filmes.

Statt dass Aguirre sich auf ein typisch deutsches Themenkino, Thema Immigration, einlässt, nimmt er auch diesen Vorgang her, um ihn in seinen Film zu integrieren, den Vorgang seiner eigenen Einbürgerung.

Aber der ist nur ein Faden für seine künstlerische Selbst- und Weltbetrachtung. Die fing früh an in seiner Heimat Ecuador. Er ist auch ein Künstler, der sich selbst in Frage stellt, der fragend in die Super-8-Kamera guckt, sich wundert über sich und die Welt.

Über eine deutsche Austauschstudentin, Stephanie, kommt er nach Hamburg, lässt seine Eltern und Vaters Grillrestaurant zurück. Er scheint hier schnell als Künstler weitergemacht zu haben.

Für sein Verhalten zum Leben, zur Liebe, für sein Künstlersein gibt es eine bemerkenswerte Aussage seines deutschen Schwiegervaters. Ihm hat eine Badewannenperformance von Dario zu denken gegeben. Denn dabei hat hinter einer von hinten beleuchteten Leinwand seine Freundin am Schreibtisch gearbeitet. Dario hat diese Schattenfigur als Malskizze benutzt. Ausbeutung, Selbstausbeutung, Ausbeutung der Umgebung des Künstlers.

Es gibt einzelne dokumentarische Szenen aus dem Einbürgerungsverfahren, die Fragen, die da gestellt werden, allein die Hochzeitsdaten der Eltern, man wundert sich. An seinem Künstlertum ändert die Einbürgerung nichts. Außer dass die Hamburger Einbürgerungszeremonie mit dem Oberbürgermeister Olaf Scholz (inzwischen Finanzminister) im Prunksaal der Stadt schöne Kinobilder abgibt. So schlachtet er auch diesen Vorgang filmisch aus.

Nach der Einbürgerung ist er erleichtert, nie wieder mit der Ausländerbehörde zu tun haben zu müssen – bis seine Eltern sich zu Besuch anmelden, um das Enkelkind kennenzulernen …

Mit seinem Film schafft Dario Aguirre es, dieses oft mit heftigen Emotionen behandelte Thema Integration/Zuwanderung in seine Schranken zu weisen, weil Künstler universell sind – und sollte so nicht der Mensch auch sein? Kann Menschsein mit nationaler Reduktion ausgefüllt werden? Wohl eher nicht.

Die Wiese – Ein Paradies von Nebenan

Der Film zum Volksbegehren.

Diese Naturdokumentation von Jan Haft nimmt klar Partei für die Natur, ist sie doch eine Auftragsarbeit für die Deutsche Wildtier Stiftung.

Wobei Haft sich nicht parteigängerisch verengt gibt. Er zeigt lediglich die Wunder der Artenvielfalt, wie sie sich auf den Wiesen (die im Junig gemäht) werden, über Jahrhunderte entwickelt hat. Die Natur hat sich den Anbaumethoden der Menschen angepasst. Ja, sie braucht die Mahd. Aber sie kann nicht mit den rasanten Veränderungen der industriellen Landwirtschaft mithalten.

Haft geht nicht mal so weit, in Alarmismus zu verfallen und den Einstein zu zitieren, dass wenn die Bienen aussterben, der Mensch es vier Jahre später ebenfalls täte. Er zeigt zwar Bilder von Maisanbau für Biodiesel – hier gibt es keine Biene weit und breit.

Sein Film beobachtet die Natur in den Wiesen übers Jahr. Er hält sich mit anthropozentrischen Kommentaren angenehm zurück, setzt mehr auf Information und lässt die Emotion auf der Tonspur, die sich durchaus auch amüsiert zeigen kann, beispielsweise, wenn ein Käfer, der wie ein Kuckuck handelt, sein Ei in hohem Bogen in eine fremde Höhle schleudert.

Die Vielfalt und ihr Zusammenspiel ist atemberaubend und moderne Kameratechnik kann Dinge erfasssen, die wir von bloßem Auge nicht zu sehen imstande sind.

Der Film wirkt wie ein Plädoyer der Natur und ihrer Vielfalt für sich. Er wirkt angenehm unsentimental, obwohl zwei Rehkitze die Leitfiguren durch den Film sind.

Aber es gibt ja auch noch die Kohlmeise, den Fuchs, die Schafstelze, die Feldlerche, die Wiesensalbei, den Mäusebussard, den Schreiadler, den Kiebitz, den Storch, den Wiesenbocksbart, den Aurorafalter, das Braunkehlchen, den großen Brachvogel, Roesels Beißschnecke, das Taubenschwänzchen, den Wiesendrachenwurz, jede Menge von Wanzen, die Wiesenschaumzikade, die Krabeenspinne, die schwarze Rossameise, die Harzbiene, den Rotmilan, den Neuntöter, den Rothirsch, die Saftline, viel mehr als sich Tacitus, der nie hier war, mit seiner drögen Beschreibung Germaniens je hat vorstellen können.

Ein Vorschlag des Filmes: Artenvielfalt als Produktionsziel.

Birds of Passage – Das grüne Gold der Wau – Pajaros de Verano

Das Gift des leichten Geschäftes.

Es ist ja nicht so, dass indigene Stämme in den Anden keine Konflikte und keine Ehre gekannt hätten. Deshalb haben sie auch einen tradierten Ehrenkodex. Sie haben Wortboten, wir würden sagen: Unterhändler. Wenn beispielsweise ein junger Mann eine Frau einer anderen Familie heiraten will oder wenn ein junger Mann sich einer jungen Frau ungehörig nähert.

Mit dem Boten wird der Brautpreis oder die Strafe für eine ungehörige Tat ausgehandelt. Die kann in einer Strafarbeit bestehen, hier im Film soll der missratene Leonidas (Greider Meza) bei der Familie von Anibal (Juan Bautista Martínez) zwei Wochen auf den Feldern ackern.

Dass gerade die Ehre im Hinblick auf junge Frauen einen hohen Stellenwert hat, zeigt die einführende Szene. Wie ein Mädchen ein Jahr lang Textilien herstellt, zurückgezogen lebt und von einer älteren Frau unterstützt und vorbereitet wird. Das hebt die Kostbarkeit einer jungen Frau hervor und dass sorgfältig damit umgegangen werden soll, auch dass so eine Frau ihren Preis hat.

Rapayet (José Acosta) möchte diese Frau heiraten. Da er nicht aus einer angemessenen Familie stammt, wird der Preis hoch angesetzt. Auf üblich kulturellem Wege kann er das nie verdienen. Da kommt es ihm zupaß, der Film fängt 1968 an und spielt in Kolumbien, dass ein amerikanisches Friedenscorps sich auf dem Gebiet der Wayuu befindet. Diese friedfertigen jungen Leute, hippimäßig, sind auf den Geschmack von Marihuana gekommen, das in der Gegend gute Anbaubedingungen vorfindet.

Zusammen mit seinem Freund Monocho oder Moises (Jhon Narváez) entdeckt Rapayet diese Geschäftsmöglichkeit, die deutlich einträglicher ist als der herkömmliche Kaffeehandel. So kommt das große Geld zu den Wayuu.

Was es mit diesen Menschen, Familien anrichtet, das besingt Ciro Guerra in Koregie mit Cristina Gallego nach dem Drehbuch von Maria Camil Arias und Jacques Toulemonde Vidal in 5 Liedern in meisterhafter Erzählökonomie und als großes Erzählkino vor der teils kargen Kulisse Kolumbiens von Wüste, aber auch von Dschungel.

Ciro Guerra hat bereits mit Der Schamane und die Schlange einen Aufsehen erregenden Amazonas-Film ins Kino gebracht. Der Naturglauben dieser Menschen wird auf die Probe gestellt. Nebst Rapayet ist vor allem seine Schwiegermutter Ursula (Carmina Martínez) mit ihrem ausgeprägten Geschäftssinn und einer Mütterlichkeit aus Eisen eine faszinierende Figur. Die deutsche Synchro ist diskret und sorgfältig gemacht.

Bildbuch – Le livre d’image

Mondo Godardiano.

„Je me crois le plus heureux des mortels“.

Seinem Film stellt Altmeister Jean-Luc Godard den Satz voran, dass die Herren der Welt Becassine fürchten sollen, denn sie sei verschwiegen. Dem setzt er entgegen, dass es die „condition“ der Menschen sei, mit den Händen zu denken. Dazu die Androhung der Arbeit der Hände mit dem Zelluloid.

Daraus wird vorerst ein luxuriöses Vergnügen, ähnlich wie die Philosophie. Bilder- und Kinophilosophie mit Themeneinwürfen wie „Hände und Bilder“, „Bilder und Moral“… Bilder und Zeichen, Worte und Lügen, Bilder- und Bildfetzen in chromatischen Verfremdungen und andere Bearbeitungen von Schnipseln aus der Filmgeschichte, Remakes, Wiederherstellungen …

Essayistische Montage von Worten; Waffen und Gewalt, Liebe und Lüge … Krieg, Terror und Kunst; Kommunismus, Kapitalismus, die Kultur und die Folgen. Der Staat und seine Gewalt.

Ein Tour d’horizon von Godard durch seine Erinnerungen, verfremdet, das Drübergehen über die Bilder, das Remake? Verändernde Arbeit der Erinnerung?

Der Altmeistergeist denkt nur noch in Schnipseln und richtet sie sich zurecht. Oder von der Handlichkeit des Textes. Macht er sich seine Bildtexte handlich? Im Sinne seiner Wahrheit? Oder sogar: à la recherche der verlorenen cinematographischen Erinnerung? Abenteuer und Verzweiflung der Kinoerinnerungen? Ruinen der Erinnerung? Die Erinnerung noch festhalten wollen, bevor sie verschwindet? Alle. Wie viele sind alle? Wie viele Bilder sind durch Godards Kopf gegangen? Wie viele sind noch da?

A steady Stream of Cinémaness.

Auf der Suche nach den verlorenen Paradiesen. Der Orient, Felix Arabia. Hier hakt er sich fest. Es treibt ihn um. Dieses einstige Paradies, wie es durch den westlichen Ölhunger zerstört wurde. Wie die Religion anfing, zerstörerisch zu werden.

Mit diesem Bilder- und damit Bewusstseinsreichtum weist Godard die Dürftigkeit des Zeitgeistkinos in seine engen Schranken.

Wer wirft den ersten Stein?
Schlafen, Träumen oder vielleicht auch Bilder (schauen, bearbeiten, sortieren?).

Liberté, fraternité, cinématé

Wer wird die Welt retten?

etcetera etcetera

Ben Kadem aus Dofa. Allusionist.

Ist das jetzt beliebig oder verbindlich?
Auf jeden Fall: anregend!

Another Day of Life

Was wissen wir über Afrika?

Insgesamt wenig, zu wenig, so lange der Nachschub mit Öl und Bodenschätzen klappt, interessiert uns Afrika generell nicht sonderlich; allenfalls im tourstischen Sinne, soweit es um Strände und Safaris geht.

Eine erkleckliche Wissenlücke schließen nun Raúl de la Fuente und Damian Nenow mit ihrer Verfilmung des Buches „Another Day of Life“ des polnischen Journalisten Ryszard Kapuscinski.

Kapuscinski war vielleicht der wichtigste Berichterstatter im unvorbereiteten, chaotischen Übergang von Angola aus der Kolonialherrschaft Portugals in die Freiheit. Die Machtblöcke Ost und West (für diesen auch Südafrika) waren gierig, sich den Einfluss über das frei werdende Territorium zu sichern. Der Journalist hat die Invasion Südafrikas mit Panzern und allem Drum und Dran im südlichsten Zipfel Angolas mit eigenen Augen gesehen. Und das bekannt gemacht. Er wollte da sein, wo es brennt, auch unter Lebensgefahr.

Kapuscinski hat auf dem Weg dorthin, von dem alle ihn abhalten wollen, Blutiges gesehen, Spuren grauenhafter Massacker. Aber er hat berichtet von vor Ort.

Die Filmemacher haben sich für eine spezielle Methode der Bebilderung dieser extremen Geschichte entschieden: für eine Mischform aus Spielfilm, Animation und Dokumentation.

Einige Helden von damals, die Richard geholfen haben, überhaupt dorthin zu kommen oder die ihn unterstützt haben, kommen im Abstand von Jahrzehnten dokumentarisch zu Wort. Sie ergänzen mit ihren Erinnerungen die Spielhandlung, die nach dem Buch inszeniert ist.

Die Spielhandlungen dagegen wurden mit realen Schauspielern gedreht, jedoch im Nachhinein zu Animationen verfremdet, die die Charaktere der Figuren deutlicher, comichafter hervortreten lassen (Motion Capture).

Ferner ist auch original dokumentarisches Material in die Spielhandlung, die den Weg des Journalisten nachzeichnet, eingeflossen. So entsteht eine einmalige Geschichte, die gerade durch die formalen als auch erzählerischen Eingriffe ein prägnantes Bild des Journalisten Ryszyard Kapuscinski als auch der blutigen Vorgänge in Angola im Übergang vom Kolonialstaat zur Unabhängigkeit bietet.

In seiner graphischen Machart erinnert er an den Film Camp 14: Total Control Zone, der ein äußerst übles Kapitel Nordkoreas mit entsprechenden Distanzierungsmitteln behandelt.